Kapitel 65 - Von Namen und Masken

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Kapitel 65

Von Namen und Masken


~Sabrina~

Ihr Rücken schmerzte, die Luft war schlecht und an den Mief konnte sie sich einfach nicht gewöhnen. Nun lagen sie sicher schon gefühlte fünf Stunden unter dem Bett des Rattenfängers von Hameln. Faritales war schon einige Male weggeratzt. Sie hatte ihn gelassen und nur geweckt, wenn er zu schnarchen angefangen hatte.
Sabrina versuchte, sich die Zeit zu vertreiben, indem sie nachdachte. Jetzt hatte sie schliesslich endlich mal Zeit, sich über alles klar zu werden. Es passierten so viele Dinge, all die Entscheidungen, all die Erwartungen, alles was passierte... Von allen Seiten prasselten sie auf sie ein. So viele, dass sie erst gar nicht wusste, womit sie anfangen sollte.
Sie entschloss sich, von vorne zu beginnen. Drosselbart. Der Tote... Es tat weh, an ihn zu denken. Er war tot, oder tot-auf-Zeit, dem war sie sich bewusst und sie verstand es, soweit man etwas wie den Tod jemals verstehen konnte. Sollte nicht diesen Abend noch diese Andacht für ihn stattfinden? Hoffentlich würden sie bis dahin mit Feivel fertig sein.
Je länger sie über Drosselbarts Tod nachdachte, desto schlechter fühlte sie sich. Da war diese schier überwältigende Angst, die Rebellion würde ohne ihn zugrunde gehen, dass sie es nicht schaffen würden. Sie schüttelte den Kopf. Sie wollte gar nicht daran nachdenken, an diese Last, die auf Miles und ihren eigenen Schultern ruhte. Das Problem war, dass Drosselbart die Rebellion erst möglich gemacht hatte. Er hatte die Völker zusammengebracht und zusammenbehalten. Ohne ihn würde dieses Bündnis auf eine harte Probe gestellt werden. Er war das Gesicht für diese Zusammenarbeit gewesen. Nun brauchten die Rebellen ein neues. Jemand, zu dem alle aufsehen konnten. Wie Nimmertiger! Es war beeindruckend gewesen, wie er die Massen diesen Morgen im Griff gehabt hatte. Jemanden wie ihn könnte man bestimmt als Anführer einsetzen, doch Sabrina glaubte nicht, dass ihr Cousin sich dafür bereiterklären würde.
Tja und Mondkind? So viel Chaos um dieses kleine Mädchen... Am liebsten würde Sabrina die Kleine von hier wegbringen lassen. Zurück nach Aramesia oder am besten nach LaRuh, aber das ging jetzt natürlich nicht mehr. Mondkind würde sich das bestimmt nicht gefallen lassen, ausserdem konnte man die kleine Träumerin sowieso nicht kontrollieren. Zudem war es ein grosser Vorteil, ein Orakel auf seiner Seite zu haben. Nicht zu vergessen, passte Jeremy Topper auf sie auf. Einen besseren Beschützer als ihn konnte man wohl nicht haben.
Sabrina presste die Lippen zusammen. Jeremy... Wieso wollte er ihr nicht die Wahrheit erzählen? Warum hielt er Dinge vor ihr geheim? Der Orden des Azoth und all das... Sie wusste nicht, was sie von alledem halten sollte. Hatte sie irgendwie sein Vertrauen gebrochen? Sie schüttelte den Kopf. Nein, das war es nicht... Es musste...
Neben ihr grunzte es. »Nicht schonwieder«, seufzte sie und stiess dem schnarchenden Nachtmahr den Ellbogen in die Seite.
»Autsch«, murmelte Fari verschlafen und blinzelte sie aus einer Mischung aus Verwirrung und Ärger an.
»Du hast schonwieder...«
Der Nachtmahr riss die Augen weit auf. »Psst!« Er deutete auf seine langen Pinselohren.
Sabrina hielt die Luft an und lauschte, dann hörte sie es auch. Es raschelte...
