Kapitel 44 - Vom Mörder, der die schwarze Orchidee fand

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Kapitel 44

Vom Mörder, der die schwarze Orchidee fand


~Theodor~

Er lief durch den Flur. Die Fliesen waren glatt und kalt.
Hinter ihm hörte er die Schritte seiner Verfolger. Sie versuchten ihn von seinem Vorhaben abzuhalten, doch das würden sie nicht schaffen! Gleich hatte er die Eingangshalle erreicht. Dann würde er am Empfang vorbeirennen und endlich hinaus laufen.
Hinaus in die Regennacht. Alles danach war egal!
»Bleib doch bitte stehen! Wir können darüber reden!«
Theodor lachte. Was gab es da zu reden?
Er hatte nun die Treppe erreicht.
»Weg da!«, brüllte er und jagte an einer Schar Krankenschwestern vorbei. Die Frauen quietschten und sahen ihm tuschelnd nach.
Blöde Ziegen!
Noch eine Treppe...
Gut, er hatte die Eingangshalle erreicht. Nun war er erschöpft, doch daran würde er sich nicht aufhalten.
Daran.
An dem Schwächegefühl eines Todkranken...
Die Leute, die in der Empfangshalle warteten, starrten ihn vollkommen perplex an.
»Ja«, schrie er sie an. »Ja, ich bin es! Theodor Stark! Der Teeny-Star, der halb tot im Wald gefunden worden ist. Der Typ, der dauernd im Fernsehen ist, weil er mit jungen achtzehn Jahren dabei ist, abzukratzen! Und jetzt gehe ich!«
Dann setzte er seine Worte in die Tat um und wankte auf die Eingangstüre des Krankenhauses zu.
Die Dame am Empfang fiel fast vom Stuhl, als er an ihr vorbei schritt.
»Oi! Wagen Sie es ja nicht, den Sicherheitsdienst oder so was zu rufen!«, fuhr er sie an.
Da die Eingangstüre aus Glas war, konnte Theodor bereits sehen, was dahinter auf ihn wartete.
Die Freiheit der Nacht glitzerte ihm in einem Sternenmeer entgegen. Dort gab es keine Manager, keine Fans, keine Konzerte keine Interviews und keine Krankenhäuser. Doch vor der Nacht, die hier der freie Himmel, das pure Paradies bedeutete, wartete seine persönliche Hölle.
Der Parkplatz, auf dem die Autos der Ärzte, Patienten und der Angehörigen standen. Und davor... Davor kampierten die Journalisten, Fotografen und die irren Fans. Sie hatten ihn noch nicht entdeckt. Sie sassen auf Decken und wärmten sich die Hände an den Thermosflaschen, die sie mitgebracht hatten. Die Journalisten diskutierten und tauschten Gerüchte aus. Die Fotografen stritten über die optimale Belichtung von Portraits. Die Fans... Nun, die Fans heulten, über ihre Teelichter gebeugt, strichen voller Trauer über mitgebrachte Fotos von ihm und laberten sich gegenseitig die Ohren darüber voll, wie furchtbar doch das Schicksal war...
Das Schicksal. Pha!
»Warte doch, mein Junge! So warte doch! Das war nicht so gemeint. Wir können das Interview auch verschieben, wenn du dich noch nicht gesund genug fühlst! Wirklich! Aber bitte bleib doch. Vielleicht können wir...«
Er fuhr herum.
Er sah rot. Das Blut rauschte in seinen Ohren. Sein Brustkorb schien zu bersten, sein Herz nahe an seinem weiteren Infarkt zu sein.
»Vielleicht was? Was, Jared? Vielleicht werde ich auf magische Weise gerettet? Ist dir eigentlich klar, was hier los ist? Ich sterbe! Ich bin praktisch schon tot! Tot! Ich krepiere! Und du, du verblendeter Volltrottel hast nichts Besseres zu tun, als ein Interview für mich zu organisieren? Ganz ehrlich, mir ist so was von scheissegal, was die Welt da draussen von mir hält und denkt. Mir ist es egal, ob die wissen wie es mir geht!«
Die Antwort von Jared wurde von den Fragen übertönt, die die Journalisten ihm zubrüllten.
Super! Jetzt hatten ihn die Typen doch entdeckt.
»Mr. Stark! Ihre Fans trauern um Ihren Zustand! Haben Sie keine tröstenden Worte?«
»Wie schlimm steht es tatsächlich um Sie?«
»Sind die Gerüchte, dass Sie von einem Fan während eines Konzerts entführt worden waren, wahr? Sind Sie tatsächlich mit Ihrer Entführerin mitten im Park aufgewacht?«
»Ist Ihre Krankheit vererblich?«
»Wie kann es sein, dass die Ärzte nicht wissen, von was für einer Krankheit Sie befallen sind? Könnte es sich um einen Herzfehler handeln?«
Doch Theodor wollte nicht. Er wollte weg. Er wollte allein sein!
Doch er sass in diesem Krankenhaus fest, wo hinter jeder Ecke ein Promijagender Fotograf oder Journalist lauerte. Hinter jedem Kranken, jedem Pfleger, jedem Fremden lauerte in Wahrheit ein heulender Fan.
Sie waren überall! Fans! Oh, wie er sie mittlerweile hasste!
Hysterisch kreischend, sobald sie ihn sahen. Sie verpesteten die Umwelt mit der Fanpost, die er sowieso nie las. Und dann durfte er nicht einmal in Ruhe sterben! Nein, Jared wollte, dass er in einem Interview seine Gefühle preisgab.
Aber er wollte kein Interview, um sich alles von der Seele reden zu können. Er wollte einen Freund oder eine Freundin. Er wollte eine Mutter oder einen Vater.
Doch er hatte keine Freunde. Das brachte sein „Job" mit sich. Er hatte nur Fans und Bluthunde, die ihn fallen liessen, sobald er einen Fehler machte. Sie liessen ihn fallen und er fiel.
Theodor, der gefallene Engel...
Und einen Vater?
Bonnie und ihr Kolibri hatten behauptet, sein leiblicher Vater sei ein mordender Untoter.
Und Jared? Er kam für ihn einem Vater am nächsten, doch... Welcher Vater liess seinen Sohn, der todkrank war, ein Interview führen? Wenn Jared ihn wirklich wie einen Sohn liebte, wieso buchte er ihnen nicht einfach einen Flug für die Karibik, wo sie die letzten Tage seines Lebens gemeinsam verbringen könnten? Nein, Jared hatte ein Interview für ihn besorgt, ja, was für eine Tat aus Vaterliebe! Da war ihm ja beinahe Bonnies und Gigas' Mördervater lieber.
»Aber Theodor! Wir haben die beste Sendezeit bekommen und...«
Natürlich! Die beste Sendezeit war hier das Wichtigste! Sein Herz konnte jeden Moment aufhören zu schlagen, aber man hatte ja die beste Sendezeit erwischt, alles gut!
Sein Herz... Sein verfluchtes Herz!
Keiner der Ärzte konnte ihm helfen. Kein Experte wusste, was mit Theodor nicht stimmte...
Eine Herztransplantation kam nicht infrage, denn was auch immer sein Herz kaputtmachte, es könnte auch ein neues in Windeseile zerstören. Man konnte und wollte kein gesundes Herz, das einem anderen Menschen das Leben retten konnte, an ihn verschwenden, wo es sowieso aussichtslos war, es auch nur zu versuchen.
Aber wie gesagt: Alles kein Problem, denn man hatte die beste Sendezeit...
Doch nun wurde es ihm zu viel. Er rannte, nur mit der Krankenhauskleidung bekleidet, an Jared und seinen Babysittern - Schrägstrich - Bodyguards vorbei, riss die gläserne Türe auf und liess das Blitzgewitter auf sich einprasseln...
Er breitete die Arme aus, zeigte den Haien, wer er war, wollte, dass sie wussten, wie krank er war, schrie sie an, dass er mit dem letzten Schlag seines Herzens enden würde.
Ja, er, Theodor würde sterben. Aber er würde es mit einem Knall tun. Mit einem Donnerschlag und den Blitzen die folgen würden. Mit den Blitzen der Kameras.
Seine Bodyguards, drei Kerle, alle von der Statur eines Grizzlys, drückten sich an ihm vorbei und warfen dabei seinen geschwächten, kranken Körper beinahe um.
»Oi! Hier! Seht mich an! Könnt ihr sie erkennen? Die Lügen?«
Die Journalisten liessen ihre Kugelschreiber klicken und über ihre Klemmbretter kratzen.
»Ja! Ja!«, rief Theodor und lachte. Lachte wie ein Irrer. »Alles, alles ist Lüge! Ich bin eine Lüge! Alles an mir ist eine Lüge.«
Er wandte sich zu seinen irren Fans um, die schrien, ihre Hände nach im ausstreckten, doch von seinen Bodyguards daran gehindert wurden, ihn zu überrennen.
»Da steht ihr und kreischt, ihr sabbernden Hunde!«, brüllte er seine Stalker-Fans an. Die Mädchen verstummten und glotzten ihn aus grossen Augen an.
