Kapitel 54 - Von Geschwisterbanden und letzten Zeilen

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Kapitel 54

Von Geschwisterbanden und letzten Zeilen


~Mile~

Es war nicht, als würde er von einer Realität in die andere gerissen werden. Es war nicht so, als würde er in Jeremy Toppers Zimmer einschlafen und plötzlich im Geiste Mondkinds wieder aufwachen. Nein, es war viel eher... eine fliessende Entwicklung. Es fühlte sich an, als wäre er ein Blatt im Wind. Er konnte spüren, wie er hochgehoben, herumgeweht und fortgeschleudert wurde. Traum und Wirklichkeit verschwammen zu einem Wirbel aus Farben und Geräuschen, die an ihm vorbeisausten. Meist war alles nur dunkel, aber immer wieder erleuchteten bunte Lichter, schnell und hell wie Blitze besagte Schwärze. Wie aus weiter Ferne drangen Stimmen, Musik und allerlei andere Laute zu ihnen durch, als würde jemand irgendwo dauernd den Radiosender wechseln. Sabrinas Hand in seiner hielt er ganz fest, fühlte die Kälte ihrer Haut. Manchmal glaubte er, er hätte sie doch losgelassen, was aber nie der Fall war, sondern nur ein Symptom der chronischen Taubheit war, die immer wieder in Wellen kam und ging.
Der ganze Vorgang liess sich nicht mit irgendeiner Einheit messen. Zeit, Masse, Grösse, Stärke... Alles war nicht fassbar und wenn eines der Wunder verflogen war, auch gar nicht mehr vorstellbar. Wie ein Traum, an den man sich nicht mehr erinnern konnte.
Aber das war auch nicht weiter schlimm, denn als besagte Wunderreise zu Ende war, wartete schon die nächste Unglaublichkeit...

Mile blinzelte. Er blinzelte und sah einen Balken. Aus Holz, weiss gestrichen, leicht verstaubt und mit alten, grauen Spinnenweben behangen. Mile drehte den Kopf zur Seite und sah noch mehr weisse Balken. Balken und Latten. Er war noch zu benommen, um zu verstehen, was er da sah und so beschloss er, sich erst einmal wieder hinzulegen, die Augen zuzumachen und abzuwarten, bis er im Kopf klar genug war.
Da lag er dann erst einmal eine ganze Weile. Langsam begann er sich auf seine Sinne zu konzentrieren. Auf jeden einzeln. Er wackelte mit den Zehen, schüttelte den Kopf, spannte jeden Muskel an. Unter ihm war der Boden hart und rau. Bestimmt war er auch aus Holz. Um ihn herum roch es auch ein wenig harzig. Dazu kam der Duft von frischem Gras und süssen Wildblumen. Ein leichter Windstoss traf ihn von der Seite und trug einige Laute zu ihm herüber. Eine leise Melodie, von einem unbekannten Vogel gesungen, zartes Klimpern wie von vielen tausenden Windspielen, das rauschen von Blättern im Wind, das Rauschen eines Baches, das Zirpen von Grillen und, und, und...
»Ist es das?«, fragte eine bekannte Stimme neben ihm.
»Sabrina?«
Mile schlug die Augen auf und sah nach links, in das bleiche Gesicht seiner Schwester. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er ihre Hand noch immer fest umklammert hielt. Vorsichtig liess er sie los.
»Nö, der Weihnachtsmann«, brummte sie und verdrehte die Augen. »Oder erwartest du sonst noch jemanden ausser mich?«
Mile grinste und setzte sich langsam auf. Seine Gliedmassen fühlten sich noch immer etwas steif an, so als hätte er sie schon lange nicht mehr benutzt. Sabrina tat es ihm gleich und rappelte sich ebenfalls auf. Sie drehte sich um die eigene Achse und musterte fasziniert ihre Umgebung. Völlig überwältigt fragte sie erneut: »Ist es das? Ist es das? Mondkinds... Geist?«
Mile brachte keinen Ton heraus. Mehr als ein Nicken bekam seine Schwester nicht als Antwort. Er war einfach zu verblüfft, überwältigt und perplex um zu sprechen, denn Mondkinds Geist war unglaublich.
