Kapitel 43 - Die Wahrheit wurde von einem Lügner erschaffen

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Kapitel 43

Die Wahrheit wurde von einem Lügner erschaffen


~Mile~

»Ich muss dir ein paar meiner Freunde vorstellen«, meinte Sabrina fröhlich und zog ihren grossen Bruder hinter sich her.
»Jetzt?«, fragte Mile lachend. »Pass auf, wir gehen jetzt alle zusammen ins Rathaus, wo der Rat der Monarchen sein Hauptquartier hat. Zwar haben wir nicht übermässig Platz, aber es sollte funktionieren. Dort können wir deine Freunde und dich auch unterbringen...«
Sabrina runzelte die Stirn.
»Klingt ganz okay. Ich will dir aber trotzdem einige meiner Begleiter vorstellen. Aber alle von meinen Leuten müssen wir nicht in das Rathaus quetschen. Die meisten der Seeleute werden wahrscheinlich sowieso auf Jolly Roger bleiben wollen...«
»Jolly Roger?«
»Das ist Hooks Schiff...«
»Hook?«
Mile fühlte sich, als hätte er die ersten Minuten eines Films verpasst und musste nun angestrengt versuchen, die Handlung zu verstehen.
»Na, du weisst schon... Captain Hook aus Peter Pan«, meinte Sabrina und zuckte die Schultern. Von einer plötzlichen Nervosität befallen fuhr sie sich durch das Haar, räusperte sich und lief dann weiter zu ihren Leuten zurück.
Mile glaubte, nicht richtig gehört zu haben und stammelte: »Captain Hook? Ich dachte, der ist einer von den fiesen Typen!«
Er eilte hinter seiner Schwester her, bis er wieder neben ihr gehen konnte.
»Er... er ist keiner von den Finsterlingen. Er hat die Seiten gewechselt und ist jetzt einer von den Guten.«
Sie sah ihn nicht an, während sie sprach, doch ein Lächeln umspielte ihre Lippen.
»Aha...«, meinte Mile, der sich keinen Reim auf Sabrinas Verhalten machen konnte.
Nun hatten sie den Haufen von den eigenartigsten Gestalten, die Sabrina als ihre Freunde bezeichnet hatte, erreicht.
Sieben von ihnen traten vor. Einer hielt das kleine Mädchen in den Armen, das ihm schon zuvor aufgefallen war. Auch der vollkommen weisse Junge war unter ihnen. Es waren Menschen, sieben Jungs und eben dieses kleine Mädchen. Die Jungs waren im Alter von Teenagern bis zu jungen Männern. Der wohl Älteste von ihnen trat vor und verbeugte sich vor ihm.
»Mile, darf ich vorstellen: Das ist unsere leibliche Familie. Blut von unserem Blute.«
Mile klappte der Kinnladen herunter. Sie hatten tatsächlich Familie. Es war also tatsächlich wahr...
Die Monarchen hatten zwar schon einmal angedeutet, dass Sabrina und er noch lebende Verwandte hatten, doch jetzt, wo er sie sah, sie, seine Familie, war es doch ein Schock...
Sechs der Jungen sahen beinahe vollkommen gleich aus. Nur das Alter und kleine Details unterschieden sie.
Alle waren sie Latinos. Sie hatten Karamellfarbene Haut, schwarze Haare und dunkle Augen. Sie waren alle einschüchternd muskulös und ihre Gesichter waren sehr markant.
Sabrina begann die Namen der Jungen herunter zu rattern: »Diese Latinos sind unsere Cousins. Nimmertiger ist der Älteste. Schwalbentänzer hat dieses Schwalbentattoo am Arm. Lichterfänger erkennst du an dem Dauergrinsen und seinem Humor. Der ist zwar manchmal etwas verstörend aber erfrischend. Dann haben wir da noch Aschenauge, denn eines seiner Augen ist grau. Und der mit dem Federohrring ist Federreiter. Und dann ist da noch Regenjäger... Und wieso er so heisst, da hab ich keine Ahnung...«
Die Jungen lachten und Regenjäger erklärte: »Nun, ich liebe es, im Regen zu... Ääähm... Reisen...«
Sabrina grinste und meinte: »Er meint fliegen, aber das erklären wir dir später. Und der Albino da heisst Nebelfinger. Er ist der Hellste von den Sieben und auch der Höflichste. Aber du darfst den Anderen ihr Macho-Gehabe nicht übel nehmen, denn eigentlich sind sie schon ganz in Ordnung.«
Mile fand Nebelfinger faszinierend. Der weisse Junge war ohne Zweifel der Bruder der Sechs. Er hatte die gleichen Gesichtszüge und auch die gleiche Figur. Nur, dass er eben vollkommen weiss und seine Iris rot war. Er erschien verletzlicher zu sein, als seine Brüder, denn unter seiner bleichen Haut schimmerten Adern. Ausserdem war seine Ausstrahlung anders. Der Weisse hatte etwas sehr Sanftes und Ausgeglichenes und schien mit einer ausserordentlichen Weisheit gesegnet zu sein, obwohl er der jüngste der Jungen zu sein schien.
Nebelfinger grinste in sich hinein und liess das Mädchen, dass angefangen hatte, unruhig in seinen Armen zu zappeln, hinunter.
Sabrina sah das Mädchen mit einer Mischung aus Liebe, Stolz, Verwirrung und Furcht an. Doch wieso diese Verwirrung? Wieso Furcht?
Sabrina sog Luft ein, als würde sie seufzten, sagte dann, fast flüsternd: »Und das, Mile, das ist Mondkind. Unsere Cousine.«
Mondkind kam auf Mile zugelaufen und das mit so einer Eleganz und Anmutigkeit, wie er es einem so kleinem Kind niemals zugetraut hätte.
Er liess sich auf die Knie hinab, um mit Mondkind in etwa auf der gleichen Höhe zu sein.
Das Mädchen stand nun vor ihm und lächelte. Beinahe verschlug es ihm die Sprache, als er die Augen des Kinds sah.
Violett. Leuchtend violett, wie Amethyst.
Sie legte den Kopf schief, streckte die Hand aus und legte sie auf seine. Wie riesig seine Pranke doch war im Gegensatz zu Mondkinds. »Lichterlord, du darfst nicht vergessen, dass die Wahrheit von einem Lügner erschaffen wurde«, sagte die Kleine mit einer sehr melodiösen Stimme.
Mile runzelte die Stirn.
»Sie spricht immer in Rätseln. Niemand weiss genau, was sie damit meint und so...«, erklärte Aschenauge mit einer ebenso melodischen Stimme wie Mondkind.
Das Mädchen kicherte, drehte sich um und lief zu seinem weissen Bruder zurück, der Mondkind wieder in seine Arme nahm und hochhob.
»Den Hutmacher kennst du ja«, fuhr Sabrina fort. »Aber der Typ, der gerade über dir schwebt, ist Peter Pan. Peter, Mile. Mile, Peter.«
Mile legte den Kopf in den Nacken und sah zu Peter Pan auf, der ihm lächelnd zuwinkte.
»Zu Peter gehören natürlich noch Wendy, ihre Brüder und die verlorenen Jungs. Die heissen Tatze, Fetzen, Socke...«
Am Ende, nachdem seine Schwester ihm all ihre Freunde präsentiert hatte, war Mile so verwirrt, dass er schon Mühe hatte, sich an seinen eigenen Namen zu erinnern. Nun, da sein Gehirn sich sowieso anfühlte, wie durch den Reisswolf gedreht, wollte ihm seine Schwester noch eine weitere Person vorstellen.
»Und das ist: Captain Falk James Jones Hook.«
Der Captain verbeugte sich vor ihm, grinste jedoch alles andere als ehrfürchtig. Das Lächeln, das die Lippen des Piraten umspielte, war frech, beinahe spöttisch. Hook machte seinem Namen alle Ehre mit dem Haken, der anstelle einer Hand seinen linken Arm zierte. Ein Dreitagebart, zahlreiche Ringe an beiden Ohren und ebenso viele Halsketten samt Anhänger, liessen ihn verrucht aussehen. Er trug eine Lederhose, ein Hemd, Stiefel, einen Gürtel und einen Mantel aus Leder und Samt, alles in Schwarz und verziert mit glitzernden Stickereien und Knöpfen. Den Mantel musste der Pirat ohne Zweifel einem anderen, reichen Seemann abgenommen haben. Er wirkte nicht unbedingt unsympathisch, doch die Tatsache, wer der Pirat war und dazu noch dieses spöttische Grinsen erweckten in ihm Misstrauen. Irgendwie hatte er sofort das Gefühl, dass dieser Kerl etwas im Schilde führte... Nur was?
Mittlerweile hatten die schaulustigen Rebellen sich um sie versammelt und bei dem Lärm, den sie mit ihren Jubelrufen veranstalteten, wurden Mile weitere Bekanntmachungen erspart.
Er beugte sich zu Sabrina hinunter und fragte, den Mund an ihr Ohr haltend: »Und nun, Schwesterherz? Ich schlage vor, ab zu Rathaus?«
Sie lächelte und nickte. So legte er seiner geliebten kleinen Schwester einen Arm um die Schulte, während sie ihren um seine Hüfte legte, den Kopf an seine Brust lehnte und sie so, eng aneinandergepresst, in Aramesia, Arams Asche, hinein in die Stadt des stillen Gottes einzogen...

Uralte Fassung (1): Twos - Die Prophezeiung von Feuer und EisWhere stories live. Discover now