Kapitel 74 - Kriegsherr Regen

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Kapitel 74

Kriegsherr Regen


~Sabrina~

Sie liess sie schlafen, ruhen, heilen und hoffentlich von anderen Orten und besseren Tagen träumen. Ihr Zeitgefühl hatte sie noch nicht gänzlich im Stich gelassen, so schätzte sie, es müsste jetzt Vormittag sein.
Bisher hatte sich kein weiterer Soldat in ihrem Bunker blicken lassen. Was das zu bedeuten hatte, konnte sie jetzt noch nicht sagen.
Gedankenverloren beobachtete sie Cernunnos. Vielleicht bildete sie es sich nur ein, doch er war seit ihrem letzten Besuch im Zeitpalast magerer geworden. Seine Rippen waren zu sehen – Knochen unter der Schneedecke seines weissen Fells. Doch seine Flanke hob und senkte sich gleichmässig und ab und zu schnaubte er zufrieden, was Sabrina zum Lächeln brachte. Sie wusste, er hatte schöne Träume, denn die hatte sie ihm geschenkt. Sie beneidete ihn um seinen Schlaf. Nicht wegen ihrer eigenen Müdigkeit oder der Erschöpfung, die ihre Glieder und Lider schwer machte, sondern um der Ruhe willen, der Sorglosigkeit, dem Vergessen, dem Verschwinden... Doch Sabrina konnte nicht schlafen. Ihre Gedanken hielten sie wach. Die Gedanken und ihre Angst. Immer wieder schob sie sie beiseite, wollte sich zwingen, an andere Dinge zu denken, doch sie kehrte zurück. Jedes Mal. Und dann sah sie Mile vor sich, wie er durch das Fenster im Ballsaal schlug. Sie dachte an Katmo, den sie nicht hatten retten können, der keine Chance gehabt hatte, dessen Tod so, so unsinnig gewesen war. Peter, der aufgegeben hatte, der von seiner Verbitterung aufgefressen worden war und der geglaubt hatte, Frieden und Vergebung nur im Tod zu finden.
Tod auf Zeit.
Sie schüttelte den Kopf. Früher, noch zu Beginn ihres Abenteuers, war er ihr gnädig vorgekommen. Was hatte der Tod denn zu bedeuten, wenn man ihn irgendwann überwinden und wieder zu den Lebenden zurückkehren konnte?
Aber was war mit den Zurückgebliebenen? Jene, die verlassen worden waren? Schmerzen tat der Verlust trotzdem und die Sehnsucht, durch das Hoffen auf das Erwachen des geliebten Gefallenen geschürt, wurde unerträglich.
Aber was war mit Mile? Was, wenn er den Sturz nicht überlebt hatte? Oder wenn er dort draussen tot in einer Gasse lag? Er mochte zwar der Lichterlord sein, doch er war noch nicht Herrscher über Twos.
Der Grund, warum sie ihre Eltern in der Starre hatte treffen können, war, dass diese Welt nicht ohne die Herrscher existieren konnte. So lange Mile und sie nicht offiziell zu den Herrschern über Twos gekrönt waren, um so Eira und Ignatzius abzulösen, würde das auch so bleiben.
Was würde also passieren, sollte Mile sterben? Die Herrscher der Gezeiten waren keine gewöhnlichen Märchenfiguren, für sie gab es keinen Tod auf Zeit. Sollte Mile sterben, würde er dann wie ihre Eltern in der Starre bleiben müssen? Oder würde er einfach verschwinden?
Bei diesem Gedanken wurde Sabrina so schlecht, dass sie sich krümmte... und lächelte. Kein freudiges Lächeln, nein, daran war nichts Amüsantes.
Ausgerechnet hier. Hier, in dieser Welt aus Tinte, wo Geschichten wahrhaftig lebten und wo man sterben konnte, ohne endgültig tot zu sein, ausgerechnet an diesem Ort. Ausgerechnet hier. Hier wurde es einem bewusst: Es war schrecklich, etwas zu lieben, das sterben konnte.
Ihre Augen waren wund vom Weinen durch Tränen gleichermassen seelischer und physischer Schmerzen, obwohl sie sich Mühe gegeben hatte, ihr Heulen auf ein Minimum zu beschränken, doch auch dieses Mal verlor sie den Kampf.