Was Mile zuvor nur als einen Haufen weisser Balken und Latten wahrgenommen hatte, war in Wirklichkeit ein Pavillon, wie er ihn sonst nur aus zum Kotzen kitschigen Liebesfilmen oder Barbie-Animationen kannte. Sie standen in der Mitte der Plattform des weissen Kitschobjekts. Ein Lattenzaun verhinderte, dass man von besagter Plattform stürzen konnte, selbst wenn diese nur um circa einen halben Meter erhöht war. Vier dicke Pfosten, an denen sich der Efeu hochrankte, stemmten das geschwungene Zwiebeldach drei Meter in die Höhe. Abgesehen vom Efeu eroberten sich auch andere Pflanzen ihr Revier zurück. Goldene Trompetenblumen, Hyazinthen, Stiefmütterchen und Tulpen in jeder erdenklichen Farbe, Krokusse, Schneeglöckchen, Orchideen und natürlich Mohn wucherten um den Pavillon. Ja, es schien fast, als würden die Blumen versuchen, das hölzerne Bauwerk in ihrer Farbenpracht zu ertränken. Eine Blumenwiese wie ein Meer und der Pavillon das rettende Floss. Bis zum Horizont, an dem gerade eine purpurrote Sonne unterging, erstreckte sich der Blumenozean, wogte hin und her, vom Wind gelenkt. Der Himmel selbst war hellrosa bis dunkelviolett verfärbt. Nur hier und da trieb eine neongelbe Wolke vorbei.
»Sieht das bei uns im Oberstübchen etwa auch so aus? Oder glaubst du, dass in dem Tee des Hutmachers LSD drin war?«, murmelte Sabrina und trat an den Zaun heran. Sie stemmte sich mit den Ellbogen darauf und sah in die Ferne. Der Wind spielte in den Haarsträhnen, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatten.
»Frag mich was anderes, Schwesterherz. Vielleicht sollten wir einfach abwarten, was passiert. Ich bin sicher, hier wird sich alles erklären«, antwortete Mile gewohnt optimistisch und setzte sich im Schneidersitz auf den Holzboden und betrachtete den Sonnenuntergang.
»Ach was. Du hast doch gehört, wie gefährlich solche Geistes-Gedanken-Erinnerungsreisen sind. Man verliert sich zu leicht in ihnen. Und genau das wird passieren wenn wir hierbleiben und vor uns hingammeln«, protestierte Sabrina. Stur wie immer schwang sie sich in ihrem braunen Schürzenkleid über den Lattenzaun und landete behände in der Blumenflut.
Mile stürzte zum Zaun, doch er war zu spät. Sabrina rappelte sich schon wieder hoch, klopfte sich den Dreck ab, sah zu ihm auf, stemmte die Hände in die Hüften und grinste ihn frech an.
Mile seufzte ergeben und stieg ebenfalls über den Zaun. Etwas verärgert brummte er: »Aber was ist, wenn wir uns verirren? Dann sind wir genauso verloren!«
Er landete neben seiner Schwester in einem Rosenbusch. Er fluchte, als sich die spitzen Dornen der Ranken in sein Fleisch bohrten.
»Es ist egal, was wir machen. Entweder wir bleiben hier, oder wir sehen uns etwas um, beide Optionen können uns umbringen! Wenn wir also schon draufgehen, dann sollten wir uns hier wenigstens vorher etwas umsehen, findest du nicht?«, erklärte Sabrina keck, während sie ihm half, sich aus dem Busch zu befreien. Doch irgendwie wollte es ihnen nicht gelingen, da die Dornen sich immer wieder in Miles Kleidern verfingen und er festhing. Schliesslich gaben sie die sanfte Tour auf und das Blumenmassaker begann. Dank Miles Schwert Kayat, das er stets bei sich trug, war er die lästigen Rosenranken schnell los.
»Und wohin willst du jetzt? Norden, Osten, Süden, Westen. Wo man auch hinsieht, man findet nichts als Blumen! Was denkst du, werden wir finden?«, maulte Mile und liess sein Schwert zurück in seine Scheide gleiten.
»Wieso so skeptisch, grosser Bruder? Was kann uns schon passieren? Ich meine, schliesslich bist du, Mile Beltran, der Junge, der die Stadt Aramesia eingenommen hat und ich, Sabrina Beltran, das Mädchen, das in den Zeitpalast, das absolute Höllenloch dieser Welt und Hauptquartier der Dunklen eingebrochen ist.«
»Ich bin nicht skeptisch, ich habe einfach nur keinen Plan, wohin wir jetzt gehen sollen. Tut mir leid, das ist die erste mentale Psychoreise, die ich mache.«
Sabrina zog die Nase kraus, kniff die Augen zusammen und drehte sich einmal um die eigene Achse. Schliesslich hielt sie an und deutete in eine Richtung. Entschlossen verkündete sie: »Da lang!«
»Du überlässt das dem Zufall?«, brummte Mile düster. Er folgte seiner Schwester, die sich tapfer durch das Blumenmeer zu kämpfen begann.
