Kapitel 60 - Schattenlicht und Bernsteingold

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Kapitel 60

Schattenlicht und Bernsteingold


~Theodor~

Es war für ihn zur Gewohnheit geworden, jeden Tag unter Schmerzen aufzuwachen. Meist waren es auch eben diese Qualen, die ihn weckten.
So auch an diesem Morgen.
Sein Herz pochte und mit jedem Schlag fuhr ein dumpfer Schmerz durch seinen ganzen Körper.
Theodor blieb einfach stumm liegen, Augen und Lippen fest zusammengepresst. Er erlaubte sich nicht, zu schreien, denn das wäre einer Kapitulation gleichzusetzen. Als würde er sich dem Schmerz unterwerfen, ihn gewinnen lassen. Doch das würde er nicht! So wollte er nicht abtreten.
Wie der Schmerz begonnen hatte, ebbte er auch wieder ab. Quälend langsam, aber er ging.
Als er die Tortur hinter sich hatte, wartete er geschätzte fünf Minuten, bis er sich traute, die Augen zu öffnen. Sofort schloss er sie wieder, denn das Licht des Tages blendete ihn.
»Gut geschlafen, Vollidiot?«, begrüsste ihn eine bekannte Stimme.
Hektisch blinzelnd hielt er nach der Sprecherin Ausschau und entdeckte sie schliesslich ihm gegenüber, so tuend, als lehne sie gegen die Wand.
»Abby? Was machst du denn hier?«, fragte er das Geistermädchen und richtete sich auf. Er hatte auf den harten, morschen Holzdielen der abgebrannten Hütte geschlafen, was sich nun bemerkbar machte. Sein Rücken schmerzte. Natürlich nicht so sehr wie sein Herz, doch trotzdem war es ziemlich unangenehm. Also streckte er sich.
Mitten in der Bewegung schoss ihm auf einmal die Erinnerung, wie Abby, als er mit Bonnie auf der Flucht gewesen war, plötzlich in einem der Felder aufgetaucht war, ihn angeschrien und wie er dann... mit dem Tod Bekanntschaft gemacht hatte...
Die Erinnerung an die Schmerzen liess ihn zusammenzucken und er wich vor dem Geistermädchen zurück, bis er mit dem Rücken an die Wand hinter ihm stiess.
»Wieso hast du das getan?«, fragte er Abby gepresst. Sein Herz pochte wild. Er hatte Angst. Angst, erneut vor Gevatter Tod treten zu müssen. Ob es ihm gelingen würde, auch dieses Mal zu fliehen? Vermutlich nicht. Um genau zu sein, hatte ihn Bonnie das letzte Mal gerettet. Ohne sie wäre er jetzt tot...
Bonnie Cassedy...
Theodors Blick huschte suchend durch den Raum. Es war ein beengtes Zimmer. Das einzige in der verkohlten Hütte, in dem das Dach noch einigermassen in Takt und keine Wand eingerissen war. Ansonsten stand der Raum leer. Nur schwarze Dielen. Sonst nichts. Auch von Bonnie keine Spur. Keine Karamellhaut, kein dunkles Wellenhaar, keine schokoladenbraunen Augen... Wo war Bonnie? Wo war seine Retterin?
Schnell wandte er sich wieder Abby zu. Wieso war sie hier? Würde sie ihm erneut etwas antun? Aus Rache, weil er sie umgebracht hatte?
Abby beobachtete ihn Stirnrunzelnd. »Was getan?«, fragte sie und legte den Kopf schief.
Hier, in diesem Raum, der komplett von Russ geschwärzt war, wirkte sie mehr denn je wie ein Geist. So bleich... So tot...
»Auf dem Feld... Du bist in diesem Feld gestanden. Du hast geschrien und dann... dann war ich tot...« Die Letzten Worte waren nicht mehr als ein Flüstern. Die Furcht schnürte ihm die Kehle zu.
Er hatte Angst vor dem Tod. Schreckliche Angst. Er wollte nicht sterben. Er musste dem Tod entkommen! Doch wie entkam man dem Tod, der doch ein Teil von einem war?
