Kapitel 10 - Vom Märchen in rot

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Kapitel 10

Vom Märchen in rot


~Mile~

Es war kalt.
Sehr kalt.
Viel, viel zu kalt!
Der Frost kroch ihm durch Mark und Bein und schien ihn völlig zu lähmen. Die Kälte hatte sich in ihn hineingefressen, tief, schmerzhaft tief. Wie ein Virus breitete sie sich noch mehr aus, langsam, denn sie hatte Zeit, da er ihr sowieso schon gehörte. Sie hatte ihn fest in den eisigen Krallen und würde ihn nicht wieder loslassen.
Die Hitze in seinem Herzen war zu einer kläglichen Flamme in seiner Brust geschrumpft. Zuvor wie ein Inferno, ein Feuer, nun nur noch ein winziger Funke. Die Kälte war mächtiger als er...
Was war geschehen? Wo war er? Das Letzte, woran er sich erinnerte, war, dass sie gefallen waren... Lang und tief...
Mile stöhnte und öffnete die Augen.
Hier war es weiss. Der Schnee bedeckte alles. Hatte es geschneit? Wie lang war er bewusstlos gewesen? Und was war geschehen?
Irgendwie sah alles anders aus als zuvor. Die Bäume waren nicht so kahl und hoch, die Lichtung nicht so gross und der Boden nicht so eben gewesen.
Er setzte sich langsam und mühsam auf. Er zitterte am ganzen Körper. Wo zur Hölle war er? Über allem lag eine hohe Schicht Schnee. Der Himmel war grösstenteils grau. Die Sonne versank, goldorangenes Licht auf die Welt werfend, gerade hinter den Wipfeln riesiger Tannen und kahlen, traurigen Baumskeletten. Weiss, tot und kalt war es hier. Wo auch immer hier war. Der Wald von Wolfsbach hatte nicht so ausgesehen. Die Lichtung war hier grösser, der Schnee war hoch und die Kälte unerträglich.
Das war nicht Wolfsbach!
Mile blickte sich nach seiner Schwester um. Dabei entdeckte er hinter sich den gleichen Felsen, wie aus dem Wald durch den sie eben noch diesen Wolf verfolgt hatten. Dieser Felsen wirkte älter, denn Risse durchzogen das Gestein wie ein scharfkantiges Spinnennetz. War das bei dem Fels, durch dessen Höhlenöffnung sie gegangen waren, auch der Fall gewesen? Ach was! Ich muss mir den Kopf an der niedrigen Höhlendecke gestossen haben! Bestimmt war das der Wald Wolfbachs! Er hatte sicher nur geträumt!
Er wandte sich von dem Felsen ab und entdeckte endlich Sabrina. Ihm fiel ein Stein vom Herzen, als er sie sah. Sie lag etwa zwei Meter entfernt von ihm, noch immer bewusstlos... oder schlief sie etwa? Ihre Finger zuckten und ein so verträumtes Lächeln lag auf ihren Lippen. Sie seufzte zufrieden und kuschelte sich noch tiefer in den Schnee. Wie konnte sie nur so zufrieden aussehen? Konnte ihr diese Kälte gar nichts anhaben? Ihm hingegen würden gleich alle Gliedmassen abfrieren!
»Sabrina!«, rief er und zuckte erschrocken zusammen. Wie laut seine Stimme an diesem ansonsten so totenstillen Ort klang...
Seine Schwester reagierte nicht.
Mile fluchte. Hilfesuchend sah er sich um. Sinnlos, das wusste er, denn wer sollte sich irgendwo in einem Wald herumtreiben, um diese Zeit, bei dieser Temperatur, an diesem Ort?
So streifte sein Blick die kahlen Bäume, schneebedeckten Tannen und dann... etwas Rotes!
Etwa zehn Meter entfernt stand die Gestalt mit dem Wolf. Sein Herz machte einen Satz und schlug dann dreimal so schnell weiter. Mile erschauderte. Einerseits vor Kälte, andererseits  aufgrund der Tatsache, dass der Wolf genauso gross war, wie der Rote selbst.
Das Tier knurrte doch die rote Gestalt streichelte ihm beschwichtigend über die gigantische Schnauze.
Der Schrecken jagte ihm eine ordentliche Dosis Adrenalin ins Blut und liess ihn zurückweichen, obwohl er sich wie ein tiefgefrorenes Fischstäbchen fühlte und jede Bewegug ihn kostbare Energie kostete. Er krabbelte, so schnell es seine Tiefkühl-Gelenke zuliessen, zu seiner Schwester.
»Sabrina! Bitte steh auf!«, zischte er und rüttelte sie an der Schulter.
»Was'n los?«, fragte Sabrina schläfrig und schüttelte seine Hand ab.
»W-wir sind d-d-da! In der M-Märchenwelt!«, bibberte Mile aufgeregt, ohne die rote Gestalt aus den Augen zu lassen. Unter dem Umhang glitzerte etwas und er erkannte, dass sich dabei um ein Schwert handelte.
Ruckartig setzte Sabrina sich auf. »Echt? Wow!«, rief sie und stand sofort putzmunter auf. Sie strahlte. Die Kälte schien ihr regelrecht gut zu tun. Ihre eisblauen Augen leuchteten so intensiv wie noch nie und der Schnee auf ihren Kleidern und Haaren glitzerte wie Diamanten.