»Zufall? Schicksal? Was spielt das für eine Rolle? Etwa einen Monat, nachdem ich Falk kennengelernt hatte, hat Jeremy Topper etwas gesagt. Es klang wie die Zeile aus einem Gedicht. Wer hätte gedacht, dass Herzen für die Diebe schlagen?«
»Das stammt aus der Prophezeiung von Feuer und Eis«, platzte es aus Mile heraus, der die Worte sofort erkannt hatte.
»Ich weiss. Jeremy Topper kannte die Prophezeiung wohl schon die ganze Zeit, noch bevor du dieses Buch gefunden hattest. Er nennt sich ja auch selbst einen Wächter der Prophezeiungen. Aber was ich eigentlich meine, ist, dass wir uns nicht gegen die Zukunft wehren können. Mondkind hat mir einmal erklärt, was diese Prophezeiungen und dieses Schicksal überhaupt soll. Sie sagte, eine Prophezeiung sei eigentlich mehr so etwas wie eine Bedienungsanleitung. Sie wird aufgeschrieben, damit sie real werden kann, doch absolut fest, steht nichts. Wenn wir also bestimmte Wege gehen, bestimmte Dinge tun, dann wird sich die Zukunft so entwickeln, wie die Prophezeiung es vorsieht. Doch da wir beide von dieser Prophezeiung so ziemlich nur Bahnhof verstehen, werden wir uns einfach mal auf die guten, alten Zufälle verlassen müssen. Oder es ist Schicksal, dass ich ausgerechnet diesen Weg eingeschlagen habe, wie auch immer. Klar ist, dass irgendetwas geschehen wird, was auch immer... So oder so.«
Mile grinste.
»Scheiss aufs Schicksal?«
Sabrina lachte und nickte.
»Ganz genau. Scheiss aufs Schicksal!«
Mile kämpfte sich etwas schneller durch die Blumen, bis er zu seiner Schwester aufschloss und nun neben ihr hergehen konnte. Sie ergriff seine Hand, so wie sie es als kleines Kind immer getan hatte. So wanderten sie eine Weile stumm durch Mondkinds Geisterwelt. Wie eingefroren stand die purpurne Sonne am Horizont. Ging sie auf oder unter? Man konnte es nicht sagen. Sie begannen auf die Sonne zuzulaufen, denn so würden sie wenigstens nicht vom Kurs abkommen.
Irgendwann fragte Sabrina: »Mile, wir machen uns die ganze Zeit immer nur Gedanken über den Krieg und die Vergangenheit. Im kleinen Rat sitzen wir zusammen und planen Schlachten und Strategien. In unserem Privatleben schlagen wir uns die Köpfe ein und streiten darüber, wen wir lieben, wen wir lieben sollten und wen nicht. Aber wir sprechen nie darüber, was kommen wird. Wieso?«
Mile war etwas überfordert und stammelte er verwirrt: »Was... was kommen wird? Wie meinst du das? Der Kampf gegen die Dunklen? Wie wir siegen werden... oder sollten... müssen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Siehst du? Krieg – schonwieder. Nein, ich meine, was danach geschehen wird. Wenn wir... tatsächlich die Dunklen besiegen sollten. Was wird dann geschehen? Wie wird es mit uns weitergehen?«
Mile sah seine Schwester an und lächelte frech. Sie sah ihn skeptisch an und brummte: »Was?«
Er schnellte vorwärts, packte sie an der Hüfte und riss sie hoch. Sie quiekte erschreckt und strampelte mit den Beinen, doch sie traf ihn nicht.
»Mile! Lass das!«, schrie sie, als er begann, sie umher zu wirbeln.
