Kapitel 23 - Der Pirat und die Prinzessin

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Kapitel 23

Der Pirat und die Prinzessin


~Sabrina~

Nervös liess sie das silberne Schmuckstück von einer Hand in die andere gleiten. Die vielen kleinen, blauen Diamanten, die in das Drahtgeflecht aus Silber eingeflochten waren, klimperten leise. Dieses wertvolle Schmuckstück war das einzige, was sie ihr nicht abgenommen hatte. Nun ja, mit einem Diadem konnte man auch niemanden umbringen. Obwohl... Sie hätte es womöglich geschafft...
»Du besitzt einen Whisper?«, fragte Wendy, die neben ihr stand.
Sie standen draussen. Ausserhalb des Baumes, auf einem Ast. Nachdem sie Minutenlang Treppen hatten steigen müssen, waren sie nun an der frischen Luft. Wendy behauptete, das es unter dem Baum Höhlen gab. Vor langer Zeit musste hier ein Baumgnom Weibchen gelebt haben. Baumgnom Weibchen gruben oft Höhlen in die Erde, um dort ihre Eier auszubrüten. Nachdem die Jungen geschlüpft waren, starben die Mütter. Das letzte, was sie tun ist, sich aus ihren Höhlen zu schleppen und über der Erde zu sterben. Baumgnome sehen aus wie Bäume, nur mit Armen und Beinen. Doch wenn sie sterben, werden sie tatsächlich zu einem Baum. Das war auch die Geschichte, dieses Baumes. Die Geschichte eines früheren Baumgnom Weibchens.
»Einen Whisper? Meinst du das Diadem? Das hat früher meiner Mutter gehört. Jeremy Topper - der verrückte Hutmacher fand, es sollte mir gehören...«
Wendy sah sie traurig an.
»Tut mir Leid... Ich habe ganz vergessen, dass du auch ein Waisenkind bist. Aber was du da in der Hand hältst, ist nicht nur ein schönes Schmuckstück. Es ist ein Whisper. Vor vielen tausend Jahren, waren sie in dieser Welt gewöhnliche Alltagsgegenstände. Natürlich bestanden sie nicht aus Silber und Diamanten wie deiner. Meist waren sie aus einfachem Leder. Eine Elfe hat sie entdeckt... Die Traummagie. Sie schlummert in allen von uns, doch nur die wenigsten können sie ohne Hilfe nutzen. Selbst mit einem Whisper ist es nicht einfach...«, meinte Wendy. Sie starrte das Schmuckstück an und schien mehr mit sich selbst, als mit Sabrina zu reden.
»Wieso gibt es heute kaum noch welche und was machen... oder bewirken diese Whisper?«, fragte Sabrina und steckte sich das Diadem in die Haare.
»Niemand weiss es wirklich. Bei den einen geschah nichts. Andere schliefen einfach nur gut. Andere sahen Bilder. Bilder, die geschehen sind, Bilder, die gerade in diesem Moment geschahen und Bilder aus der Zukunft. Andere wiederum Träumten so intensiv, dass ihre Träume lebendig wurden. Manche verloren ihre Seelen in ihren eigenen Traumwelten. Bei wieder anderen fanden sich Objekte ihrer Träume plötzlich in der realen Welt wieder. Stell dir vor, du träumst von einem Fanjo, diesen bösartigen Drachen. Am nächsten Morgen wachst du auf und du findest dich in dessen mit Leichen gefüllten Magen...«
Sabrina runzelte die Stirn.
»Woher willst du das wissen?«
Wendy lächelte vielsagend.
»Mondkind. Du wirst sie mögen. Oder auch nicht. Sie ist deine Cousine. Sie ist ziemlich... eigen...«
Cousine? Bevor Sabrina überhaupt entscheiden konnte, mit welcher der tausend Fragen, die ihr auf der Zunge lagen erklang ein lautes, durchdringendes Krähen.
Sabrina drehte sich um.
Schatten. Mit glitzernden, schwarzen Knopfaugen und schimmernden, ebenso schwarzen Federn. Aber es waren nur sechs. Sechs Raben. Wo war der siebte?