Abby löste sich von der Wand und wollte einen Schritt auf ihn zu machen, doch er keuchte auf, riss die Hände abwehrend in die Höhe und wimmerte: »Bitte! Bitte! Tu es nicht!«
Das Geistermädchen blieb stehen. Langsam ging sie auf die Knie und hob beide Arme. »Okay... Theodor, was auch immer du dir eingeworfen hast, es scheint dir echt aufs Hirn zu drücken!«, murmelte sie auf ihre typische Abby Art und lächelte beschwichtigend. War das Sorge in ihren Augen?
»Ich hab mir gar nichts eingeworfen! Das ist mein Ernst! Abby, es tut mir leid, dass ich dich umgebracht habe. Es war ein Unfall, ehrlich«, wimmerte er und zog die Knie an.
Abby runzelte die Stirn. Verdutzt antwortete sie: »Okay, du Idiot. Ich bin zwar noch immer ziemlich sauer, dass du mich gekillt hast, aber... jep, danke für die Entschuldigung. Das macht es zwar nicht wirklich besser, aber wenigstens hast du dich entschuldigt. Das hätte ich dir ehrlichgesagt nicht zugetraut.« Sie machte eine Pause und sah ihn schief an. Als würde ihr etwas klar werden. »Du hast Angst vor mir?«, fragte sie lauernd.
Theodor antwortete nicht. In seinem Geist spukte noch immer das Echo der Erinnerungen an seine letzten Nahtoderfahrungen.
»Du bist so ein Blödmann! Du hast dich doch gerade nur entschuldigt, weil du Angst vor mir hast!«, zischte sie und krabbelte auf ihn zu. Er kauerte sich zusammen. Abby boxte ihm ohne Mitleid in den Oberarm.
»B-bitte töte mich nicht!«, bettelte Theodor flehend und versuchte Abbys Schlägen auszuweichen, was jedoch zwecklos war.
Abbys Schläge!
Der Schreck liess Adrenalin durch seine Adern schiessen und weckte seinen Verstand aus seinem Supf aus Angst. Er rollte sich unter dem Geistermädchen weg und stolperte auf die andere Seite des Raumes zu. Dort bückte er sich und riss eine morsche Diele aus dem Fussboden. Diese hielt er wie eine Lanze von sich weg, die Spitze auf Abby gerichtet. Seine Stimme überschlug sich, als er stammelte: »Abby! Deine... deine Schläge...«
»Meine Schläge?«, unterbrach sie ihn. »Ich hoffe, die haben wehgetan! Du bist echt ein riesen Heuchler!«
Theodor nickte und erklärte aufgeregt: »Genau das ist es ja! Abby, es hat weh getan!«
»Gut!«
»Nein, nicht gut! Ich habe es gespürt! Ich habe dich gespürt.« Die Holzdiele glitt ihm aus den Händen. Er hatte gar nicht bemerkt, dass er zu zittern begonnen hatte.
»Na und?«, fragte Abby, die sich nun ebenfalls aufrappelte und die Hände in die Seiten stemmte.
»Du... du bist ein Geist!«, erklärte Theodor mit bebender Stimme. »Geister können keine Menschen berühren! Du konntest mich früher nicht anfassen, aber jetzt schon. Wieso?«
Sie zuckte mit den Schultern und schlug vor: »Vielleicht bin ich ja gar nicht so tot. Vielleicht werde ich ja wieder lebendig!« Ein Lächeln breitete sich auf dem bleichen Geistergesicht des Mädchens aus.
Theodor wurde schlecht. Er lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. »Das glaube ich nicht«, flüsterte er.
Abby stöhnte, kam auf ihn zu und tippte ihm mit dem Zeigefinger gegen die Brust. »Du«, zischte sie, »bist echt ein riesen Miesepeter! Musst du mir meine Hoffnungen versauen?« Frustriert wirbelte sie herum und knurrte: »Aber wenn ich nicht wieder lebendig werde, was ist dann mit meiner... antimateriellen Geistermembran... los?«
Theodors Zittern breitete sich auf den Rest seines Körpers aus. Langsam sank er zu Boden. Wieder trübte die nackte Panik seine Sinne. Auf einmal ging sein Atem schneller. Zu schnell. Er glaubte, seine Lungen würden jeden Moment platzen, doch gleichzeitig bekam er auch nicht mehr genügend Luft!