Langsam drehte sie den Kopf zur Seite und blickte über den verdreckten Teppich hinweg zum Zelteingang. Wieder raschelte es. Ihre Augen suchten das Zelt ab. Schliesslich entdeckte sie eine Ratte, wie sie sich eben unter der Zeltplane durchschob. Das Tier war ziemlich dick und gross. Wo das graue Fell keine Löcher hatte und nackte Haut hervorblitzte, war es bedeckt von Dreckbrocken. Es war eine ausserordentlich hässliche Ratte. Die Art, wie man sich Kanalratten vorstellte.
Sabrina schob sich noch weiter nach hinten, bis sie mit dem Rücken an die Zeltwand stiess. Wie gebannt starrte sie die Ratte an. Mile hatte ihr von seinen Erfahrungen mit Feivel bereits berichtet, darum wusste sie, dass dies kein normaler Nager war. Das war Feivel!
Die Ratte sprang zu ein paar der Essensreste und knabberte daran. Bisher hatte sie sie noch nicht entdeckt. Sabrina betete zu den Göttern, dies möge auch so bleiben.
Das Nagetier wuselte noch ein paar Minuten in seinem Saustall herum, dann hielt sie inne. Sie wischte sich über die lange Nase, wackelte mit dem Ohr und verkrampfte sich. Sie zuckte, krümmte sich zusammen, alle Knochen schienen aus ihren Gelenken zu springen, es knackte und dann wuchs das Tier... Der Rest der Verwandlung fand ausserhalb von Sabrinas Sichtfeld ab und circa eine Minute später hatte sich die Ratte in zwei menschlichen Füsse verwandelt.
»Bei Revell«, hauchte der Nachtmahr angeekelt. »Ich glaub, er ist nackt! Igitt...«
Mit einer schnellen Geste, versuchte sie ihn zum Schweigen zu bringen. Zwar mochte der widerliche Mief in diesem Zelt ihren eigenen Geruch überdecken, doch hören konnte der Gestaltenwandler noch immer.
Der Rattenmann wanderte durch sein Zelt. Dabei trat er achtlos auf das herumliegende Zeug, egal ob Hühnerknochen, Pergamentrolle oder zur Hälfte verspeiste Mahlzeit. Immer wieder hielt er an und hob ein herumliegendes, scheinbar achtlos weggeworfenes Kleidungsstück auf. Das Schmuddelzeug streifte er sich über, dann drehte er sich um und kam leise pfeifend auf das Bett zu. Die Strohmatratze raschelte, als er sich darauf niederlies. Staub rieselte auf Sabrina herab. Sie hielt sich die Nase zu und versuchte nicht zu atmen, um dem Niesreiz zu widerstehen. Nun mussten sie nur noch warten, dass Feivel einschlief. Dabei nicht entdeckt zu werden, war auch von Vorteil... Sabrina versuchte, so flach zu atmen, wie nur ging, doch je stärker sie sich darauf konzentrierte, desto schwerer fiel es ihr.
Eine Weile wälzte sich der Rattenmann unruhig hin und her, doch bereits nach ein paar Minuten wurde er entspannter. Er schmatzte wohlig.
Faritales piekte ihr in den Arm. »Er ist eingeschlafen. Ich kann seine Träume riechen«, flüsterte der Dämon und verzog das Gesicht. »Ich hasse das hier.«
Am liebsten hätte sie ihm zugestimmt, doch das hätte nur wieder zu einer Diskussion geführt. Sie musste tun, was sie tun musste. Also krabbelte sie vorsichtig ein Stück unter dem Bett hervor, sodass sie den Rattenmann mit ausgestrecktem Arm berühren konnte. Kurz hielt sie inne und sah sich nach ihrem treuen Traum-Reisegefährten um. »Bereit?«, flüsterte sie Faritales zu.
Der Dämon nickte und krabbelte näher an sie heran und legte seine Klaue auf ihren Oberarm. Dieser Kontakt würde sie zusammenhalten. »Na los«, knurrte der Dämon schlechtgelaunt. »Reit uns in die Scheisse...«
Sabrinas Hand legte sich auf die Schulter des Rattenmannes, dann fiel sie...

Uralte Fassung (1): Twos - Die Prophezeiung von Feuer und EisWhere stories live. Discover now