Im Nachhinein fragte sie sich, ob er sie gehört und sie aufzumuntern versucht hatte, denn auf einmal begann jemand in der Zelle rechts von ihr zu pfeifen. Eine Melodie, schwermütig, aber flink. Eine Melodie, die sie kannte.
»Hook, bist du das?«, zischte sie leise.
Es raschelte. »Captain Hook, aber für dich Falk.«
Sie lächelte und fühlte sich sofort ein bisschen besser. »Wie lange bist du schon wach?«
»Schon länger...«
Sabrina spürte, dass er noch mehr sagen wollte, also schwieg sie, doch er brauchte lange, bis er die Worte fand, die er für richtig zu halten schien.
»Bist du in Ordnung?«
»Ja... ich denke schon. Und du?«
Er ignorierte ihre Frage. »Er... hat dir... nichts angetan? Hat dich... nicht...« Die letzten Worte schien die Wut in ihm zu erdrücken, denn es kam nicht mehr als ein Schnauben über seine Lippen.
»Er hat mich... geschlagen, sogar getreten, ja. Aber weiter ist er nicht gegangen, wenn du das meinst«, antwortete sie nüchtern. Sie war selbst ein wenig erleichtert, diese Angst hatte sie, als Eril sie holen gekommen war, auch einen Moment beschäftigt. Vor allem, als er ihr ins Ohr gebissen hatte, das war intim genug gewesen, um diesen schlimmen Verdacht in ihr aufkeimen zu lassen. »Was du gesehen hast, hier im Bunker, hat er nur wegen dir gemacht, Falk, da bin ich mir fast sicher. Er benutzt dich, um mir weh zu tun. Mehr nicht. Er will sich nicht so an mir rächen, an so etwas hat er kein Interesse.«
»Dein Wort in Klyuss' Ohr«, murmelte er düster. Nach kurzem Schweigen verlangte er: »Komm näher an das Gitter heran, ich will dich sehen...«
Sie kam seinem Wunsch nach, versuchte aber die rechte Seite ihres Gesichts, wo Eril seien Schnitt an ihre Wange gesetzt hatte, möglichst im Schatten zu verbergen.
»Hey, jetzt musst du dich aber auch zeigen!«
Falk tat keinen Wank. Seine Stimme schnitt durch die Dunkelheit, kalt, böse und seltsam ruhig: »Ich werde ihn töten.«
»Es ist halb so schlimm.«
»Du hast eine Platzwunde an der Stirn und dein Arm ist ganz blau. Krempel den anderen Ärmel auch hoch! Sieht er genauso aus? Bist du überall wund?«
»Nein, Falk, das... spielt keine Rolle!«
»Oh doch!« Auf einmal tauchte sein Gesicht aus dem Schwarz auf. Sie schluckte, als sie ein paar neue Schrammen entdeckte.
»Nebelfinger hat mir erzählt, sie hätten euch mitgenommen. Sie haben euch gefoltert?«
Er schüttelte den Kopf. »Das war keine Folter, das war nur Prügel. Sie wollen nicht wirklich etwas von uns wissen, das soll nur einschüchtern. Bei dir ist es etwas anderes. Eril will sich rächen!«
Sie seufzte, lehnte den Kopf gegen das Gitter. Zwar spürte sie die dumpfe, betäubende Wirkung des Obsidians, doch die Kälte des Materials machte das wett. »Er ist gebrochen.«
»Versuchst du ihn zu verteidigen?«
»Nein, aber...«
»Aber was? Du nimmst ihn in Schutz. Aber das darfst du nicht, das musst du nicht. Das schuldest du ihm nicht.«
Sie schluckte. Schuld. »Er macht mich für Arillis' Tod verantwortlich.«
»Es war nicht deine Schuld.«
»Aber warum verfolgt es mich dann?«
»Du bist es nicht!«
»Sie war meine Verantwortung.«
»Es herrscht Krieg.«
»Der Krieg entschuldigt das nicht.« Sie rieb sich über die gereizten Augen. »Es geht hier auch nicht um Schuld. Ich weiss, dass Eril kein Recht auf Rache hat. Ich verachte ihn dafür, was er aus sich hat werden lassen. Aber er ist gebrochen und... Ich kann nicht aus meiner Haut; er tut mir leid...«
Falk schüttelte den Kopf. »Du bist zu gut. Zu gut für uns alle.«
Sie zuckte mit den Schultern. »Du warst auch schon gebrochen, Falk. Und nun sieh dich an, steckst zwar hinter Gittern, aber du bist einer der Guten.«
Er runzelte die Stirn. »Bin ich das?«
»Bist du. Und Eril ist es auch... war es. Ja, er hat mich belogen und benutzt, aber er tat, was ihm aufgetragen worden war. Er war vielleicht schmierig und aufdringlich, aber nicht schlecht, nicht böse. Das hatte ich bei ihm nie das Gefühl. Ich glaube nicht, dass Arillis sonst bei ihm geblieben wäre.«