Er ignorierte ihr Gezeter und rief: »Was geschehen wird? Wie es mit uns weitergehen wird? Sabrina, wir sind die Herrscher der Gezeiten! Wir holen uns zurück, was unser ist. Wir werden in die Fussstapfen unserer Eltern treten. Aber wir werden alles besser machen. Wir werden eine – Wie nennt man das noch einmal? – Konstitutionelle Monarchie aufbauen. Mit einem Parlament und Wahlen und so. Natürlich hätten die Herrscher in besagtem Parlament auch noch viel zu sagen. Wir sind was wir sind. Wir haben diese Kräfte und die damit verbundene Verantwortung. Weisst du, was ich meine? So eine Staatsform wie... in England. Die Queen. Genau so machen wir es auch!«
Sabrina hatte aufgehört zu schreien und glotzte ihn nun aus grossen Augen an. Plötzlich begann sie zu lachen.
»Hey, ich hab das ernst gemeint«, quengelte er gespielt beleidigt und setzte seine Schwester wieder ab.
»Ich weiss! Das ist ja das lustige daran!«, kicherte sie und hielt sich den Bauch.
Nun war er verwirrt. Enttäuscht fragte er: »Heisst das... du denkst, die Idee ist doof?«
»Unsinn! Natürlich finde ich die Idee klasse, aber... du hast die Queen als Beispiel genommen? Mile, du Holzkopf! Das Vereinigte Königreich hat eine konstitutionell-parlamentarische Monarchie, ja. Aber eigentlich darf die Queen nur mit ihrer ganzen Königsfamilie rumstehen, hübsch aussehen und ab und an Reden halten oder so. Aber politisch hat die die gleichen Rechte wie alle anderen. Die Gute und ihre ganze Sippe hat eigentlich nur repräsentative Zwecke.«
Hoppla... Ja, da hatte seine Schwester recht...
»Okay, okay. Ist schon klar. Sabrina, ich hatte das letzte Jahr in Wirtschaft. Ausserdem musst du bedenken, dass wir seit fast einem halben Jahr nicht mehr in der Schule waren...«
»Faule Ausreden, Bruderherz. Du bist einfach ein Spinner«, meinte Sabrina und schmunzelte.
»Wie du meinst«, antwortete und zuckte mit den Schultern.
»Aber ich finde deine Idee gut. Gewaltenteilung, Wahlrecht, Menschen... oder besser Wesenrechte. Aber wie willst du das alles aufziehen? Das wird nicht einfach, Bruderherz.«
»Ich dachte, wir machen das auch mit Bundesstaaten, Kantonen oder Distrikten oder wie auch immer. Die einzelnen Landesteile können ihre eigenen Gesetze lenken. So kommen wir in keine Kulturellen Konflikte mit den Völkern. Die Elfen können ihr eigenartiges Kastensystem behalten, die Zwerge dürfen graben wo sie wollen... Nur die Gesetze, die für ganz Arkan gelten, müssen überall eingehalten werden.«
»Du meinst so was wie: Nicht töten, nicht stehlen, Gleichberechtigung, Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit, Wahlrecht...«
»Klaro. Die einzelnen Oberhäupter der Landesteile unterstehen uns. Ich dachte dabei an all die Königinnen, Könige, Grafen, Herzöge und so weiter, die ohnehin schon überall im Land verteilt sind. Königin Amiėle würde weiterhin Virid'agru regieren und König Orion über das Ondorgebirge herrschen. Drosselbart bekommt die Ländereien um sein Schloss, genauso wie all die anderen Märchen-Monarchen. Die Wälder rund um Virid'agru könnten wir Häuptling Azzarro übergeben und...«
»Mile, erst einmal müssen wir dienen Krieg gewinnen«, lachte Sabrina, um ihren Bruder zu stoppen, der völlig in seiner Idee von einer neuen, gerechteren und besseren Märchenwelt aufging.
Mile grinste Sabrina an und nickte. Sie hatte natürlich Recht. Fröhlich hob er den Kopf und blickte zu der purpurnen Sonne. Sie schien sich kein bisschen zu bewegen. In Mondkinds Geisterwelt herrschte die ewige Dämmerung. So liess Mile seinen Blick weiter über den Horizont streichen. Dieser Ort wirkte wie das Ende der Welt. Irgendwo würde eine Klippe warten, in die man für immer fallen würde, bis man stab. Das Ende der Welt... Doch halt! Was war das?
»Sabrina! Sieh mal!«, rief er und deutete nach links.
»Was denn?«, fragte Sabrina, die angestrengt in die Richtung starrte, in die sein ausgestreckter Zeigefinger wies.