»Beruhig dich, Junge. Du hyperventilierst! Alter, du sollst dich beruhigen!«, rief Abby und kniete sich neben ihn. Vorsichtig streckte sie ihre Hand nach ihm aus und strich ihm langsam übers Haar. Und obwohl es Theodor eine Heidenangst einjagte, dass das Geistermädchen ihn anfassen konnte, so hatten Abbys Berührungen doch etwas Beruhigendes und tatsächlich vertrieben sie die Angst ein Stück. Vorsichtig hakte sie erneut nach: »Theoleinchen, was ist los? Was macht dir Angst?«
Er atmete tief ein und flüsterte: »Es liegt nicht an dir, Abby. Dass du mich berühren kannst, das liegt nicht an dir. Du wirst nicht wieder lebendig, so Leid mir das tut. Ich bin es. Ich sterbe. Ich bin dem Tod nun schon so nahe, dass du mich berühren kannst. Ich bin mehr tot als lebendig.«
Abby runzelte die Stirn und sagte nichts. Keine tröstenden Worte, keine Beschwichtigungen. Theodor nahm ihr das nicht übel. Mal davon abgesehen, dass sie ihn eigentlich bis aufs Blut hassen müsste, denn schliesslich hatte er sie umgebracht, würde er in so einem Moment selbst nicht wissen, was er sagen sollte.
Ich bin mehr tot als lebendig.
Seine eigenen Worte hallten in ihm wie ein Echo wieder. Ein grausiges Echo, das ihm den Tod versprach. Den Tod, der bald kommen würde. Der Tod, der sich bereits in sein Fleisch gekrallt hatte und ihn ganz sicher nicht wieder loslassen würde.
Irgendwann stand Abby auf, ging um ihn herum und setzte sich neben ihn. Vorsichtig fragte sie: »Was meintest du eigentlich vorher. Die Geschichte mit mir als mörderischen Killergeist, der in irgendeinem Feld steht, wie am Spiess schreit und dich dann irgendwie umbringt. Was hat es damit auf sich?«
Prüfend musterte er sie. »Wieso fragst du? Du warst doch dabei!«, zischte er misstrauisch.
»Falls du Volltrottel es immer noch nicht mitgekriegt hast: Ich hab keinen Plan, was da abgegangen ist. Ich war das nicht. Ich habe dich nicht umgebracht, auch wenn du es verdient hättest!«
Theodor wusste nicht, was er davon halten sollte. Okay, zwar machte Abby jetzt nicht wirklich den Eindruck, als wäre sie drauf und dran ihn jeden Moment anzuschreien und ihn somit irgendwie umzubringen... Irgendwie... Irgendwie halt...
Auf einmal wirten seine Anschuldigungen, Abby hätte ihn umgebracht, etwas... weit hergeholt. Abby war schreiend in einem Kornfeld gestanden. Dann war er zusammengebrochen. Er war dem Tod begegnet.
Alles war so... unrealistisch! Wie ein schlechter Film. Wie ein misslungener Roman. Nichts schien Sinn zu ergeben. Alles war so willkürlich. Zu viele Zufälle, zu viel verrücktes Zeug, zu viel... Unmögliches.
Zeitstillstände, Geister, sprechende Vögel, übernatürliche Kräfte, kranke Herzen, schicksalhafte Wiedersehen, Nahtoderfahrungen... Unwirklich. Nicht der Realität entsprechend. Was sollte all das? Was ging hier eigentlich vor?
Und doch, trotz all der Unmöglichkeiten, trotz der Unwirklichkeit, trotz des Wahnsinns... Er glaubte alles. Jedes Detail. Jeden Moment. Jedes all dieser Wunder und jede all dieser Plagen.
Er glaubte sie alle. Er war an einem Punkt angelangt, an dem er nicht mehr zurückkonnte, wo er festhing, wo es einfach keinen Sinn machte, sich gegen Wunder zu wehren. Sie waren nun einmal geschehen, was konnte er dagegen ausrichten?
Und das war auch der Grund, wieso Theodor wusste, dass sein „Beinahe-Tod" kein Zufall gewesen war. Abby hatte etwas damit zu tun. Sie hatte geschrien und dann war er zusammengebrochen. Er war gestorben. Sterben. Der Übergang vom Leben in den Tod. Doch er war nicht tot. Bonnie hatte ihn gerettet.