Falk schnaubte. »Vielleicht wusste sie nicht, wer er wirklich ist.«
»Ich wusste es bei dir.«
Er schüttelte den Kopf. »Hör auf, uns zu vergleichen.«
»Dann hör auf, zu drohen, jemanden umzubringen. Das bist du nicht mehr. Du siehst doch, was die Rache mit einem macht! Wenn ich mich richtig erinnere, steht das sogar in der Prophezeiung. Die Rache brüllt, das wilde Tier, immer weckt sie das Monster in dir.«
»Soll das heissen, du planst ihn zu retten?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Ich plane nichts. Es tut mir nur leid, was mit ihm passiert ist und... Doch, vielleicht bin ich auch etwas schuldig, nur nicht ihm, sondern Arillis. Ich weiss es nicht, Falk. Ich... will nur nicht, dass wir in dieser Hölle vergessen, wer wir sind. Sonst werden wir wie er. Ich will, dass du es mir versprichst!«
Er schien zu zögern, fuhr mit einem Eckzahn die Narbe an seiner Unterlippe nach. Schliesslich legte auch er erschöpft den Kopf gegen die Gitterstäbe. »Ich verspreche es.« Als er sie schmunzeln sah, fügte er hinzu: »Niemals und immer!«
Nun lächelte sie. »Ich dich auch!«
Mit einem Knall, der nun auch die restlichen Gefangenen aufweckte, sprang die Tür des Bunkers auf, gefolgt vom energischen Klacken von Absätzen. Nevis, in Gefolgschaft dreier Grauer, darunter auch Eril, betrat den Raum.
Cernunnos, der von dem Krach natürlich auch erwacht war, gab ein alarmiertes Röhren von sich und begann nervös zu tänzeln.
Die Reaktion des Tiers befreite Sabrina von dem ersten Schrecken, der sie beim Anblick ihrer Tante hatte erstarren lassen. Sie zog sich an den Gitterstäben auf die Füsse, wobei sie möglichst unauffällig vermied, ihren linken Knöchel zu belasten. Als sie einigermassen die Balance gefunden hatte, löste sie die Hand von dem entmachtenden Stein und legte sie stattdessen an Cernunnos' Flanke, um ihn Kraft ihrer Gedanken zu besänftigen.
Die Fülle des weissen Seidenkleids, in das Nevis gehüllt war, wogte mit ihr und rollte wie eine kleine Lawine über den Granit, als sie in gebührendem Abstand zum Obsidian Halt machte. Mit Augen, kälter als sie ihr eigenes Eis kannte, blinzelte die Schneekönigin in ihre Zelle. Als ihre Blicke sich kreuzten, flackerte der ihre und etwas an ihr bröckelte.
»Was ist das?«, fragte sie und deutete auf Sabrinas Gesicht. »Als ich meine Nichte das letzte Mal sah, war sie noch nicht so zerschlagen.«
Eril, der sich neben den anderen Soldaten vor dem Altar aufgestellt hatte, trat vor und verkündete: »Mir wurde der Auftrag gegeben, die Eisprinzessin über ihre Rechte aufzuklären, Herrscherin.«
Nevis' Kopf zuckte herum, sie wandte sich dem Elf zu.
Eril schien nüchtern zu sein. Er schwankte nicht, stand mit aufrechter Haltung und hatte sichtlich gebadet. An seine Trunkenheit des Vortags erinnerte nur sein leicht blasses Gesicht, das mit einem Schlag aschfahl wurde, als Nevis ihn zurechtwies: »Ihr hattet die Erlaubnis, ihr den Ernst ihrer Lage klar zu machen, sie von ihrem hohen Ross runterzuholen, ihr zu beweisen, dass sie verloren hat.« Die Lawine zog auf Eril zu, packte ihn am Kragen und stiess ihn gegen die Wand. »Ihr hattet kein Recht, Hand an sie zu legen! Ihr hattet explizite Befehle! Man wählte Euch wegen Eurer Vorgeschichte mit der Betroffenen aus, aber ich erkenne, dass wir Euch falsch eingeschätzt hatten...«
Sie sah nicht, woher Nevis den Dolch hatte, er war gut versteckt gewesen zwischen den Seidenfalten. Nun lag er an Erils Kehle, drückte gegen das pulsierende Fleisch. Ein feiner, roter Strich lag bereits auf der Schneide, rann über den kalten Stahl. Der Elf schloss schicksalsergeben die Augen, schien sich bereits von seinem Leben zu verabschieden. Er wirkte erschreckend ruhig...
Es wurde kälter im Bunker und Sabrina war sich nicht sicher, ob das ihr selbst oder Nevis zuzuschreiben war.
»Halt!« Sie erschrak vom Klang ihrer eigenen Stimme.
Der starre Blick der Schneekönigin wanderte von der Klinge auf ihre Nichte. »Halt?«
»Bring ihn nicht um.« Ihre Bitte war müde, dennoch bestimmt.
Nevis legte den Kopf schief. »Du schützt deinen Peiniger? Einen Verräter?«
Sabrina zuckte die Schultern. »Ich bin das Sterben und Töten müde.«
Die kalten Augen verengten sich zu Schlitzen. »Du bist also gnädig...« Sie schien einen Moment nachzudenken, dann liess sie den Dolch wieder in ihrem Kleid verschwinden und gab Eril frei, der noch immer starr vor Angst, die Wand hinabglitt, eine Hand auf den feinen Schnitt an seinem Hals pressend.
Nevis trat neugierig auf ihre Zelle zu. Ihre Augen sprangen zwischen ihr und dem Hirsch hin und her, bis sie schliesslich an ihr hängen blieben. »Was bist du noch?«
»Nachtragend«, fauchte Sabrina. Der Anblick, der sie so sehr an ihre Mutter erinnerte und gleichzeitig doch so fremd war, machte sie wütend, liess sie ihre Furcht einen Moment vergessen.
»Schlagfertig. Guter Charakterzug.« Wieder legte sie den Kopf schief, dieses Mal auf die andere Seite. »Eigentlich bin ich hier, um dich einzuladen, liebste Nichte. Ich würde mich gerne mit dir unterhalten, natürlich in einem passenderen Ambiente. Würdest du mir diesen Gefallen tun?«
Sabrina lachte auf. »Habe ich eine Wahl?«
Ihre Tante zog gespielt verblüfft die Brauen hoch. »Aber natürlich, Sabrina.«
Sie biss sich auf die Lippe. »Ich gehe nirgendwohin, so lange wir hier nicht alle etwas zu Essen und Trinken bekommen. Und die Verletzten müssen versorgt werden.«
Ein schmales Lächeln glitt über die blassen Lippen der Dunklen. »Du hast Forderungen?«
»Provozier sie nicht«, murmelte es belustigt aus der linken Zelle und Sabrina erkannte anhand des taktlosen Tonfalls den Herzkasper.
»Provozieren? Keine Sorge, Herzprinz, gegen meine Nichte hege ich Neugierde, nichts Besorgniserregendes...« Sie schritt vor der Zelle auf und ab, kaute nachdenklich auf ihrer Wange. »Eure tägliche Mahlzeit wäre sowieso jeden Moment ausgegeben worden. Was die Medizinische Unterstützung angeht, würde ich damit wohl gegen die Philosophie meiner Verbündeten verstossen, aber was soll's...« Sie schnipste mit den Fingern ihrer linken Hand und deutete auf einen der Soldaten. »Geh und hol einen Medici.«
Der Graue nickte und eilte los.
Nevis wandte sich wieder ihr zu. »Nun, deine Forderungen werden erfüllt. Bist du nun willig, dich mit mir zu unterhalten?«
»Lass dich nicht darauf ein, das ist es nicht wert«, versuchte Falk, auf sie einzuwirken, doch Sabrina hatte ihre Entscheidung bereits gefällt. So dumm es war, sie erwiderte Nevis Neugier. Sie wollte sie kennenlernen, ihre Tante, die Blutsverräterin.
»Ich bin bereit«, verkündete sie und streckte einen Arm durch die Gitter, um sich die Obsidianschelle anlegen zu lassen.

Uralte Fassung (1): Twos - Die Prophezeiung von Feuer und EisWhere stories live. Discover now