»Am Horizont! Ist das ein Baum?«
Tatsache. Mile war sich ganz sicher. Ein Baum! Er stand auf einem kleineren Hügel. Ein etwa fünf Meter hoher Laubbaum. Nun, so was war natürlich nichts Ungewöhnliches. Doch was war in dieser Welt schon gewöhnlich? Seit die Reise durch Mondkinds Geist angefangen hatte, war ihnen kaum etwas anderes zu Gesicht gekommen als Blumen. Grosse, kleine, schöne, hässliche, bunte, triste, graziöse und buschige, aber kein einziger Baum.
»Ja. Ein Baum. Was jetzt? Soll ich wegen der ausgefallen artenvielfältigen Botanik in Mondkinds Oberstübchen jetzt ausflippen oder wie?«, brummte Sabrina uninteressiert.
»Vielleicht hat der Baum ja was zu bedeuten. Ich weiss ja nicht, wie es dir geht, aber ich hab erst einmal genug von Blumen. Jetzt sei nicht immer so ein Miesepeter. Los jetzt. Wir sehen uns den Baum mal an.«
Mit diesen Worten stapfte Mile los. Sabrina protestierte nicht, sondern beschränkte sich auf einige skeptische und missmutige Blicke, die sie abwechselnd ihrem Bruder und dem Baum zuwarf.
»Sie uns nicht so an, sonst geht einer von uns noch in Flammen auf«, neckte er sie und entlockte ihr ein Schmunzeln, das sein Herz warm werden liess. Er hatte sie vermisst, seine misstrauische, pessimistische, schwarzseherische, kratzbürstige Schwester. Aber sie hatte sich schon sehr verändert. Sie war weniger... düster. Sie lächelte mehr und freier als früher. Diese latente Trauer, in ihren Augen sah er immer seltener. Auch ihre ganze Körpersprache hatte sich verändert. Sie bewegte sich selbstbewusster, zielstrebiger und eleganter. Früher hatte sie ihn manchmal an ein junges Reh erinnert. Scheu und immer auf der Hut um bei dem kleinsten Anzeichen von Gefahr flüchten zu können. Nun wirkte sie eher wie ein Hirsch, der stolz, voll Kraft und Energie durch die Wälder schritt, seine Geweihkrone stolz erhoben, noch immer für eine schnelle Flucht, aber genauso für den nächsten Kampf bereit. Und irgendwie machte Mile das stolz. Seine Schwester war dabei, herauszufinden, wer sie eigentlich war...
»Was starrst du mich so blöde an?«, fauchte Sabrina, hob die Hände und tat so, als müsse sie sich vor einer Horde wildgewordener Paparazzi schützen.
»Ich... ähm... deine Haare sind gewachsen...«, stammelte Mile, der gar nicht gemerkt hatte, dass er seine Schwester so angestarrt hatte.
»Sagst ausgerechnet du, Prinz Eisenherz. Man müsste dir nur noch das Pony geradeschneiden, dann könntest du echt als die olle Helmfrisur durchgehen. Wann hast du dir das letzte Mal die Haare geschnitten? Wenn deine Haare noch länger werden, siehst du aus wie eine Kreuzung aus Pumukel und Angela Merkel.«
»Stimmt doch gar nicht!«, rief Mile empört und griff sich ins Haar. Gut, ja, seine Haare waren tatsächlich ziemlich gewachsen. Aber so schlimm war es nun auch wieder nicht. Er könnte höchstens als einer von den Beatles durchgehen, aber von Angela Merkel, Pumukel oder Prinz Eisenherz war er ganz sicher noch weit entfernt!
»Wenn wir zurückkommen, musst du dir dringend die Haare schneiden lassen«, kicherte Sabrina.
»Du aber auch. Dein Pony ist mittlerweile auf Nasenhöhe. Wenigstens ist es schräg geschnitten, sonst würdest du jetzt aussehen wie einer dieser Hunde, die kaum was sehen können, weil ihre Haare über den Augen hängen«, giftete Mile zurück.
»Lieber ein Hund als ein rothaariger Angela Eisenherz Mutant.«
Die Geschwister lachten. Solch einen verbalen Zweikampf hatten sie schon eine Ewigkeit nicht mehr geführt. Jedenfalls keinen spielerischen...
