Kapitel 7 - Das Wintermädchen

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Kapitel 7

Das Wintermädchen


~Mile~

»Oh Gott! Kann mir jemand erklären, wie ich aus diesem Kauderwelsch, der sich Geographie schimpft, schlau werden soll?«, fragte Lilly und ihre grossen, blauen Augen zuckten hilfesuchend zwischen Tom, Michelle und ihm hin und her.
»Du meinst diesen Text über Vulkane?«, fragte Tom und biss in seinen Apfel.
Lilly nickte und ihre blonden Locken wippten mit. »Ja, die Stelle über die Gesteine: Beim Abkühlen der Lava entsteht Bimsstein oder Pechstein. Bei schnellerer Abkühlung durch Eis oder Wasser mit einem Massenanteil an Wasser von maximal 3-4% entsteht Obsidian. (Ist der Massenanteil an Wasser höher, entsteht auch bei schneller Abkühlung Bimsstein. Siehe S. 247) Die schwarze Färbung hat es seinem Eisenoxidgehalt zu verdanken. Obsidian besteht hauptsächlich aus Siliziumoxid, enthält aber eine Vielzahl weiterer Mineralien. Selbst ist er den Gesteinen zugeordnet. Er ist in allen Gebieten anzutreffen, deren Entstehung auf vulkanische Bildung zurückzuführen ist. Und am Ende steht die Formel. Ich dachte, der Müller unterrichtet Geo und nicht Chemie! Den Text kann ich zwar lernen, aber die Formel, da hab ich keinen Plan... Müssen wir die auch an der Klausur können? Bitte sag nein!«
»Hey, ist nicht so schwer, wie du denkst«, mischte sich Michelle in die Unterhaltung ein. »SiO-tiefgestellt-2 ist das Siliziumoxid, das kannst du dir mit der Formel für Granit einfach merken. MgO ist natürlich Magnesiumoxid. Fe-tiefgetstellt-2O-tiefgestellt-3 ist das Eisenoxid. Wenn du das weisst, ist der Müller schon zufrieden. Der Rest ist Beilage.«
Lillys Kopf lief rot an. »B-Beilage?!«
Mile grinste. Er hatte sowohl mit Chemie als auch mit Geographie noch nie Probleme gehabt. Er war natürlich längst nicht so gut wie Michelle, die ein wahres Ass in Naturwissenschaften war, aber er verstand, von was sie sprach. »Du klingst wie meine Schwester« lachte er und packte den Strohhalm seiner Pausenmilch aus. »Ich hab schon so oft versucht, zu erklären, wie sie chemische Formeln lesen muss, aber sie versteht immer nur Bahnhof.«
»Hörst du, Lilly? Gründe mit ihr doch eine Selbsthilfegruppe«, zog Tom seine Klassenkameradin auf.
»Die Arme. Ich würde ausrasten, wenn ich neben dem sitzen müsste!«
Mile blickte auf und folgte Lillys Blick.
»Du meinst Sabrina?«
Nachdenklich beobachtete Mile seine Schwester. Sie sass drei Tische entfernt von ihnen und matschte gedankenverloren in ihrem Kartoffelbrei herum. Ihre langen Haare vielen ihr wie ein goldener Vorhang über die schmalen Schultern und verbargen ihr Gesicht.
Neben ihr sass ein kleiner, ziemlich dicker Junge und laberte sie ohne Punkt und Komma voll. Sabrina schien ihm nicht mal zu hören.
»Klar. Deine Schwester. Sie sitzt neben Harry. Harry von und zu Labertasche! Der Kerl redet wie ein Wasserfall!«, murrte Michelle.
»Sie muss furchtbar einsam sein!«, seufzte Lilly und in ihrer Stimme schwang Mitgefühl.
Mile biss sich auf die Lippe. Das schlechte Gewissen plagte ihn.
»Ach, die kommt schon klar...«, verteidigte er sich und war froh, als es kurz darauf klingelte. Nun lebten sie bereits einen Monat bei den Tallos und Mile fühlte sich geborgen. Er war beliebt bei seinen Klassenkameraden und die Welt war schön. Er musste nicht andauernd seine Schwester vor irgendwelchen aggressiven Typen retten, die sie piesackten. Stattdessen waren sie frei, lebten in einem wundervollen Haus und genossen eine richtig gute Schulbildung. Schule hatten sie in Berlin zwar auch gehabt, ja, sie hatten sogar ein Gymnasium besuchen dürfen, dieses war jedoch bei weitem nicht so gut, wie das hier in Wolfsbach. Mile war glücklich! Niemand konnte ihm das jetzt kaputt machen.