Abby hatte etwas mit seinem Tod zu tun. Das stand fest.
»Okay...«, brummte Theodor nachdenklich. Vorsichtig fragte er: »Du hast also wirklich keine Ahnung, was geschehen ist?«
Abby stöhnte laut und überzogen theatralisch auf. Sie erhob sich, warf ihr Haar zurück und tänzelte mit wackelndem Hinterteil in die Mitte des Raumes. Von dort aus hatte sie genügend Platz für ihren Gefühlsausbruch, der sich mit weiten Gesten wie Lufthieben und herumpeitschendem Haar äusserte. »Du Hohlkopf! Nein, ich habe keine Ahnung, von was du die ganze Zeit laberst! Alter, ja, ist scheisse, wenn man stirbt. Ob du's glaubst oder nicht, I know that feeling, bro! Und stell dir mal vor, wieso das so ist.«
»Abby, ich...«
»Oi! Wage es nicht, mich zu unterbrechen! Eigentlich wollte ich heute nett zu dir sein, weil du echt scheisse aussiehst und ich Mitleid mit dir habe... hatte! Dann komm ich und du pflaumst mich an, ich hätte dich umgebracht! Süsser, du gehst mir echt auf die Nerven!« Mittlerweile brüllte Abby völlig ungehalten rum. Ihre Geisterhände fuchtelten umher wie bleiche Propeller. Sie war völlig ausser sich. Was war denn mit der los? Okay, sie war tot, aber das schien sie zuvor auch nicht sonderlich aufgeregt zu haben...
Erneut versuchte Theodor, das Geistermädchen zu beruhigen: »Ich wollte nicht...«
Natürlich dachte Abby nicht im Traum daran, sich beruhigen zu lassen und sie keifte: »Schnauzte! Jetzt hörst du mir mal zu! Ich finde es echt total zum Kotzen, wie ich von dir behandelt werde! Ich habe gerade den schlimmsten Tag meines Lebens hinter mir, okay? Echt! Richtig scheisse geht's mir! Nur leider habe ich niemanden, bei dem ich mich ausheulen kann. Weisst du wieso? Weil ich tot bin, verdammte Kacke! Also bin ich bei dir vorbeigekommen, weil du, Arschloch, die einzige Person auf diesem Planeten ist, die mich überhaupt wahrnehmen kann! Bonusfrage: Weisst du, wieso das so ist? Weil. Ich. Tot. Bin! Tja, aber was passiert? Ich werde wegen versuchtem Mord verhört! Und wieso? Weil ich geschrien habe. Aber das ist der totale Bullshit! Ich glaube, ich hatte erwähnt, wieso: Ich hatte gestern den schlimmsten Tag meines Lebens!« Ihre Rede beendete sie, indem sie ihre Wut, so laut sie konnte, herausschrie. Schliesslich kippte sie vorwärts, landete auf den Knien und rollte sich zusammen. Da lag sie dann. Zitternd und bebend und völlig aufgelöst.
Theodor starrte sie an. Erst jetzt begann ihm klar zu werden, wieso Abby gerade so ausgeflippt war. Irgendetwas hatte ihr gestern die Augen geöffnet. Sie musste irgendetwas erlebt haben, wodurch ihr war klargeworden war, dass sie tot war. Sie hatte ihren eigenen Tod verstanden. Jetzt war ihr bewusst, dass sie nicht mehr lebte. Sie würde nie wieder ihre Familie und ihre Freunde umarmen können. Abby war tot und jetzt war es ihr bewusst...
Und auf einmal hatte Theodor keine Angst mehr vor dem Geistermädchen. Misstrauen war Mitleid gewichen. Und Schuld. Er war schuld. Er hatte Abby getötet.
Theodor konnte nicht anders – er musste wenigstens versuchen, Abby zu trösten. Auf allen vieren kroch er auf den zusammengekrümmten Geist zu. Er zog sie an den Schultern hoch wie ein kleines Kind, dann umschlang er sie mit seinen Armen und hielt sie fest. Abby liess ihn gewähren. Eine Weile sassen sie schweigend da, bis Abby irgendwann erneut das Wort ergriff: »Hast du es bemerkt?« Ihre Stimme war ruhig und gefasst. Sie schrie nicht. Sie sprach ganz leise.