»Hey, Mile, ich glaube, wir haben deine missratene Topfpflanze fast erreicht«, stellte Sabrina fest und deutete auf den Baum, der nun nur noch etwa zwanzig Meter von ihnen entfernt stand. Sie hatten schon beinahe die höchste Stelle des Hügels erreicht und konnten nun sehen, was sich dahinter befand...
»Ach du... Sabrina, ich glaube, nicht nur das!«, rief Mile aufgeregt. Auch Sabrina riss erstaunt die Augen auf.
Erstens war da die Tatsache, dass der Baum blau war. Seine Rinde hatte einen leichten Violett-Stich und die Blätter waren wie einer dieser Farbfächer, die man in Möbelgeschäften bekam, um sich einen Bestimmten Farbton aussuchen zu können. Himmel-, Königs-, Meeres-, Azur-, Türkies-, Pastell-, Nacht-, Saphir- und Marineblau. An tausend Ästchen hingen tausend kleine, silberne Windspiele. Sie waren geschmückt mit Spiegeln, Glöckchen, Perlen, Scherben, Muscheln und Federn. Wen ein Windhauch sie traf, gaben sie ein wunderschönes, helles, melodisches, klares Klingen von sich. Dieses Klimpern hatte Mile schon gehört, als er in dem Pavillon aufgewacht war.
Aber der Baum war nicht das, was die Geschwister vollkommen überwältigte. Es waren die Bäume. Denn es waren viele. Unendlich viele. Man hatte sie zuvor nicht sehen können, da der Wald der blauen Bäume hinter dem Hügel versteckt gewesen war. Und nun lag er vor ihnen. Ein Meer aus blauen Blättern. Immer wieder glitzerte etwas zwischen den Bäumen, wenn die Strahlen der purpurnen Sonne durch das Blätterdach brachen und auf Metall, Spiegel, Perle oder Scherbe traf.
Mile klappte den Mund auf und zu wie ein Fisch und brachte schliesslich heraus: »Das ist total...«
»Abgespact«, vollendete Sabrina seinen Satz.
»Langsam kommt mir deine Theorie, Jeremy Topper könnte uns LSD in den Tee gemixt haben, gar nicht mehr so irre vor...«
»Nicht wahr?«
Sabrina ging zu dem einzelnen Baum, der mutterseelenalleine auf diesem Hügel stand, legte eine Hand auf die Rinde und strich vorsichtig über die raue Oberfläche. Dort wo sie ihn berührte, begann das Holz golden zu leuchten. Ganz schwach, wie das Licht eines sterbenden Glühwürmchens. Sie setzte sich auf eine der knorrigen Wurzeln des Baums und hob ein abgefallenes Blatt auf. Es war verdorrt, trocken und hatte eine graue Farbe angenommen. Ein Windstoss fegte über den Hügel und riss ihr das graue Blatt aus der Hand. Es flog davon. Über ihr begannen die Windspiele wild zu klimpern und Sabrina sah sie sich genauer an. Einige erinnerten an Traumfänger, in deren Netze geflochten waren. Andere sahen aus wie lange Metallrohre, in deren Innenseiten Perlen hin und herschwangen. Dann gab es noch Buntglasglocken, deren Bolzen aus Holz geschnitzt waren. Manche sahen aus wie Mobiles aus Spiegel und Glasscherben, die wild umherschwangen. Aber eines der Windspiele unterschied sich von allen anderen. Nicht weil es besonders schön oder wertvoll war oder zu sein schien, nein, es war einfach nur sehr unauffällig und gewöhnlich. Es bestand aus einer Glasflasche, die an einem Seil hing. In ihrem Inneren lagen Steine und... eine kleine Pergamentrolle. Sie musste an diese Flasche kommen, nur hing das blöde Teil viel zu hoch, als dass sie oder Mile drankommen könnten. Verflucht! Wieso konnte sie ihre Telepathie nicht einfach gegen eine andere Superkraft eintauschen' Zum Beispiel wäre jetzt die Fähigkeit, fliegen oder drei Meter hoch springen zu können viel nützlicher
»Mile, hilf mir mal«, rief sie ihrem Bruder zu, der gerade damit beschäftigt gewesen war, mit seinen Fingern eines der toten, grauen Blätter zu entzünden. Es gelang ihm und das abgestorbene Blatt ging in weisse Flammen auf.
