Kapitel 42 - Es jagt und tanzt der Geistesblitzt

3.1K 176 59
                                    

Kapitel 42

Es jagt und tanzt der Geistesblitz


~Sabrina~

»Smee? Wie sieht es aus? Können wir landen?«
Falks Stimme hatte einen autoritären Klang angenommen. Mit einem Fernglas, das er in seiner gesunden Hand hielt, blickte er auf die Stadt hinab.
Aramesia.
Auf den dicken Stadtmauern, die so mächtig aussahen, dass Sabrina sich nicht vorstellen konnte, wie Mile diese Stadt hatte einnehmen können, hatten sich bereits Hunderte von schaulustigen Rebellen angesammelt, die gespannt zu ihnen aufsahen. Und irgendwo dort unten wartete Mile auf sie...
»Captain. Ich glaube, die Landung könnte schwierig werden. Das Land ist hügelig. Wenn wir nicht auf den Feldern landen wollen, sollten wir es im See versuchen. Das wäre auch sicherer, denn so liesse sich eine Bruchlandung auf jeden Fall vermeiden«, kommentierte Smee.
Hook nickte und liess das Fernglas wieder in seiner Manteltasche verschwinden.
»In Ordnung. Männer, wir drehen ab! Nehmt Kurs auf den See!«
Die Seeleute, die ebenfalls von der Pracht und Macht der Stadt eingenommen gewesen waren, rissen sich von Aramesias Anblick los und fingen gleich an, grölend und lachend wieder ihrer Arbeit nach zu gehen.
Sabrina starrte sie weiter an. Diese Stadt. Dieses New York der Märchenwelt.
Wahrhaftig standen hier Hochhäuser. Gigantische Türme, die sich wie lange, steinerne Finger in den Himmel reckten. Diese Türme wurden mit Brücken und Treppen, die sich zum Teil in hunderten von Metern in der Höhe befanden, miteinander verbunden.
Eine sanfte Berührung ihres Haares riss sie aus ihren Gedanken.
Sie wusste sofort, wer über ihre Haare gestrichen hatte, denn ihr neuer, telepathischer Sinn wurde immer ausgeprägter. In manchen Situationen wie dieser beispielsweise, konnte sie die Aura der Lebewesen um sie herum spüren. Wie ein Lufthauch streiften die fremden Seelen die ihre und hinterliessen eine Spur aus Gefühlen, die momentan in ihren Geistern wohnten.
Diese, wie Sabrina sie nannte, Berührungen waren unglaublich kurz. Sie kamen unerwartet und einen Herzschlag später war es wieder weg.
Es.
Die Berührung, dieser winzige Moment, wenn ihre eigene Seele eine andere streifte.
Und der, der ihr gerade so sanft über das dunkelblonde Haar stricht, dessen Aura empfand sie besonders intensiver. Anscheinend hing ihr Empfinden der fremden Seele davon ab, wie nahe diese ihr stand...
Müsste sie diese Berührung beschreiben, so kämen ihr kaum die passenden Worte in den Sinn.
Sanft und hell, doch ebenso wild und voller Schatten. Flammend heiss und eisig kalt. Voller Liebe und bedeckt mit Blut.
»Du hast eine besondere Ausstrahlung, Falk...«, murmelte Sabrina, nachdem die flüchtige Berührung mit dem Geist des Piraten viel zu früh vorbei war.
Hook begann mit einer ihrer Haarsträhnen zu spielen und lachte leise.
»Ich hoffe, dein Bruder wird das genauso sehen.«
Sabrina grinste.
»Wohl kaum. Ich glaube nicht, dass auch er die Gabe der Telepathie hat. Nun mach dir keinen Kopf wegen Mile. Lande lieber dieses Schiff.«
Der Pirat liess jedoch nicht von ihr ab. Sein Haken glitt über ihr Haar, während er mit seiner gesunden Hand die Strähne zwischen Daumen und Zeigefinger zwirbelte.