»Was denn?«, fragte Theodor, der genauso ruhig und gefasst war.
Abby schlüpfte unter seinen Armen durch und legte sich auf den Rücken, den Blick auf die russige, undichte Decke geheftet. Sie lächelte schmerzlich und antwortete: »Ich weine nicht, Theoleinchen. Ich kann es nicht mehr. Anscheinend weinen die Toten nicht. Die Toten weinen nicht. Ich weine nicht.«
Theodor schluckte. Um Abbys traurigen, leidenden Augen zu entkommen legte auch er sich auf den Boden. Vorsichtig fragte er: »Was hast du erlebt? Gestern.«
Abby schwieg.
»Du musst es mir nicht erzählen. Aber vielleicht willst du mit jemandem reden. Ich höre dir zu!«
Nun zischte sie abfällig durch die Zähne und knurrte: »Als hättest du eine Wahl. Ich suche dich heim, Süsser. Ausserdem bist du der einzige auf dieser ganzen scheiss Welt, der mich hören kann.«
»Eben«, erwiderte er und wartete auf Abbys Geschichte.
Das Geistermädchen liess sich Zeit und Theodor liess sie ihr. Er starrte stur die Decke über ihm an. Verkohlte Balken, die das Wellenblechdach trugen. Nicht besonders spannend, aber das war in diesem Moment egal. Er war es Abby schuldig, dass er für sie da war. Er hatte sie umgebracht. Er hatte ihr ihr Leben genommen. Ihre Zukunft, ihre Wünsche, ihre Hoffnungen...
Endlich räusperte sie sich und begann von ihrem schlimmsten aller Tage zu erzählen: »Nachdem du, Romeo, mit deiner Julia durchgebrannt bist, bin ich noch eine Weile geblieben. Ich habe mir die Aufführung angesehen. War echt witzig, wie das ganze Zirkusteam total abgekratzt ist, als rauskam, dass deine Bonnie die Fliege gemacht hat. Jedenfalls hat die Vorstellung eher schlecht als recht geendet und alle sind nach Hause gegangen. Nur der Zirkus hat 'ne Suchaktion gestartet. Die Bullen ham'se natürlich auch noch gerufen. Ich hab da irgendwie grad nicht so Bock gehabt, eure Zweisamkeit zu stören. Ich hab also kurz aufgegeben, dich heimzusuchen, Süsser. Ausserdem hatte ich Angst, ich würde euch beide in irgendeinem Gebüsch erwischen, wie ihr euch beide...«
Okay, Theodor konnte nun doch nicht anders, er musste sie unterbrechen: »Jetzt hör doch auf! So war das doch gar nicht! Kein Gebüsch und wir haben ganz sicher nicht...«
»Was bist du doch spiessig, Theoleinchen!«, kicherte Abby, doch ihr Lachen war trüb. Es wirkte nicht echt. Sie war zu bedrückt, um Witze zu machen. Schnell wurde sie wieder ernst und fuhr fort: »Ich habe dann beschlossen, mal bei mir zu Hause vorbeizuschauen. So als Geist ist das Reisen echt einfach. Ich muss nur an einen Ort denken, wo ich schon mal war und schwuppdiwupp bin ich dort. Eigentlich ganz praktisch. Jedenfalls bin ich nach Hause...« Ihre Stimme wurde etwas zittrig, doch sie versuchte es zu überspielen, indem sie sich räusperte. »Dad war zu Hause. Er war betrunken.« Wieder räusperte sie sich. »Er... er hat mich nicht gesehen. Er sass auf dem Boden im Wohnzimmer. Um ihn herum lagen Fotos verteilt. Fotos von mir, von uns beiden und... mit Mom...«
In Theodors Hals bildete sich ein Kloss. Er biss sich auf die Innenseite seiner Wange und hörte auch nicht auf, als er Blut schmeckte. Mit aller Macht konzentrierte er sich auf seine Schmerzen, um die Tränen zurückzudrängen. Er wollte nicht weinen. Irgendwie... durfte er das nicht. Er war schuld an Abbys Tod. Er hatte nicht das Recht zu weinen!
