Kapitel 25 - Von toten Jungen und Mädchen aus Licht

4.8K 209 54
                                    

Kapitel 25

Von toten Jungen und Mädchen aus Licht


~Theodor~

»I feel your fingertips on my skin...«
Er hatte die Augen geschlossen, hoch konzentriert. Sein Herz schlug im Takt mit der Musik. Seine Seele badete in den Klängen seiner Stimme und seiner Gitarre. Die Musik war das Einzige, was ihn am Leben erhielt. Er war sein Leben so leid. So Leid. Er verspürte dauernd diese... Lustlosigkeit. Diese Gleichgültigkeit jedem und allem gegenüber. Und diese schreckliche Wut! Ohne Grund hatte er diese... Anfälle. Er wollte schreien und einfach auf irgendetwas einschlagen! Meistens litten dann die Hotelzimmer darunter. Zerrissene Kissen, demolierte Möbel, die Tapeten hingen in Fetzen. Es war wie ein Rausch.
»We dance, when the sky is crying...«
Doch dies war auch ein Rausch. Aber ein Guter, ein Reiner. Die Musik liess ihn diese Wut vergessen, liess ihn abschalten.
»My heart burns despite this rain. You have it set on fire...«
Er genoss es, allein auf der Bühne zu sitzen. Vollkommen alleine. Nur das grelle Licht eines Scheinwerfers erhellte die Bühne in dieser verregneten Nacht. Was man sich von London erzählte, stimmte. Dies hier Regen zu nennen, war eine Untertreibung. Viel eher passte das Wort Wasserfall.
»The fire will never die. The flames will never stop dancing...«
Doch es gefiel im irgendwie. Es erinnerte ihn an seine Heimat... Wo auch immer die gewesen war. Er war zu klein gewesen, um sich den Namen der Stadt zu merken. Vielleicht war es Seattle gewesen. Oder London? Oder lag sein Heimatort gar in irgendeinem Kaff? Jedenfalls hatte man dort Englisch gesprochen, so viel wusste er noch... Amerika oder England. Genauer würde er seinem Geburtsort wohl niemals kommen...
»It will never go. None can quench it...«
Er öffnete die Augen wieder. Eine Horde durchgeknallter Teenager, sein Publikum, bebte vor ihm zu seiner Musik. Alle dicht gedrängt an die Absperrung gequetscht, füllten sie ein ganzes Stadion. Alle hielten sie kleine Leuchtstäbchen in den Händen, die sie langsam im Takt seines Liedes hin und her schwenkten.
»Not even the rain...«
Er schloss die Augen, genoss die letzten Momente des Friedens. Bevor das Konzert vorbei sein und die Wut - woher auch immer - wieder kommen würde.
»Never...«
Er atmete tief ein, schmeckte den künstlichen Nebel auf der Zunge.
»Not even the rain...«
Eigentlich mochte er dieses Lied nicht. Er mochte wohl keines seiner Songs. Es waren schliesslich auch nicht wirklich seine Lieder. Irgendein liebesdusseliger Songwriter hatte den Text abgetippt und irgend so eine Schlaftablette von Komponist die Melodie dazu entwickelt.
Liebeslieder. Pha!
»Rain...«
Dabei hatte er noch nie ein Mädchen gehabt, das er liebte oder geliebt hatte. Nein, Mädchen schon... Und zwar nicht nur eines. Er war so was wie ein Star, nein, er war ein Star! Die Mädchen flogen auf ihn wie die Fliegen...
»Rain...«
Er hatte jedoch noch niemals jemanden geliebt. Er wusste, Liebe hatte er für seine Mutter empfunden, doch das war so lange her, er erinnerte sich nicht einmal mehr an ihr Gesicht.
Die glückliche Zeit vor dem Autounfall, vor dem Internat, vor dem Knabenchor, vor Jared, vor seiner Karriere als Teeniestar, vor der Tournee und vor London.
»Rain...«
Der letzte Ton klang aus... Er atmete tief ein und wartete auf den Applaus, die Schreie, das Kreischen, den Rosenregen. Doch es blieb still.
Viel zu still.
Langsam öffnete Theodor die Augen und liess sie über die Menge streichen.
Über die absolut erstarrte Menge.
Doch sie standen dort nicht so versteinert, weil sie so berührt von seinem Lied gewesen waren, nein, sie standen da, wie zu Stein erstarrt.
Fassungslos starrte Theodor seine Fans an. Die weit aufgerissenen Augen waren glasig, wie von einem ausgestopftem Tier. Das war nicht normal! Da stimmte etwas absolut nicht!