Aus den Augenwinkeln nahm Theodor wahr, wie sich Menschen durch die Schar Journalisten drängten. Menschen mit Kameras, plüschigen Mikrofonen, vielen, vielen Kabeln und Leuten, die kantige oder feine, elegante oder prägnante Gesichtszüge hatten. Ja, die Leute vom Fernsehen. Immer gutaussehend, immer falsch...
Gut, sollte das Fernsehen haben, was das Fernsehen wollte: Eine explosive Attraktion.
»Oh, ihr Fans mit euren bedeutungslosen Tränen. Was glaubt ihr, wer ich bin? Der unglaublich sensible Typ mit diesen wundervollen Songtexten voller Tiefsinn? Der Junge der so romantisch ist, dass er selbst Stein erweichen kann? In welcher Welt lebt ihr?! Denkt ihr, das sind meine Songs? Denkt ihr, ich hätte die geschrieben? Tut mir leid, wenn ich nun euren Lebenssinn zerstören muss, doch ich habe diesen Mist nicht geschrieben. Und komponiert erst recht nicht! Um ehrlich zu sein, mir hängt dieses langweilige Liebesgesülze aus den Ohren! Das ist doch nur oberflächlicher Mist!«
Oh, er genoss es, wie sie ihn ansahen. Er genoss es, seinen Frust an ihnen auslassen zu können. Und er genoss es, endlich alles den Bach runter gehen zu lassen. Seine Karriere, seinen Ruf, einfach alles. Er hatte keinen verdammten Bock mehr!
Jemand packte ihn an der Schulter und riss ihn herum.
Jared.
»Bist du bescheuert?!«, fluchte er und versuchte ihn zurück ins Krankenhaus zu zerren. Dabei rief er den Journalisten lachend zu: »Unser Theodor. Die Medikamente scheinen ihm wohl doch etwas zu zusetzen.«
Klar doch! Der süsse, kleine Theodor redet dummes Zeug. Nur auf Droge. Nicht ernst zu nehmen...
Denkste!
Theodor riss sich los und rannte auf die Fotografen zu, ohne zu bremsen. Überrascht wichen sie ihm aus, während seine Fans, die sich mittlerweile von ihrem Schock erholt hatten, die Chance zu nutzen versuchten, um sich auf ihn zu stürzen.
Theodors Herz schlug gegen seinen Brustkorb, als wolle es ihn zerbersten lassen.
Sein Herz... Sein krankes Herz...
»Halt! Schnell! Rettet ihn, bevor die ihn zerfetzen!«, brüllte Jared hinter ihm und seine tiefe Stimme übertönte das Gekreische der Mädchen.
Sofort warfen sich die Bodyguards vor ihn. Seine persönliche Mauer aus Muskeln und schwarzem Anzug hielt die Horde kreischender Teenies auf, was Theodor Zeit verschaffte, wie er es geplant hatte.
Und so rannte der sterbenskranke Star schneller, als sein Herz aushalten konnte.
Wie ein Klumpen heisses Metall brannte es ihm in der Brust. Die Schläge, die sein kochendes Blut durch die Adern schiessen liessen, waren wie Hiebe. Hiebe einer Raubkatze, die in seiner Brust sass, um sein Inneres mit ihren Klauen zu zerfetzen.
Doch er biss die Zähne zusammen und rannte stur weiter, auch wenn jeder Schritt ihn einem Zusammenbruch näher brachte.
»Theodor! Du bleibst jetzt sofort stehen!«
Jared eilte ihm nach. Der Manager war natürlich schneller sein kaputter Adoptivsohn, doch wofür hatte man schliesslich Ellbogen? Theodor wusste sie zu nutzen, rammte ihn Jared erst in den Magen und dann ins Gesicht. Etwas knackte und Jared schrie auf. Hatte er ihm die Nase gebrochen?
Jared krampfte und fiel auf die Knie, doch Theodor rannte weiter.
Er hielt nach etwas Ausschau, reckte den Kopf in die Höhe, suchend...
Da! Da stand er! Er war wie ein Diamant unter Kieseln. Wie ein Tiger unter Hauskatzen. Wie eine Flamme in der kalten Nacht.
Im schwarzen Lack des Lamborghinis spiegelten sich die Sterne. Der Bass, der Musik im Inneren des Wagens, hämmerte gedämpft, wie eine schnurrende, riesige Katze. Schwarz, schnell, protzig und unbezahlbar. Die Scheiben waren getönt, doch er wusste, wer im Wagen sass.
Er riss die Fahrertüre auf. Sie schwang nach oben, sodass es von weitem aussah, als wär dem Wagen ein Flügel gewachsen...
»Mr. Stark?«, brummte der Typ, der an dem leuchtenden Steuer sass. Das blaue Licht, das das Lenkrad und das Armaturenbrett ausstrahlten, erhellte das kantige Gesicht. Er war einer von Jareds Hunden.