»Dad war total besoffen. Und er hat geheult. Schliesslich hat er gekotzt. Über die Fotos...« Abbys Stimme brach. Tapfer versuchte sie, sich zusammenzureissen. Rasselnd atmete sie ein und aus. »Irgendwann gegen vier Uhr ist er auf dem Boden eingepennt. In seinem eigenen Erbrochenen.«
Theodor kniff die Augen zu. Er biss die Zähne zusammen. Wie gern würde er schreien. Das ganze Leid, die Panik, den Frust, die Angst, die Wut, den Schmerz aus sich herausschreien! Doch er durfte nicht. Bonnie würde ihn hören und sicher nachsehen, was mit ihm los war, doch dieser Moment gehörte Abby. Abby, der er so viel schuldete...
»Ich habe mit Dad geredet. Die ganze Zeit. Ich habe ihn angeschrien und... und versucht ihn zu berühren, aber er hat nicht reagiert. Er hat mich nicht gesehen, nicht gehört... Er kann mich nicht mehr wahrnehmen. Als er eingeschlafen ist, bin ich gegangen. Ich bin raus auf die Strasse. Das ganze Motel war abgeriegelt. Polizei und so. Mein Körper war schon weg. Die hatten ihn schon weggebracht. Ich habe versucht, zu ihm zu reisen, aber es ging nicht. Es geht nicht. Ich kann mich so fest auf ihn konzentrieren, wie ich will, aber es geht nicht... Ich bin tot.«
Gern hätte Theodor ihr gesagt, wie leid ihm alles tat. Dass es keine Absicht gewesen war. Dass er es so sehr bereute, sie umgerannt zu haben... Doch was hätte das gebracht? Was hätte es Abby genützt. Sie war tot. Er hatte ihr alles geraubt, was ihr etwas bedeutet hatte. Abby hatte nun niemanden mehr. Sie war völlig alleine. Der einzige, der sie überhaupt wahrnehmen konnte, war er. Er. Ihr Mörder.
Da Abby noch immer versuchte, ihre Trauer zu verstecken, beschloss Theodor, ganz normal mit ihr zu reden. So gut das halt ging... Natürlich war es lächerlich, wie er sich bemühte, nicht bedrückt zu klingen, doch auch Abby liess sich nichts anmerken, als Theodor fragte: »Was hast du dann gemacht?«
Sie gab ihm keine Antwort. Sie schwieg.
»Abby?«, brummte er nach einer Weile und drehte den Kopf zu dem Geistermädchen.
Abby starrte noch immer starr die Decke an. Sie hatte die Stirn gerunzelt, die Lippen aufeinandergepresst und die Nase kraus gezogen. Ruckartig setzte sie sich auf.
Alarmiert stemmte auch er sich hoch. Irgendetwas stimmte nicht.
Abbys Blick zuckte wild hin und her. Beinahe konnte man die Zahnräder in ihrem Kopf rattern hören.
»Abby?«, hakte Theodor erneut nach. Er war beunruhigt...
»Romeo und Julia sind gegen halb neun durchgebrannt... Die Vorstellung ging dann noch bis um zehn. Um halb elf bin ich nach Hause. Dad ist gegen vier weggeratzt. Um fünf habe ich aufgegeben, meinen Körper zu finden. Und dann...« Abby stockte. Sie schüttelte den Kopf und wiederholte: »Romeo, Julia. Vorstellungsende. Heim. Dad. Ich suche und... Scheisse!«
Wie ein aufgeschrecktes Reh riss sie den Kopf hoch und richtete ihren Blick auf ihn. Verwirrung und Angst waren in ihrer Mimik zu lesen. Irgendetwas stimmte nicht...
»Was? Was ist?«, zischte Theodor gehetzt.
»Blackout!«, sagte Abby nüchtern. »Totaler Blackout.«
»Wie meinst du das?«
»Blackout. Schwarzes Loch. Alles weg!«
»Was weg?«
»Die Erinnerungen!«, fauchte Abby. Nervös begann sie auf ihrer Unterlippe herum zu kauen. Wieder huschte ihr Blick hektisch hin und her.
»Okay... Du... du hattest also einen Blackout? Was sind denn die letzten Erinnerungen, die du hast? Und wann hört der Blackout auf?«, versuchte Theodor dem Geistermädchen auf die Sprünge zu helfen.
