Kapitel 59 - Glücksjagd und Königsmord

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Kapitel 59

Glücksjagd und Königsmord


~Sabrina~

Die Rebellen hatten nicht vergessen, wie es war zu reisen. Beschwerlich, scheinbar endlos und ständig begleitet von der erdrückenden Furcht, jederzeit überfallen und ausgelöscht werden zu können. Nein, die Rebellen hatten nicht vergessen, wie es war zu reisen. Sie hatten nicht vergessen, was ihr Ziel war. Sie hatten nicht vergessen, wer ihnen keine andere Wahl liess, diese Schlachten zu schlagen, um endlich frei sein zu können. Sie hatten nicht vergessen, wer ihre Feinde waren.
Die Dunklen.
Natürlich waren sie trotzdem erstaunt gewesen, als Drosselbart sie zum Aufbruch aufgefordert hatte. Erstaunt, aber sie hatten sich schnell gefasst. Irgendwann wäre der Aufbruch gekommen, das war von Anfang an sicher gewesen. Aramesia war frei, aber auch verlassen. Die Bewohner der Stadt – alle verflucht. Die Rebellen waren nur die Gäste der Stadt des Stillen Gottes gewesen.
Viel packen hatten die Rebellen nicht müssen. Sie besassen ja auch nichts. Alles, was sie zum Überleben brauchten, war das, was sie am Leib trugen. Kleidung, die wärmte, Rüstungen, die sie schützten und Waffen, mit denen sie kämpfen und sich verteidigen konnten. Wasser und Nahrung hatte man auf Wagen und die Jolly Roger verladen. Es war nicht so, als hätten sie genug, um jeden Abend ein Festmahl zu veranstalten, aber drastisch rationieren mussten sie nun auch wieder nicht.
So ohne viel Gepäck hatte der Aufbruch nicht lange gedauert. Die Rebellen waren noch am selben Tag aufgebrochen. Das lag jetzt eine ganze Woche zurück. Seither reisten sie immer weiter in nordöstliche Richtung.
Die Landschaft war nicht sehr spektakulär. Kilometerlang erstreckte sich eine mit Wildblumen und Gräsern bewachsene Hügellandschaft. Man nannte dieses Gebiet 'Die Hohlen Hügel'. Hohl, denn es hatten sich kleinere Fabelwesen wie Wichtel, Gnome und Steintrolle in diesen Hügeln eingenistet. Sie legten Baue wie Dachse oder Füchse an. Die Eingänge dieser Bauten waren unmöglich zu entdecken, denn diese Wesen verstanden sich darauf, diese zu verstecken. Leider waren die Hügelbewohner extrem scheu und nicht die Intelligentesten, darum wären sie den Rebellen auch keine Hilfe.
Vor der Machtergreifung der Dunklen war dieses Hügelland ein wichtiger Ort für die Weissen Hexen gewesen. Auf dem höchsten der Hügel, der einfach nur der Buckel genannt wurde, hatten sie die Walpurgisnacht gefeiert. Heute hatte die Schwarze Magie die Oberhand und der Feiertag der Weissen Hexen war längst in Vergessenheit geraten.
Die Gegend hier war also ziemlich langweilig. Reckte man den Kopf in die Höhe, wurde es auch nicht viel besser. Man konnte nur in weiter Ferne den Rand des östlichen Grenzwaldes zu Virid'agru erkennen. Irgendwo hinter diesen gewöhnlichen Wäldern lag der Elfenwald.
Die Aussicht Richtung Norden war da viel interessanter. Da die letzte Woche ausnahmslos gutes Wetter geherrscht und die Sonne stets heiss und grell auf die Erde niedergebrannt hatte, war die Luft ziemlich trocken. So hatte man unverschleierte, klare Sicht auf das Land, das vor ihnen lag. Dort wucherten die Waldgärten von Wyr. Ein bunter Fleck aus unzähligen, kunterbunten Bäumen, die sich bis zum Horizont erstreckten. Das war ihr nächstes Ziel.
Die Rebellen bestanden aus circa 324'380 Wesen, die aus den verschiedensten Völkern stammten. All diese Wesen geordnet und koordiniert mobilisieren zu können, war praktisch eine Kunst, die auch wirklich nur der Rebellenführer beherrschen konnte. Wie er das jedes Mal anstellte...
Drosselbart hatte das folgendermassen gemeistert: Jedes Volk wurde von seinen eigenen Monarchen angeführt. An der Spitze ritt Drosselbart und direkt hinter ihm der Reihe nach die anderen menschlichen Führer mit ihren zugehörigen Hofstaaten. Häuptling Azzarro, dieser alte Wichtigtuer, hatte sich mit seinen Barbaren natürlich an die erste Stelle der Reiter gesetzt. Auf die Menschen folgten Königin Amiėle und die Elfen, dann König Orion mit den Zwergen und so weiter. Das einzige Volk, das keine eigene Karawane bilden konnte, war das der Vampire. Die Sonne verbrannte ihre Haut wie Säure und da das Gelände keine Möglichkeit für Schatten bot, konnten sie am Tage nicht mitwandern. Die Lösung war ebenso simpel wie ungemütlich: Wesen untot? Klappe zu!