~Sabrina~

»Hallo! Miss Frostig! Eisprinzessin! Bleib doch mal stehen!«, grölte es hinter ihr.
Verdammt! Randall!
Sie hatte versucht ihm aus dem Weg zu gehen, doch der Kerl war eine Plage!
Schnell bog sie links ab, um Randall und seinen Schlägertypen auszuweichen.
Auf den Gängen waren kaum noch Schüler.
Die Schule war aus. Nur sie dummes Huhn hatte mal wieder vergessen, ihre Bücher von der Bibliothek ab zu holen. Als sie ihr Versäumnis bemerkt hatte, war sie schnell wieder in das Schulhaus geflitzt.
Das war ein Fehler gewesen. Ein schrecklich dummer Fehler.
Auf halbem Weg zur Bibliothek war sie Randall direkt in die Arme gelaufen. Wortwörtlich. Sofort hattte sie sich losgerissen und war gerannt. Gerannt, wie sie es im Waisenhaus immer hatte tun müssen, um den um sich schlagenden Fäusten ihrer Mitbewohner zu entweichen. Doch nun rannte sie wieder weg, nicht vor ihren Mitbewohnern, sondern vor ihren Mitschülern.
Wieso?
Was war an ihr so verkehrt, dass sie immer ins Schussfeld solcher Typen geriet?
»Hey! Nun warte doch mal! Miss Frostig! Wo willst du denn hin? Zu Mom und Dad geht's ja jetzt nichtmehr...«, rief Randall ihr hinterher. Schallendes Gelächter war zu hören.
Blödmänner!
Erleichtert bog sie erneut nach links ab. Gleich hatte sie es geschafft. Gleich würde sie die frische, kalte Winterluft von draussen einatmen können. Sie konnte sie schon sehen, die Glastür, den Ein und Ausgang des Gymnasiums!
»Wohin des Weges, kalte Lady?«
Sabrina schrie auf.
Sie war direkt in die Arme des Feindes gerast. Schonwieder!
Marcel, einer von Randalls Schlägern baute sich drohend vor ihr auf, wie ein Berg. Er war ein Schrank mit schwarzem Haar, das ihm an der verschwitzten Stirn klebte. Er grinste so breit, dass sie seine glitzernde Zahnspange sehen konnte.
Sabrina wirbelte herum, um in die andere Richtung zu fliehen, aber dort lauerte bereits Randall, Michele und Thierry.
»Pech gehabt, Kleine. Ich weiss zwar nicht, was Randall gegen dich hat, aber es reicht mir, dass er dich nicht ausstehen kann«, knurrte es hinter ihr und eine grosse, schwere und verschwitzte Hand legte sich auf ihre Schulter. Sie wirbelte herum, um die Hand abzuschütteln, da bemerkte sie erschreckt, dass da nun nicht nur Marcel stand, sondern auch Benjamin.
Fünf Kerle. Fünf gegen sie.
Das war eine Falle!
Aber wieso? Gab es wirklich Menschen, die einfach so... ohne Grund anderen schaden wollten?
Sie war gefangen. Auf der einen Seite Marcel und Benjamin, auf der anderen Randall, Michele und Thierry. Links und rechts die mintgrünen Spints, deren Farbe die Schule etwas steril wirken liess.
»Ich habe dir doch gesagt, wir werden uns wiedersehen!«, knurrte Randall.
Sie war alleine. Vollkommen alleine. Mile, ihr Bruder war nicht hier. Niemand konnte ihr helfen! Angst krallte sich in ihr Herz.
Randall lachte ihr ins Gesicht.
Die Temperatur im Gang sank sofort um einige Grad.
Sabrina trat Randall gegen das Schienbein und versuchte, den Ring, den er und seine Schergen um sie gebildet hatten, zu durchbrechen.
Randall knickte fluchend ein.
»Marcel! Thierry!«, schrie er und hielt sich mit schmerzverzerrtem Gesicht das Bein.
Marcel schlug zu.
Er traf sie mitten im Gesicht.
Sabrina jaulte auf und vor Schmerz sammelten sich Tränen in ihren Augen.
Sie schmeckte Blut auf der Zunge. Ihre Lippe war aufgeplatzt.
Marcel packte sie an den Schultern und drückte sie gegen die Wand. Sabrina hob schützend die Arme vor ihren Kopf.
Marcel holte aus, wie um ihr in den Bauch zu boxen. Sofort schlang sie die Arme um ihren Unterleib. Zu spät bemerkte sie, dass dies nur ein Täuschungsmanöver war. Nun, da ihr Kopf ungeschützt war, war es für Marcel ein leichtes, ihren Hinterkopf brutal gegen den Spint hinter ihr zu donnern, sodass sie Sterne sah.
Sie schrie. Ihre Ohren rauschten. Sie wusste nicht mehr, wo oben und unten war.
»L-loslassen!«, keuchte sie und schlug orientierungslos mit Armen und Beinen um sich.
Endlich traf sie irgendetwas mit ihrem rechten Knie. Ihr war zu schummrig, um zu begreifen, was es gewesen war...
Marcel jaulte auf und liess sie fallen. Sie prallte hart auf. Schmerz explodierte in ihren Knien und auf einmal sah sie wieder klar, so als hätte die Pein sie geweckt. Unter sich sah sie die verdreckten Fliesen. Blut tropfte von ihrer Lippe auf den Boden. Ihre Strumpfhose war zerfetzt.
Sie war oft geschlagen worden. So war das Leben eines Waisenkindes. Niemand beschützt dich. Doch sie hatte Mile gehabt. Er hatte sie verteidigt und war er nicht da gewesen, als sie mal wieder Prügel hatte einstecken müssen, so hatte Mile ihre Wunden versorgt.
Aber wieso? Nun war sie doch adoptiert worden! Warum war das nicht vorbei?
Wieso nur? Warum? Sie hatte doch niemandem etwas getan!
Niemand hatte das Recht, sie zu schlagen!
Niemand!
Sabrina sah rot.

Uralte Fassung (1): Twos - Die Prophezeiung von Feuer und EisWhere stories live. Discover now