»Okay... Das Letzte, woran ich mich erinnern kann, ist... Ja, genau... Ich...ich stand vor dem Motel. Auf dem Parkplatz. Ich habe versucht, mich zu meinem Körper zu geistern. Und plötzlich ist alles weg.«
»Von einem Moment auf den anderen?«
»Total.«
Theodor runzelte die Stirn. War das bei Geistern normal? Oder war Abbys Blackout nur ein weiteres Mysterium, das er auf seine Liste der unrealistischen Unmöglichkeiten setzen konnte? Hoffnungsfroh fragte er: »Ab wann bist du wieder klar?«
Abby legte den Kopf schief und überlegte. Schliesslich murmelte sie: »Keine Ahnung. Es ist irgendwie verschwommen... Ich glaube, es war hier. Ja, hier. In dieser Hütte!«
»Moment... Dann hast du ja den ganzen letzten Tag vergessen!«, stellte er fest. Ein ungutes Gefühl machte sich in ihm breit. »Wenn du dich nicht erinnerst, was gestern geschehen ist«, begann er vorsichtig, »dann hast du vielleicht auch vergessen, wie du mich...«
»Echt jetzt?! Wie soll ich dich bitte umgebracht haben? Ach, nebenbei bemerkt: Süsser, du lebst noch! Auch wenn du es nicht verdient hast!«, unterbrach Abby ihn patzig.
»Vielleicht lässt du mich mal die ganze Geschichte erzählen«, schlug er vor. »Danach kannst du dich weiter über mich aufregen.«
Abby murrte ein schlecht gelauntes »Von mir aus!«, schlug die Beine übereinander, verschränkte die Arme vor der Brust und sah ihn auffordernd an. Also begann Theodor zu erzählen. Wie sie die Pferde geklaut, die ganze Nacht geritten, dann zu Fuss weiter und schliesslich die verkohlte Hütte im Wald entdeckt hatten. Besonders ausführlich schilderte er natürlich seine mysteriöse Begegnung mit... mit ihr? Abby? Oder auch nicht?
Abby liess ihn erzählen. Zwar blickte sie latent grimmig drein, unterbrach ihn dafür nicht. Erst als er geendet hatte, gab sie ihren Senf dazu: »Bullshit!«
Er seufzte und widersprach: »Nein, ist es nicht. Es ist die Wahrheit!«
Abby schüttelte den Kopf. »Erstens: Bullshit. Zweitens: Bullshit. Drittens: Bullshit!«
»Warum denn?«
Sie verdrehte die Augen. »Weil das total bescheuert ist. Du behauptest, ich wäre einfach so aus dem nichts aufgetaucht und hätte zu schreien begonnen, woraufhin du krepiert bist. Und du bist dem Tod begegnet. Und Achtung: Der Tod ist gleichzeitig Baum, Fuchs und Gruseltyp. Das ist doch der reinste Bullshit!«
»Bonnie ist meine Zeugin!«, versuchte Theodor es erneut.
»Dann hat sie mich auch gesehen?«
»Sie... sie... Nein«, gab er niedergeschlagen zu.
»Und den Tod hat sie auch gesehen, als sie als leuchtendes, goldenes Etwas in dein Nichts eingedrungen ist, um dir deinen Arsch zu retten?«
»N-nein. Aber sie hat...«
»Siehst du? Bullshit!«, rief sie und grinste siegessicher.
Nun war Theodor verärgert. Abby machte sich über ihn lustig! Er hasste es, wenn man sich über ihn lustig machte. Also fauchte er: »Das ist kein Bullshit! Das ist mein verdammter Ernst! Du, Geist, hattest einen Blackout, der den ganzen gestrigen Tag angedauert hat. Ebenfalls gestern bin ich beinahe draufgegangen und weisst du, wieso? Weil du mich irgendwie umgebracht hast. Und zwar in der Zeit, in der du deinen Blackout hattest!«
Abby liess sich nicht einschüchtern. Sie gab wehrte sich lautstark: »So ein Unfug! Wie zum Teufel hätte ich dich bitte umbringen können?! Ich habe dich ja nicht einmal berührt!«
Er schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Ahnung, wie. Trotzdem bin ich mir sicher. Abby, ich glaube nicht mehr an Zufälle! Es ist zu viel geschehen. Zu viel Unrealistisches. Zu viel Unmögliches! Der Zufall ist ein Luxus geworden, den ich mir nicht mehr leisten kann. Mein Leben ist zu kurz für Zufälle.«
Abby klappte den Mund auf und wieder zu. Schliesslich gab sie zu: »Okay. Ja, in Ordnung, das ist ein Argument. Es sind tatsächlich zu viele Zufälle. Ausserdem bin ich ein Geist. Wir sollten endlich aufhören, das Unmögliche als unmöglich zu bezeichnen.«
»Also doch kein Bullshit?«
Abby wog den Kopf hin und her. »Vielleicht nur noch ein kleines bisschen Bullshit.«
»Aber was hat das zu bedeuten? Wie hängt dein Blackout mit meinem Beinahe-Tod zusammen?«, grübelte Theodor.