Jeder Blutsauger bekam seine eigene Kiste, die wiederrum mit einem Duzend anderer Kisten auf einem Zugwagen gestapelt und transportiert wurden.
Die fünfundzwanzig Drachen mit ihren Reitern, die letzten, die den Rebellen geblieben waren, zogen über der Armee ihre Kreise. Sie spähten in die Ferne, um jede Hinterhalt augenblicklich entdecken zu können. Etwas weniger hoch flog das Wolkenvolk. Aus der Ferne wirkten sie wie ein riesiger Vogelschwarm, doch sah man genau hin, erkannte man ihre menschlichen Körper.
Allen voraus segelte jedoch die Jolly Roger. Die Segel der prächtigen Galeone blähten sich im Wind, den das Sturmglas entfachte. Doch es war nicht der einhändige Captain, der dort oben die Lüfte unsicher machte.
Nein, Hook ritt neben Sabrina auf einem riesigen, schwarzen Schlachtross. Falk war ziemlich schlecht gelaunt, denn er hasste es, wenn ein anderer am Steuer seines Schiffes stand. Mr. Smee hatte jetzt das Kommando, wenn auch nur vorrübergehend. Der alte Seemann hatte zwar praktisch schon sein ganzes Leben auf Schiffen verbracht, aber am Steuer gestanden war er noch nie. Schon gar nicht, auf einem Schiff, das flog! Das war aber nicht der einzige Grund, weshalb Hook so schlecht drauf war. Sein Monstrum von Pferd bockte, doch was das anging, war der Pirat selbst schuld. Er hatte sich nämlich geweigert, auf einem stinknormalen Pferd zu reiten, da sein Piraten-Macho-Ego natürlich was „Krasseres" im Sinn gehabt hatte. Auch die Tatsache, dass ein Schlachtross für die Schlacht trainiert war und nicht für Ritte über lange Strecken, hatte ihn nicht zur Vernunft bringen können.
Tja, so wurde Sabrina wenigstens nicht langweilig, denn sie amüsierte sich köstlich über den Piraten. Gerade war er mal wieder dabei, sich den Frust aus dem Leib zu schimpfen: »Bei Klyuss' Wellenhaar, dieser Gaul ist zu nichts zu gebrauchen! Mal bleibt er einfach so stehen, dann ist er so elendig lahm und dann versucht das Rindvieh, mich abzuwerfen! Ich hasse Pferde! Die sehen so... unproportioniert aus! Wusstest du, dass Poseidon voll auf die Viecher abfährt? Poseidon ist auch ein Vollidiot! Kein Wunder, bei dem ganzen Inzest, der da bei den Göttern abgeht, da müssen die doch alle 'nen Schaden haben. Jedenfalls hasse ich Pferde. Ich bin ein Pirat! Ein Kind Klyuss'. Ich gehöre auf ein Schiff, auf die See... Heiliger Klabautermann! Wieso mache ich das eigentlich?!«
Sabrina grinste in sich hinein und meinte: »Ich habe dich doch gewarnt. Du wolltest nicht hören, du sturer Pirat!«
Falk sah zu ihr herab. Sein Reittier war so gross, dass Sabrina, auf ihrem Pferd sitzend, gerade noch über den Pferdehintern des Schlachtrosses blicken konnte. Sie hatte sich eine ruhige Fuchsstute ausgewählt. Als sie noch ein Kind gewesen war, hatte sie – anders als die meisten Mädchen in ihrem Alter – nicht so viel mit Pferden anfangen können. Auf diese fanatische Vorliebe für Delfine hatte sie abgelehnt. Hatte sie jemals ein Lieblingstier gehabt? Wahrscheinlich nicht.
»Prinzessin, Ihr seid eine Klugscheisserin«, brummte Hook und zog die Nase kraus.
»Und Ihr, Pirat, seid ein Blödkopf.«
Da die Herrscher eigentlich zu gar keinem Volk gehörten, ritten sie meist etwas abseits von den anderen. Manchmal auch neben Drosselbart, es kam so drauf an, wie sie gerade drauf waren. Wie gesagt, hatte sich Azzarro mal wieder an vorderste Front begeben, was für alle gleichermassen Grund war, sich von der Spitze der Armee fern zu halten. Der Häuptling bekam in den Sitzungen des Rates genug Zeit, um über sie her zu ziehen, das wollten sie sich nicht auch noch während ihrer Freizeit antun. Also ritten Mile, Red, Hook und sie selbst ein paar Meter neben der Armee.