»Wow. Hast du das gesehen?«
»Ja, ganz toll. Ich schenk dir dieses Jahr zum Geburtstag ein paar Laubblätter, die darfst du dann alle anzünden. Am besten machst du nebenbei noch ein paar Selfies und stellst die dann auf Facebook oder so. Aber heute ist nicht dein Geburts- sondern dein Ich-mach-'ne-Psychoreise-und-helfe-meiner-Schwester-Tag. Also komm her und heb mich hoch.«
Mile verdrehte die Augen und kam zu ihr. Er bückte sich zu ihr herab und stellte sich auf seine Schultern.
»Was willst du denn von dem Baum runterholen?«, fragte er, nachdem er kapiert hatte, was seine Schwester vorhatte.
»Ich glaub, da oben Hängt 'ne Nachricht für uns beide rum. Steh jetzt bitte ganz vorsichtig hoch und pass auf, dass ich nicht runterfalle. Und mach die Augen zu!«, befahl sie streng und hielt sich an dem Baumstamm fest, während Mile sich vorsichtig aufrichtete.
»Wieso soll ich die Augen zumachen?«, murmelte er verwirrt, hob den Kopf und sah... Beine und... Unterwäsche.
»Weil ich ein Mädchen bin und ein Kleid anhabe, du Evolutionsbremse!«, schimpfte sie.
»Ja... Klar... Ich... Sorry...«
Es folgten etwa zwei Minuten der Stille, die sich für Mile jedoch eher wie Stunden anfühlten. Nicht, weil Sabrina schwer war, dank seiner Übermenschlichen Fähigkeiten war er ja stark genug, um mit zwei Güterzügen Flick-Flack zu spielen, das war nun wirklich nicht das Problem. Auch, dass er die Augen nicht öffnen durfte machte ihm nicht s aus. Es waren die hölzernen Absätze von Sabrinas Schuhen, die ihm die Hölle heiss machten. Als würde jemand einen Stepptanz auf seinen Schlüsselbeinen veranstalten! Sabrina musste ja auch andauernd das Gewicht verlagern!
»Hör auf zu stöhnen, du Waschlappen. Stell dich auf die Zehenspitzen, ich hab die Flasche fast!«, rief sie ihm zu. Mile tat wie geheissen und stellte sich auf die Zehenspitzen.
»Die Situation erinnert mich an damals, als wir zusammen mit Kate und Jonny Küchendienst hatten? Du warst zehn und ich zwölf, nicht? Wir hätten eigentlich das Geschirr abspülen sollen, aber stattdessen hatten wir mit einer Orange und einer PET-Flasche Baseball gespielt. Aber dann hat Jonny die Orange gegen eines der obersten Fächer getroffen. Und da drin, das hatten wir sehen können, waren Kekse gelegen!«, rief er und lachte bei der Erinnerung.
»Oh ja! Die selbstgebackenen Weihnachtskekse. Die wären eigentlich als Geschenke für die Kinder gedacht gewesen«, kicherte Sabrina.
»Tja, aber das hatten wir nicht gewusst oder es war uns einfach egal gewesen.«
»Du bist wie jetzt auch auf meine Schultern gestiegen und dann haben wir die Kekse geklaut.«
»Oh, ich weiss noch, wie wütend Tarantula geworden ist«, quiekte Sabrina, »als sie uns später gefunden hat. Von oben bis unten mit Schokolade verschmiert, vollgefressen und das Geschirr noch genauso dreckig wie zuvor. Das ist doch Tarantula gewesen, oder? Du weisst schon. Diese Haushälterin mit den Spinnenhänden und der runden Brille. Die mit dem Hundegesicht.«
Mile nickte. Die Frau hatte eigentlich Alberta Hehler geheissen, aber wegen ihrem Aussehen und ihrer Art, mit der sie den Kindern immer solche Angst eingejagt hatte, war sie von allen nur Tarantula genannt worden.
Plötzlich brüllte Sabrina: »Ich hab die Flasche, aber ich krieg sie nicht los.«
»Reiss dran!«, antwortete Mile.
Im nächsten Moment geschahen mehrere Dinge gleichzeitig. Ein Ratschen, Sabrina quiekte, verlor den Halt. Er, arme Sau, Mile, streckte die Arme aus und fing seine Schwester mit Superhelden-Geschwindigkeit auf. Bevor er sie mit einem Spruch oder einem selbstgefälligen grinsen aufziehen konnte, wurde er von etwas Hartem und Blauen zu Boden gedroschen.

Uralte Fassung (1): Twos - Die Prophezeiung von Feuer und EisWhere stories live. Discover now