Ihr Blick fiel auf den Reiter und seinen Wolf.
»Was wollen die denn hier?«, fragte sie und sah ihren Bruder mit hochgezogenen Augenbrauen an. Sofort änderte sich ihr Gesichtsausdruck. »Himmel, Mile!« Sabrina fiel vor ihm auf die Knie. »Shit, Mile! Du hast ja schon ganz blaue Lippen!«, murmelte sie und legte ihre Hand auf seine Wange. Mile schrie auf.  Sie war kalt! Kälter als der Schnee um ihn herum. Kälter als alles, was er jemals gespürt hatte.
Sabrina wich zurück »Oh nein!«, hauchte sie, als ihr klar wurde, was das bedeutete. Sie konnte ihm nicht helfen! Sie war die Kälte höchst persönlich! Und Mile war die Hitze! Er war besonders anfällig für die kalte Temperatur hier.
Mile sass da, die Arme eng um die Brust geschlungen.
»Du... du musst die Hitze in dir heraufbeschwören! Mach ein Feuer oder so was!«, rief sie hoffnungsvoll.
»Ka... ka... kann nicht! Ist z... zu kalt!«, bibberte Mile.
Sabrina raufte sich die Haare. »Fuck.« Mit dem Anflug einer Panikattacke rief sie: »Ist hier jemand, der uns helfen kann? Hallo?« Ihr Blick fiel auf die Gestalt in Rot. »Hey du! Kannst du uns bitte helfen? Er erfriert! Ich kann ihm nicht helfen! Ich bin...«
»Wer seid ihr?«, rief die rote Gestalt über die Lichtung. Die Stimme war eigenartig hoch für einen Kerl. Mit wehendem Umhang kam der mystische Rote auf sie zu. Sabrina liess ihn herankommen, bis er vor ihr stand. . Der Wolf blieb, wo er war, liess die Gestalt nicht aus den Augen, als ob er sie beschützen wollte... Eigenartiges Tier....
»Wer seid ihr?«, wiederholte der Fremde.
»Ich bin Sabrina und das ist...«
Die Gestalt schüttelte den Kopf und unterbrach sie mit einer energischen Handbewegung. »Nein, ich meine: Wer seid ihr hier? In dieser Weilt. Kein Sterblicher überlebt die Reise durch ein Weltenportal. Alles Nichtmagische wird augenblicklich vom Strom der Zeit zerfetzt. Ihr könnt also kaum menschlich sein. Vielleicht sollte ich meine Frage anders stellen: Was seid ihr?«
Auf Miles Gesicht stahl sich ein kleines Lächeln. In dieser Welt, alles Nichtmagische, Strom der Zeit und nicht menschlich... Also war es tatsächlich war. Es gab sie also doch, die Märchenwelt...
»Ääähm... Ich kapier nicht ganz, was du meinst, aber bevor du jetzt anfängst, irgendwas zu erklären, könntest du erst Mile das Leben retten? Das ist der Typ, der gerade zittert vor dir um Schnee liegt«, murrte Sabrina ungeduldig.
Was sollte das? Sah dieser rote Freak denn nicht, dass er erfror?
»Bitte!«, flehte sie.
Mile sah zu dem Roten auf. Ein Gesicht konnte er nicht erkennen, da die Kapuze es verbarg.
Der Rote liess sich auf die Knie sinken. Eine weisse, zierliche Hand kam unter dem Umhang zum Vorschein und legte sich auf Miles Wange. Sie war warm... So warm! Am liebsten wäre er aufgestanden, sich auf die rote Gestalt geworfen und sich ganz fest an sie gedrückt.
»Er ist vollkommen unterkühlt!«, hauchte die Gestalt erschrocken.
»Kannst du ihm helfen?«, fragte Sabrina ängstlich.
Die Gestalt sagte nichts. Sie richtete sich auf und zog sich die Kapuze des Umhangs vom Kopf.
Mile traute seinen Augen kaum. Trotz der schrecklichen Kälte machte sich plötzlich ein wohlig warmes Gefühl in seiner Brust breit.
Vor ihm stand das schönste Mädchen, das er je gesehen hatte.
Sie hatte wallendes, schwarzes langes Haar. Ihre Augen waren blau. Nicht wie Sabrinas, die an kaltes Eis erinnerten. Nein, die Iris der Roten waren in ein warmes Blau getunkt. Ihre vollen, geschwungenen Lippen waren fast so rot, wie ihr Umhang.
Sie war sehr schlank und hatte lange Beine. Sie war grösser als Sabrina, aber noch immer etwa einen Kopf kleiner als er selbst.
Sie trug ein altmodisches, weisses Hemd, dessen Ärmeln mit Rüschen besetzt waren. Das Hemd hatte einen Kragen, den sie, wohl wegen dem kalten Wind, aufgestellt hatte, was sie jedoch noch geheimnisvoller erscheinen liess.
Ihre Beine steckten in einer schwarzen Lederhose. An einem Gürtel hingen einige Messer, Beutelchen und ein langes Schwert. An ihren Füssen trug sie braune Lederstiefel.
Und der rote Umhang.
Mile kannte dieses Mädchen.
Aus Büchern.
Aus Märchen...

Uralte Fassung (1): Twos - Die Prophezeiung von Feuer und EisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt