Kapitel 9 - Grosser, böser Wolf

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Kapitel 9

Grosser, böser Wolf


~Sabrina~

Am nächsten Morgen standen die Geschwister erst spät auf, sofern man zehn Uhr morgens als spät für einen Samstag bezeichnen konnte. Himmel, es war Wochenende! Da musste doch selbst Mrs. Tallo ein Auge zudrücken.
So sassen Sabrina und Mile am Frühstückstisch und schmierten schweigend ihre Brote. Beide konnten es kaum erwarten, ihre neuen Fähigkeiten weiter auszutesten. Vor allem Sabrina konnte einfach nicht aufhören, nachzudenken. Ihr Eis, Miles Feuer, die Herrscher der Gezeiten... Und der Wolf. Sie hatte ihn komplett vergessen. Wolf.
Damals... An jenem Abend, als sie in Wolfsbach angekommen waren... Auf der Fahrt hatte sie ihn gesehen. Den Wolf mit den goldenen Augen, die so intelligent gewirkt hatten... Beinahe menschlich!
So viele unerklärliche Fragen brannten ihr auf der Zunge. Wenigstens eine konnte ihr vielleicht der Alte beantworte , so fragte sie ihn: »Onkel Tobi? Weisst du, ob hier im Wald Wölfe leben?«
Der Blinde lachte.
»Wölfe? Hier?«, rief er glucksend. »Kindchen! Aber nein. Hier gibt es seit Jahren keine Wölfe mehr!«
Sabrina blieb die Spucke weg.
Keine Wölfe? Aber gestern hatten sie ihn doch gehört... Dieses Jaulen...
Sie drehte sich zu Mile, der geschockte sein Kaviarsandwich anstarrte. Dann hob er den Blick. Er musste nichts sagen. Sabrina konnte an seinem grünen Blick ablesen, was er dachte.
»Wie kommst du darauf, Kleines?«, fragte Onkel Tobi.
»Miss Beltran hat Ihren neuen Vormund immer noch mit Mr. Tallo anzusprechen! Nicht wahr, Miss?«, fuhr Ms. Tallo dazwischen.
Sabrina schluckte, doch ihr Honigtoast blieb ihr im Hals stecken.
Vollmond und Wölfe, wo keine Wölfe sein sollten...
»Ich... ich habe keinen Hunger mehr...«, murmelte sie und stand auf. Sie rannte zur Tür und verliess den Speisesaal.
Mile murrte ein schnelles »Ich auch nicht« und eilte seiner Schwester hinterher.


~Mile~

Er fand sie im Park. Sie sass auf einer Bank, in der Nähe des Teichs. Sie hatte das Gesicht in den Händen vergraben, was sie wirken liess, wie eine gemeisselte Statue. Das morgendliche Sonnenlicht liess ihre Haare golden schimmern. Ein malerischer Anblick...
Es war ein schöner, warmer Samstagmorgen. Von ihrem nächtlichen Ausflug zeugte nur noch ein Häufchen Asche, wo früher ein Holunderbusch gestanden hatte.
»Sabrina? Weinst du?«, fragte Mile vorsichtig und setzte sich neben sie.
Sie blickte auf und schüttelte den Kopf.
»Nein... Es ist nur...«, stammelte sie. Es in Worte zu fassen war schrecklich schwer...
»Du glaubst, der Wolf war aus der Märchenwelt? Der, den wir gestern in der Bibliothek gehört haben?«, fragte Mile, als hätte er ihre Gedanken gelesen.
Sabrina nickte stumm.
Wolf... Könnte dieses Tier tatsächlich ein Märchenwesen sein?
»Vielleicht hat sich Onkel Tobi geirrt! Vielleicht gibt es doch Wölfe im Wald!«, murmelte Mile aber in seiner Stimme schwang Unsicherheit mit. Er war sich selbst nicht sicher...
Sabrina schüttelte den Kopf. Sie richtete sich auf und Entschlossenheit machte sich auf ihrem feinen Gesicht breit.
»Mile. Wo kommen wir wirklich her? Wir müssen es herausfinden! Nächsten Vollmond, also in einem Monat, werden wir einen Ausflug in den Wald machen!«

Der letzte Monat verging für Mile wie im Flug. In der Schule gab es Tage, an denen er sich mehr um seine Schwester kümmerte und dann wieder andere, an denen er sie wieder sich selbst überliess. Schliesslich war sie ja nicht vollkommen alleine. Sie hatte sich ja anscheinend mit diesem kleinen, dicken Jungen angefreundet. Harry von und zu Labertasche, wie Michelle ihn nannte.
Schikaniert wurde Sabrina nur noch von dem Speiseplan der Kantine. Es gab keinen Tag, an dem sie nicht mit verbittertem Gesichtsausdruck in ihrem Essen herumstocherte.
Ihr Erzfeind warf ihr höchstens noch aus der Ferne hasserfüllte Blicke zu, mied sie jedoch ansonsten.
Aber all das war nun egal, denn heute war die Nacht des Vollmondes und die Geschwister machten sich auf...
»Hast du alles?«, zischte Sabrina aus der Dunkelheit. Ihre Stimme drang dumpf durch das Holz seiner Zimmertüre.
Mile zog den Riemen des Rucksacks zu.
»Schlafmatten, Schlafsack, Taschenlampen, Batterien, Proviant, Wasser, Kleider zum Wechseln... Ja, das sollte alles sein...«, flüsterte er.
Er schnippte mit den Fingern und eine kleine Flamme züngelte an seinem Daumen und erhellte den ganzen Raum.

Uralte Fassung (1): Twos - Die Prophezeiung von Feuer und EisWhere stories live. Discover now