Die Raben krächzten aufgeregt durcheinander und flatterten um sie herum. Dann landete einer nach dem anderen auf dem Ast. Es knirschte und knackte. Knochen verformten und die Haut der Vögel spannte sich. Die Federn fielen ihnen aus, während sie grösser und grösser wurden. Finger formten sich, Beine wuchsen und trugen die Körper in die Höhe. Aus Flügeln wurden Arme. Die faustgrossen Vögelköpfe schwollen an und wurden zwischen breiten Schultern von schlanken Hälsen hochgehoben. Die harten Schnäbel wurden zu weichem Fleisch und formten sich zu Nasen und Lippen. Die dunklen Knopfaugen Augen wurden gross und von dichten Wimpern umsäumt. Unter den ausfallenden Federn sprossen schwarze Haare. Sie wuchsen in Rekordgeschwindigkeit und sammelten sich über den Augen, auf den Köpfen und bei vieren der sechs unter dem Kinn und auf der Brust.
Die jungen Männer waren halb nackt und Sabrina dankte allen höheren Mächten, von denen sie je gehört hatte, für die Hosen, die die Brüder trugen. Weite Pluderhosen aus schwarz gefärbten Hanffasern. Die Gürtel bestanden aus spröden Seilen aus dem gleichen Material.
Alle sechs hatten dunkle, olivfarbene Haut, schwarze Augen und Haare. Und doch hatte jeder von ihnen seine unverwechselbare Eigenheit. Ein kleines Detail, das ihn von seinen Brüdern unterschied. So hatte einer von ihnen verschiedenfarbige Augen. Ein anderer trug einen auffälligen Ohrring. Ein dritter war tätowiert.
Die jungen Männer verbeugten sich vor ihr, was sie sich irgendwie ziemlich wichtig vorkommen, aber auch unwohl fühlen liess.
Einer der Rabenjungen trat vor. Er war der grösste und der älteste der jungen Männer. Er strahlte eine Autorität aus, die ein gewöhnlicher Mensch niemals in Frage stellen würde. Doch Sabrina war nicht normal. Sie wusste, wer er war, noch bevor er sich ihr vorstellte. »Eisprinzessin. Mein Name ist Nimmertiger Beltran. Ältester Sohn des verschollenen Sonnenkönigs. Deinem Onkel«, verkündete er mit dem Hauch eines etwas arroganten Lächelns.
Sonnenkönig? Na super! Noch ein beklopptes, abnormales Familienmitglied! Ein verschollener Onkel.
Wenn der auch noch hier irgendwo auftaucht und anfängt mit Feuerbällen um sich zu schmeissen, schreie ich, dachte Sabrina frustriert.
»Das sind meine fünf Brüder. Der sechste, Nebelfinger, der jüngste von uns, ist verletzt und wird sich zu einem späteren Zeitpunkt vorstellen. Entschuldigt den unwürdigen Empfang, der Euch zuteilwurde, doch den Jungs war ihr Handeln nicht bewusst. Ausserdem gab es keine andere Möglichkeit, eure Aufmerksamkeit zu erlangen«, erklärte Nimmertiger mit einer erstaunlich sanften Stimme. Sie hätte ein Rabenähnliches Krächzen erwartet.
»Ihr hättet doch fragen können! Stattdessen stopft man mir irgendwelche Kräuter in den Mund und schlägt meinen... Meine Freunde K.O. Doch, ich glaube, unsere Aufmerksamkeit hättet ihr anders erlangen können!«, zischte sie ihren Cousin an.
Nimmertiger und die anderen Rabenmänner lachten.
»Wie unsere Tante... Du hast das Temperament deiner Mutter. Aber ich muss widersprechen. Deine Freunde hätten uns niemals angehört. Wer würde sich schon mit den Verstossenen unterhalten wollen...«, lachte Nimmertiger und nahm sie am Arm, um sie zurück in den Baum zu führen.
»Verstossene? Wieso?«, fragte sie verwirrt.
Nimmertiger lachte nur traurig.
»Ich weiss, das ist nun etwas viel auf einmal. Am besten besprechen wir das drinnen. Und danach wirst du sicherlich deine Freunde wiedersehen wollen. Und ausserdem will ich dir meinen jüngsten Bruder Nebelfinger und meine Schwester Mondkind vorstellen. Sie erwartet dich schon voller Ungeduld...«

Uralte Fassung (1): Twos - Die Prophezeiung von Feuer und EisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt