Kapitel 37 - Blau wie der Mohn, grün wie die Hoffnung und rot wie Blut

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Kapitel 37

Blau wie Mohn, grün wie Hoffnung und rot wie Blut


~Mile~

Mile zog das Buch „Die Herrscher der Gezeiten" unter seinem Kopfkissen hervor. Er blätterte darin herum, bis er etwas fand, das interessant klang.
Wie die Märchenwelt entstand", war der Titel des Kapitels. Mile begann zu lesen:

Wie bereits bekannt ist, gab es im Laufe der Zeit bereits viele Generationen an Herrschern.
Wie viele es nun schon sind, ist jedoch unbekannt.
Es gibt die Theorie, dass die Urherrscher aus der Welt der sterblichen stammten. Sie waren Menschen. Zwei Männer und zwei Frauen.
Vermutlich sind diese Menschen auch der Schlüssel zur Evolution, der Schlüssel für die Lösung des grössten Rätsels der Menschheit.
Wer sind wir?
Der erste Mensch, oder deren erste Unterart, muss vor drei Millionen Jahren sterblicher Zeit entstanden sein. Wie lange es brauchte, bis diese Wesen in der Lage waren, ihre eigene Vorstellungskraft zu nutzen, kann man nur raten.
Doch wie vier Menschen vor all diesen Millionen Jahren zu Herrschern wurden, diese Antwort haben wir, näheres wird später noch genauestens erläutert.
Fest steht jedoch, dass die Urherrscher auch die Erschaffer der Märchenwelt sind. Die Urherrscher waren die Entdecker der Fantasie.
Begeistert und fasziniert von ihrer Entdeckung, verloren sie sich in ihrer eigenen Vorstellungskraft. Sie formten sich eine Welt allein mit der Kraft ihres Geistes.
Daraufhin begannen sie ihren Artgenossen von der Fantasie zu erzählen. Sie erzählten unglaubliche Geschichten. Spannende, traurige, lustige, ernste, dumme, tiefgründige, gruslige, romantische und dramatische Geschichten.
Diese Geschichten waren so gewaltig, so grossartig, dass die anderen Menschen selbst begannen, zu erfinden.
Irgendwann beschlossen die Urherrscher die sterbliche Welt zu verlassen, um nur noch in ihrer Fantasiewelt zu leben.
Ein ähnliches Phänomen kennen wir aus der Biographie der jungen Alice Kingsleigh, die sich des Öfteren in ihrer eigenen Fantasie verirrte und somit 1865 die Insel Wunderland erschuf. Auch sie ist Teil der Märchenwelt geworden, hat jedoch nicht die gleiche starke Verbindung mit dieser, wie die Herrscher.
Tatsächlich gelang es den Urherrschern sich vollständig mit der Märchenwelt zu verbinden und nun auch körperlich in ihr wandeln zu können.
So wurden sie zu den ersten Bewohnern Twos'.
Die vier Urherrscher waren begeistert von ihrer Erschaffung und bauten sie weiter aus.
Zusammen konnten sie mit ihrer Macht der Fantasie die sterbliche Welt von Twos' trennen.
Jeder trug einen kleinen Teil zur Welt bei.
Eine erschuf Virid'agru aus Blumen, Pilzen, Wiesen und Bäumen, grösser, älter und prächtiger als jemals zuvor. Ein anderer liess die Sonne auf die Erde brennen und erschuf die goldene Wüste Aurea. Der dritte liess mächtige Berge aus dem Boden wachsen und schuf so das Ondorgebirge. Die letzte der Vier liess das Wasser über das Land fliessen und erschuf die Meere.
So hatten sie sich ihr eigenes Paradies geschaffen.
Bald kam Leben in die Märchenwelt, denn immer mehr und mehr Menschen in der sterblichen Welt erfuhren von dem Wunder Fantasie. Auch sie erfanden Geschichten, Märchen, Legenden, Fabeln, Sagen, Kurzgeschichten, Gedichte und Balladen. Je mehr sie erzählten, je mehr sie erfanden, je mehr sie ihre Vorstellungskraft nutzten, wurden ihre Geschichten in der anderen Welt wahr.
Als die Urherrscher erkannten, dass sie nun nicht mehr die einzigen Wesen in dieser Welt waren, begannen sie Städte für die Wesen zu Bauen. Sie gaben den Kreaturen Namen und schenkten ihnen Sprachen.
Und nach vielen Jahren waren die Wesen zu ganzen Völkern herangewachsen.
Diese Wesen waren nun keine Wesen mehr, die durch eine erfundene Geschichte entstanden waren. Nun entwickelten sie sich unabhängig, wurden mehr und mehr.
Und wie immer wiederholt sich Geschichte, egal aus welcher Welt, die Vergangenheit ist uns näher als gedacht...
Die Völker begannen, sich zu bekriegen.
So viel Leid. So viel Krieg.
Die Urherrscher trauerten um ihr Paradies, welches sich immer mehr und mehr in ein Schlachtfeld verwandelte.
So griffen sie in das Geschehen ein. Sie beendeten das Kämpfen und forderten den Frieden, doch die Wesen wollten nicht hören.
»Nein«, riefen die Wesen. »Wir können nicht aufhören. Diese Welt hat niemanden, der über Recht und Unrecht entscheidet. Diese Welt kennt keinen Tod und kein Ende. Wir brauchen Gesetze, wir brauchen Regeln. Diese Welt ist ein Chaos aus Fantasie. Ein Netz aus Fäden, die die Köpfe wirrer Wesen spinnen. In dieser Welt geschehen Dinge, die wir nicht beeinflussen können. Wir brauchen in dieser Welt eine Macht, die uns wieder Kontrolle bringt. Herrscht das Chaos, ist kein Frieden möglich!«
»Aber«, riefen die Herrscher, »wer soll hier regieren? Wer besitzt die Macht, die Kontrolle, Regeln und das Recht zu bringen?«
Da antworteten die Wesen: »Ihr fragt? Ihr seid! Ihr habt die Macht zu erschaffen. Ihr seid ein Teil dieser Welt, also seid ihr unsere Herrscher!«
Und so war es abgemacht.
Man erbaute in der Mitte des Landes einen Palast, den Zeitpalast. Dort war das Zentrum der Macht, der Ort, wo die Herrscher lebten. Rund herum begannen sich Wesen unterschiedlichster Arten anzusiedeln. Es wuchs eine gigantische Stadt um den Palast, die darauf Tempus genannt wurde.
Die Urherrscher teilten die Macht untereinander auf.
Man stellte Regeln auf.
Regeln für die Wesen. Regeln für die Welt.
Regeln für den Tod. Regeln für das Leben.
Regeln für die Sonne. Regeln für die Monde.
Es waren Regeln für das Gleichgewicht der Welt.
Zuvor hatten alle vier Herrscher die gleichen Fähigkeiten gehabt. Nun teilte man diese auf.
Die Frau, die den Wald erschaffen hatte, wurde zur Herrscherin über das Leben, die Unendlichkeit, die Gesundheit, die Natur, die Gefühle, die Wünsche, die Energie, die Wahrheit, das Gute und den Frühling.
Der Mann, der die Wüste erschaffen hatte, wurde zum Herrscher über die Hitze, die Sonne, das Feuer, die Kraft, die Sinne, die Wahrnehmung und den Sommer.
Der Mann, der die Berge erschaffen hatte, wurde zu Herrscher über den Tod, das Ende aller Dinge, die Vergänglichkeit, die Dunkelheit, die Geister, das Verderben, das Böse und den Herbst.
Die Frau, die das Meer erschaffen hatte, wurde zur Herrscherin über die Kälte, die Monde, Eis und Schnee, die Träume, die Zeit, die Gedanken und den Winter.
Man nannte sie die Herrscher der Gezeiten. Die Glaskaiserin, der Lichterlord, der Kupferkönig und die Eisprinzessin.
Das einzige, für das die Herrscher keine Regeln aufstellen konnten, war für die Seelen der Wesen.
Da sie aus der Vorstellungskraft anderer Geschaffen waren, konnten sie nichts für ihre Seele. Sie konnten nichts dafür, dass sie gut oder böse waren.
Das Gute durfte das Böse nicht für seine Art bestrafen, denn auch das Böse hatte ein Recht auf Existenz. Aber auch das Böse durfte dem Guten nichts Schlechtes tun. Die Wesen mussten lernen, trotz ihrer Verschiedenheit miteinander zu leben. Ein Wesen, welches aus Fantasie bestand, konnte nicht getötet werden. Nur der Herrscher über den Tod konnte Leben auslöschen.
Die Herrscher hatten sich schnell an ihre neue Rolle gewöhnt.
Um sich ihre Arbeit ein wenig leichter zu machen, stellten sie die Götter, die in der Welt wandelten, in ihre Dienste. Diese existieren in so grosser Zahl, dass man sie nicht aufzuzählen vermag.
Ihre Fähigkeiten beeinflussten den Charakter der Herrscher stark und ihre Verschiedenheit machte es ihnen nicht leicht.
Der Herrscher über den Tod begann sich an der Herrscherin des Lebens zu nähren, denn er hatte gelernt, dass er das Leben anderer in sich aufnehmen konnte.
Der Herrscher der Hitze und die Herrscherin über die Kälte begannen sich immer öfters zu streiten.
Und wenn der Frühling kam, wollte der Winter noch nicht enden.
Der Sommer stahl dem Frühling seine Zeit.
Der Herbst kam mit aller Macht und genoss das Töten.
Der Winter war entsetzt, denn er musste seinen Schnee über Leichen betten.
So verstritten sich die Herrscher immer mehr.
Und dann verloren sie die Kontrolle.
Dem Kupferkönig war seine Macht zu Kopf gestiegen und er tötete, was er sah.
Die restlichen Herrscher erkannten die Katastrophe und handelten.
Sie nahmen dem Kupferkönig beinahe seine ganze Macht und verbannten ihn zurück in die sterbliche Welt. Die Glaskaiserin kam mit ihm, um über ihn zu wachen.
So blieben Lichterlord und Eisprinzessin alleine zurück.
Trotz allem schafften sie es niemals ihren Streit von Feuer und Eis zu vergessen.
Es war seit jeher ein Kampf.
Sommer gegen Winter.
Eis gegen Feuer.

Uralte Fassung (1): Twos - Die Prophezeiung von Feuer und EisWhere stories live. Discover now