»Hör schon auf, du Pirat«, maulte sie und schubste seine Arme weg.
Der Captain zog sie an sich.
»Was, wenn das die letzte Chance ist, dich zu küssen? Was, wenn dein Bruder, sobald er das von uns weiss, beschliesst, mich zu massakrieren?«, säuselte er fröhlich.
»Mile wird dir bestimmt nichts tun. Und du wirst mich jetzt nicht küssen!«, zischte Sabrina und versuchte krampfhaft, ihren Magen zu zwingen, die tollwütigen Schmetterlinge in ihrem Bauch zu verdauen.
Schmetterlinge im Bauch? Himmel! Sie war niemals ein Mädchen gewesen, das sich mit derartigem Kitsch-Schund, hyperromantischen Liebeleien und dauerverliebten Möchtegernflittchen beschäftigt oder abgegeben hatte. Und nun war sie zu Amors persönlicher Lieblings-Zielscheibe geworden. Unfassbar.
Doch andererseits... Liebe? Sie hatte auch bei Eril das Gefühl gehabt, ihn zu lieben. Auch wenn er in ihrer Nähe gewesen war, hatte sie dieses bescheuerte Kribbeln gefühlt. Und nun war der Elf ihr persönlicher Erzfeind. Ein Erzfeind, der auf einem Drachen ritt und sie liebend gerne umbringen würde.
»Gut, dann nicht. Aber nur, weil ich selbst einst ein Bruder war. Und als Ex-Bruder weiss ich, dass ein Typ, der in seiner Vergangenheit gestohlen und gemordet hat, kein guter Umgang für meine Schwester gewesen wäre. So bin ich mir sicher, dass dein Mile mir den Hals umdrehen wird. Darum werden wir versuchen, es vor ihm geheim zu halten, in Ordnung?«
»Wie bitte?«, fauchte Sabrina. »Darauf wolltest du jetzt wohl die ganze Zeit hinaus!«
Sie riss sich von ihm los. Böse starrte sie ihn an.
Falk zog das Sturmglas aus einer seiner Manteltaschen und begann daran herum zu schrauben.
»Du bist so was von feige! Ich soll meinen Bruder anlügen? Und was heisst da es?! Wieso hast du vor Mile Angst, wenn du dieses Etwas, das wir hier am Laufen haben, nicht einmal benennen kannst?«
Der Pirat hob den Kopf.
»Halt dich fest, Schätzchen.«
»Schätzchen?!«, fauchte sie.
Hook klemmte seinen Haken an der Reling fest und grinste blöd.
»Hallo? Hast du nicht zugehört, Pirat? Ich will hier mit dir streiten, um meine Nervosität abzubauen und du nennst mich Schätzchen?! Ich werde Mile sehr wohl davon... Wow!«
Jolly Roger hatte wohl beschlossen, ihr Gemotze nicht mehr ertragen zu können und so kippte es leicht zur Seite, um eine hundertachtzig Grad Drehung zu machen. Dabei verlor Sabrina das Gleichgewicht, doch Falk, der darauf genau vorbereitet war, fing sie auf.
Blöder Macho-Lackaffe!
»Das hast du absichtlich gemacht!«, maulte sie und löste sich von ihm, nachdem das Schiff sich wieder in eine Position gebracht hatte, die nicht Kniffel mit der Mannschaft spielte.
»Ja, das war Absicht.«
»War ja auch extrem komisch...«, maulte sie sarkastisch.
Falk kicherte.
Nun musste auch Sabrina schmunzeln, doch ihr Lächeln erstarb.
»Falk, ich werde es Mile sagen. Und das wusstest du. Wir haben darüber mehr als einmal gesprochen, haben sogar Witze darüber gerissen. Und nun kommst du auf einmal und willst, dass ich meinem Bruder meine neue... Affäre verheimliche? Das geht doch nicht. Ich bin einverstanden, wenn wir uns darauf einigen können, es Mile nicht sofort zu erzählen...«