»Und wieso habe ich Blackouts? Und wie habe ich es hingekriegt, dich umzubringen? Kann ich das wiederholen?«
»Untersteh dich!«
»Rache ist süss!«, kicherte Abby. »Wo wir gerade bei süss sind. Wie geht's deiner Süssen, Süsser? Hätte die denn nicht schon längst hier auftauchen müssen, um nachzusehen, was hier für ein Geschrei ist?«
Theodor war drauf und dran, Abby die Zunge rauszustrecken, doch er konnte sich früh genug davon abhalten. Stattdessen antwortete er nüchtern: »Bonnie ist eine Freundin. Und um ehrlich zu sein: Ich weiss nicht, wie es ihr gerade geht. Ausserdem warst du die einzige hier, die rumgeschrien hat. Ich nicht. Und da sie dich nicht hören kann...«
Das Geistermädchen stöhnte theatralisch auf. »Hör mal, mein Hübscher. Dieses Mädchen hat dir schon zweimal das Leben gerettet. Ausserdem ist die Kleine echt rattenscharf! Ich habe sie zwar erst einmal gesehen, im Zirkus mit dem Wahnsinns Fummel, den sie da getragen hat... Du musst dich doch für sie interessieren! Ich meine... du bist ein Kerl. Das ist bei euch doch einprogrammiert!«
»Ich hab's nicht so mit der Romantik...«
»Wer redet denn von Romantik?«, säuselte Abby mit einem anzüglichen Lächeln auf den Lippen.
»Sehr witzig.«
»Du hast's echt nicht so mit der Liebe, nicht?«
»Was weiss ich...«
Sie runzelte die Stirn und murmelte enttäuscht: »Schade. Ich würde dich ja gerne aufmuntern mit so einem Spruch wie... Pech in der Liebe, Glück im Spiel. Der Spruch geht doch so, oder? Na ja, aber irgendwie passt das ja auch nicht. Du scheinst echt immer Pech zu haben, oder?«
Theodor seufzte. »Oi! Themawechsel! Bitte!«
Abby schüttelte den Kopf. »Vergiss es. Ich habe eine Idee! Als Racheengel oder Schreckgespenst hab ich nicht so die Skills zu. Wie wär's, wenn ich mich mal als Amor versuche?«
»Könntest du nicht lieber noch einmal versuchen, mich umzubringen?«, bat Theodor wenig begeistert.
»Warum nicht? Ich, Abigail McArran,, bin jetzt dein persönlicher Liebesbote«, jubelte Abby ungehalten weiter.
Krampfhaft versuchte Theodor, Abby von ihrem Vorhaben abzulenken. Also fragte er: »McArran? Bist du Schottin?«
Das Geistermädchen grinste und nickte. »Klar doch. Schottin durch und durch.«
»Hört man aber gar nicht. Kein Akzent«, spann er weiter.
»Klar, den Akzent habe ich mir auch mühselig abgewöhnt. Ich kann aber trotzdem noch lupenreines Scots.«
»Verschone mich!«
»Und du lenk nicht ab!«
Verdammt!
»Wo steckt Bonnie überhaupt?«, murmelte Abby misstrauisch und rappelte sich auf.
»Keine Ahnung. Ich bin ihr heute noch nicht begegnet.«
»Los! Aufstehen! Geh sie lieber suchen, sonst haut die noch ohne dich ab!«


Uralte Fassung (1): Twos - Die Prophezeiung von Feuer und EisWhere stories live. Discover now