Er stand auf, lehnte seine Gitarre an den Stuhl, auf dem er gerade noch gesessen hatte und trat näher an den Rand der Bühne.
Nicht einmal seine Bodyguards rührten sich.
»Hallo?«, fragte er zaghaft.
Die Lautsprecher liessen seine Stimme um einiges verstärkt durch das Stadium hallen.
Die Welt stand still.
Theodor keuchte und lachte gleichzeitig. Wurde er jetzt schon verrückt? Nun war er also schon ein aggressiver Psychopath. Klasse!
Andererseits war das der perfekte Moment um einen Augenblick allein zu sein. Er war seit... fünf Jahren nicht mehr allein durch eine Stadt gelaufen...
Verwirrt fuhr er sich durch die braunen Locken und riss sich das Mikrofon vom Kopf.
Das alles musste sowieso ein Traum sein. Denn ansonsten wäre er ein Fall für die Klapsmühle. Und die andere mögliche Erklärung, die Sache mit dem Weltuntergang und grünen Männchen, die auf der Erde landen, schien ihm doch etwas zu abgedreht. Also war das ein Traum!
»Nur ein Traum, nur ein Traum, nur ein Traum!«, sagte er immer und immer wieder, bis er es beinahe glaubte. Er schob allen Zweifel beiseite. Wieso sollte er diesen Traum nicht geniessen? Normalerweise träumte er nie und wenn waren es Albträume, beherrscht von Wut und Dunkelheit.
Er wirbelte herum, schnappte sich seine Gitarre und hängte sie sich über die Schulter. Dann stob er von der Bühne, rannte durch den Backstagebereich, vorbei an Tonmännern, Frauen mit Headsets auf dem Kopf, vorbei an Reportern, Fotografen und... Bluthunden... Bluthunde... Hunde! Sie waren überall! Sie kamen zu ihm, ernannten sich selbst zu seinen Freunden, schleimten sich bei ihm ein und versprachen ihm die ganze Welt. Dabei gierten sie nach seinem Blut. Würde er einem von ihnen sein Vertrauen schenken, würden sie sich auf ihn stürzen und ihn in der Luft zerreissen.
»Bescheuerte Arschkriecher!«, murmelte er und betrachtete die zur Salzsäule erstarrten Anzugträger. Einer der Bluthunde war mitten in einem Gespräch vertieft gewesen, als er erstarrt war. Er hielt sich das Handy ans Ohr und starrte in seinen vollen Kaffeebecher. Theodor konnte sich diese Gelegenheit nicht entgehen lassen! Er schnappte sich den Kaffee und lehrte den Becher über seinem ehemaligen Besitzer aus. Zwar war das Getränk nicht mehr heiss, aber unangenehm musste sich das garantiert trotzdem anfühlen...
»Oi! Wohl bekomms!», lachte er, als die braune Flüssigkeit sich in den teuren Hugo Boss Anzug sog.
Apropos Klamotten... Er musste dringend sein oberpeinliches Outfit ändern. Unten trug er eine einigermassen normale Jeans, abgesehen von vielen Nieten und Taschen. Und oben... Nichts.
»Aber Mr. Stark, die Mädchen werden auf Sie fliegen! Ausserdem wird das ganz wunderbar auf den Titelblättern der Zeitungen aussehen!«
Blöde Stilisten. Selten durfte er sich so anziehen, wie er es wollte...
Er rannte weiter durch die Gänge des Stadions, durch die sonst die Sportler stampften. Sein Ziel waren die Garderoben. Er riss die Tür auf, krallte sich das Nächstbeste, was er finden konnte. Nun, irgendeiner der Tänzer oder Backroundsänger würde wohl heute Abend wohl oben-ohne nach Hause gehen müssen. Die Gitarre liess er auch dort zurück. Er wirbelte herum und war schon wieder aus der Tür. Noch während er rannte streifte er sich sein Diebesgut - Ein weisser Pullover mit roten Ärmeln auf dem ein rotes Ahornblatt prangte. Kanada?!
»Ach, scheiss drauf!«, murmelte er. Es war sowieso nur ein Traum. Ein verdammt toller Traum! Hoffentlich würde es noch eine Weile dauern, bis sein bescheuerter Wecker ihn aus dem Bett werfen würde. Am liebsten würde er gar nicht mehr aufwachen. Sein Leben war Scheisse! Er hatte die Lust daran verloren. Er konnte nicht einen Fuss vor die Haustür setzen, ohne dass er beinahe von einer Horde kreischender Mädchen überrannt wurde.
Er stiess eine neue Tür auf und im nächsten Moment klatschte ihm Londoner Regen ins Gesicht. Er grinste und trat auf die Strasse hinaus.

Uralte Fassung (1): Twos - Die Prophezeiung von Feuer und EisWhere stories live. Discover now