»Aus dem Wagen!«, knurrte Theodor.
»Was?«, fragte der Hund. Er schien nicht besonders helle zu sein. Er konnte vielleicht Auto fahren oder tollwütige Fans aufhalten, aber ob er eins plus eins zusammenzählen konnte, war wohl eher fraglich. Idioten! Alles Idioten!
»Sie arbeiten für Jared?«, fauchte Theodor.
»Äääh... Ja.«
»Dann arbeiten sie auch für mich! Und ich sage: Raus. Aus. Dem. Wagen!«
Der Hund blinzelte.
»Raus!«, brüllte er. Seine Hand krallte sich in den Lack der Autotür. Dieser Trottel. Falls er Jared tatsächlich sein blödes Riechorgan gebrochen hatte, würde ihn das trotzdem nicht lange aufhalten. Schliesslich war er das Goldstück des Managers. Und ein kranker oder gar sterbender Star verkaufte mehr CDs als jemals sonst.
Der Hund hob beschwichtigend die Hände und stieg aus dem Wagen. Den Schlüssel liess er stecken. Guter Hund!
Theodor schwang sich in das Auto. Sofort liess er die Türe mit einem Knopfdruck hinunterfahren und schloss ab.
Noch immer schien sein Herz Harakiri begehen zu wollen, doch der Schmerz war langsam erträglich geworden.
Er liess den Wagen aufheulen. Die Felgen begannen zu leuchten.
Immer musste bei Jared alles glänzen und leuchten... Andererseits... Selbst halb tot fühlte es sich grossartig an, in diesem Traum von Auto zu sitzen.
Die Scheinwerfer leuchteten auf das Licht fiel auf den Hund, der gerade dabei war, Jared aufzuhelfen. Sein Adoptivvater hielt sich die Nase. Sein Gesicht war eine Fratze aus Schmerz, Wut und Frust. Aha, also doch gebrochen! Ätsch!
Erneut liess er den Motor aufheulen, dann legte er den Rückwärtsgang ein und rollte den Wagen aus der Parkspur. Dann fuhr er weg von dem Krankenhausgelände. Die Pedale fühlten sich unter seinen blossen Füssen kalt an. Doch er fuhr... Weg, weg, weg...
Einfach nur fort von all dem Mist!
Und wohin nun?
Sein Blick fiel auf seine mittlerweile verschwitzten Krankenhausklamotten. Ganz sicher brauchte er zuerst eine Dusche und frische Kleidung...
Theodor fuhr ohne Ziel durch die Strassen. Schliesslich parkte er vor einem Secondhandladen. Er stieg aus dem Wagen, hob einen Stein auf und schlug die Glastür ein. Es klirrte laut.
Theodor zog sein Krankenhaushemd aus und legte es auf den Boden im Laden, über die Scherben und stieg dann darüber. Es knirschte und er spürte das Glas brechen, doch keine der scharfen Splitter bohrte sich in seine Füsse.
Er war in einem Stadtteil von London gelandet, wo sich wenige Touristen hin trauten. Hier war der Untergrund aktiv. Und in diesem Secondhandladen war die Alarmanlage eine unerreichbare Legende, was gut für Theodor war.
Er wühlte sich durch Berge von Klamotten, um etwas zu finden, das sauber war und nicht aussah, als stamme es aus der Muppets Show...
Am Ende hatte er eine Jeans, ein schwarzes T-Shirt und eine Lederjacke. Die Hose hatte ein Loch am linken Knie, das T-Shirt roch etwas muffig, aber die Lederjacke schien noch in gutem Zustand zu sein. Zudem fand er ein Paar schwarze Schuhe aus künstlichem Leder. Die Qualität der Kleider liess zwar zu wünschen übrig, aber etwas Besseres liess sich nun einmal auf die Schnelle nicht finden. Die Krankenhausklamotten, Hose samt das von den Scherben durchlöcherte Oberteil, warf er in den Müll unter dem Tresen. Er konnte sich nicht davon abhalten, einen Blick in die Kasse zu werfen.
Die Kasse musste entweder schon geleert worden sein, oder der Laden lief ausserordentlich schlecht, jedenfalls war da kein Geld. Jedoch fand er in der Kaffeekasse vierzig Pfund, die er sich in seine neue Hose stopfte.
Danach stieg er wieder in den Wagen und fuhr drauf los. Vielleicht würde er ja ein Motel oder so finden, wo er günstig duschen und übernachten konnte.

Uralte Fassung (1): Twos - Die Prophezeiung von Feuer und EisWhere stories live. Discover now