Der Pirat schüttelte den Kopf und meinte: »Nein, lass mich mit deinem Bruder sprechen.«
Sabrinas Augen weiteten sich.
»Du?!«
Falk lächelte und fuhr sich nervös durch das Haar. Dieser Pirat und seine Haare... Unglaublich. Sie hätte niemals gedacht, dass der gefürchtete Captain Hook tatsächlich eitel sein könnte...
»Wieso? Mag dein Bruder etwa keine Piraten? Oh, wer hätte das gedacht!«, neckte er sie und grinste, doch seine Unsicherheit konnte er nicht verbergen. Nicht vor ihr.
»Falk. Mile ist ein guter... Mensch oder was wir jetzt sind... Wir haben eine unglaublich starke Bindung, stärker, als sie normale Geschwister haben...«
»Oh, Sabrina. Von besonderen Beziehungen von Geschwistern könnte dir ein Liedchen singen. Glaube mir, ich...«
»Nein, so habe ich das nicht gemeint...«, stammelte Sabrina, als sie sah, dass Falks Gesicht von dem frechen Piraten zu dem traurigen Jungen.
»Ach was... Nein, ich weiss was du meinst. Dein Bruder will dich nur beschützen. Ich denke, ich bin nun wirklich nicht die Art von Kerl, die man seinen Eltern vorstellt. Ich bin eher der Typ, mit dem man heimlich rumknutscht, ihn aber nicht wirklich zum Freund nimmt. Ich bin einer von denen, die mit dem Mädchen Spass haben und ihnen dann das kleine, süsse Herzchen bricht.«
»Falk, was redest du da?«
»Das sage nicht ich. Das ist das, was die Leute denken. Das ist das, was dein Bruder denken wird. Und wenn du mit ihm sprichst, wird er dich nicht als die kluge Eisprinzessin, nicht als gefährliche Kriegerin und auch nicht als traumreisende Telepathin sehen, nein, er wird deine Worte als Gerede eines pubertierenden, naiven und verliebten Mädchens sehen.«
Sabrina schluckte. Falk hatte Recht! Es würde genauso laufen wie bei Eril. Mile würde ihm misstrauen und jede Tat von ihr oder Falk hinterfragen. Doch sollte Falk es schaffen, Mile zu überzeugen...
»Wenn ich mit deinem Bruder rede, werden unsere Chancen grösser sein. Doch wenn du mit ihm sprichst, wird er dich nicht ernst nehmen und...«
»Tu es!«, unterbrach sie ihn und lächelte ihn an.
Falk lächelte. Er wollte noch etwas sagen, doch jemand übertönte die Worte des Piraten.
»Partytime!«
Faritales... Der Nachtmahr flatterte auf sie zu.
»Alter! Das ist diese Stadt? Aramesia? Krasses Teil! Und all die Felder, die rund herum angelegt wurden! Bei dem ganzen Gestrüpp, das darauf wuchert, muss doch auch jede Menge Futter daraus entstehen. Hach, das wird ein Festmahl werden!«, jubelte der Dämon.
Typisch Faritales. Er dachte nur ans Fressen!
»Captain! Das Schiff beginnt mit der Landung!«, brüllte einer der Matrosen über das Deck.
Sabrinas Fingernägel krallten sich tief in die Reling. Ihr Herz schlug schneller vor Aufregung.
Der Pirat seufzte: »Dämon? Du sagtest Partytime? Lasst uns dafür sorgen, dass unsere Party nicht ohne uns anfängt...«
Dann holte er sein Sturmglas aus der Manteltasche und begann erneut, daran herum zu hantieren.
Dann sank Jolly Roger, denn der Wind, der das gigantische Piratenschiff in der Luft hielt, begann schwächer zu werden.
Und so kam der Boden immer näher. Der See, schimmernd und blau wurde zu ihrer Landebahn...

Uralte Fassung (1): Twos - Die Prophezeiung von Feuer und EisWhere stories live. Discover now