Nicht jeder Rebell hatte ein Pferd, dafür hatten sie einfach nicht genug. So teilten sich manche ihr Reittier. Trotzdem bremste sie das etwas. Geplant war, dass sie noch heute die Waldgärten von Wyr erreichen würden.
Falk hatte Sabrina von diesen Wäldern erzählt. Angeblich hatte die Göttin Cecily sie erschaffen, weshalb man es nur unbeschadet durchschaffte, wenn man genug Glück hatte. Dieser ganze Wald war ein riesiges Labyrinth. Man durfte die Wege unter keinen Umständen verlassen, denn ansonsten war man verloren. Die Wege selbst führten jedoch auch nicht einfach geradeaus auf die andere Seite, nein, sie waren verschlungen und unübersichtlich angelegt, was bedeutete, dass man sich wahnsinnig schnell in ihnen verirrte. Dazu trugen auch die Irrlichter bei. Wie die Ratten hatten sich diese Geisterwesen in den Waldgärten eingenistet. Es war eine Plage! Zwar waren Irrlichter nachtaktiv, aber trotzdem gefährlich. Man musste bei Nacht also höllisch aufpassen, sich von keinem der Irrlichter bezirzen zu lassen. Sie würden einen vom Weg locken und somit ins Verderben stürzen. Doch das war noch nicht einmal alles. Dieses Labyrinth veränderte sich. Die Pflanzen dort wuchsen in unglaublicher Geschwindigkeit. Ein Baum konnte innert einer Woche ganze zehn Meter hoch werden! Aber genauso schnell gingen die Pflanzen auch wieder ein, so veränderte sich das Landschaftsbild ständig. Die Wege verschoben sich, wurden abgeschnitten, zerstört oder es bildeten sich neue. Hoffentlich würden sie es dort hindurch schaffen. Zwar hatten sie ja die Drachen und das Wolkenvolk, die sie aus der Luft durch den Wald lotsen konnten, aber dieser Wald war gross. Auch aus der Luft konnte man ihn nicht völlig überblicken. Wie immer hatte Sabrina ihre Zweifel, aber sie war natürlich auch Pessimistin, wer konnte schon wissen, was geschehen würde?
Mondkind, natürlich, aber na ja... die Kleine war nicht besonders redselig, seit ihren letzten Mini-Prophezeiungen. Immer wenn Sabrina sie besuchte, sah ihre Cousine sie nur traurig an. So hatte sich in ihr eine regelrechte Paranoia aufgebaut. Irgendetwas würde geschehen. Irgendetwas Schlechtes...
Dies lenkte ihre Gedanken gleich wieder auf den Rattenfänger. Um Feivel herum war es in der letzten Zeit ruhiger geworden. Die Rebellen hatten ihn als Verbündeten akzeptiert, was wohl auch damit zusammenhing, dass Drosselbart eine Rede gehalten hatte, was für ein Geschenk des Himmels der Rattenmann doch wäre. Pha! Sie misstraute dem Flötenspieler noch immer...
Aber es war ja auch nicht alles schlecht. Die Wälder von Wyr waren für Unglücksraben eine Fallgrube und es war ein hohes Risiko, sie zu durchqueren, aber wenn sie diesen Wald erst einmal hinter sich hatten, würde sie nichts mehr aufhalten können. Der Rand der Waldgärten von Wyr wurde im Norden von einem Fluss beschrieben. Die Kaouthar floss aus dem Azifik und mündete schliesslich im Lacco Lugondon. Diesen Fluss mussten sie auch noch überqueren. Jedenfalls fungierte dieses fliessende Gewässer als natürliche Grenze zwischen den Waldgärten von Wyr und dem Ezelwald. Der Ezelwald war ein stinknormaler Mischwald. Er säumte das Tal der Ewigkeit von West, Ost und Süd. Wenn sie also den Ezelwald durchquert hatten, würden sie ihr Ziel erreicht haben. Der Marsch durch den Ezelwald würde etwa drei Tage dauern, das war bekannt. Nur wie lange sie brauchen würden, durch die Waldgärten von Wyr zu kommen, konnte niemand wirklich sagen. Das würde darauf ankommen, wie gut sie in diesem Labyrinth zurechtkommen würden, was wiederrum von ihrem Glück abhing. Verdammtes Glück!
»Wie geht es dir eigentlich? Ich habe das Gefühl, du wärst irgendwie wacher als sonst. Lassen die Alpträume nach?«, erkundigte der Pirat sich.
Sabrina lächelte und nickte. »Ja, so ist es. Und das habe ich dir zu verdanken«, stellte sie fest. Auch nach ihrem Aufbruch aus der Stadt des Stillen Gottes hatte Sabrina bei Falk übernachtet. Oder besser: Er hatte bei ihr übernachtet, denn auch in der Nacht blieb die Jolly Roger am Himmel, denn es boten sich einfach kaum Möglichkeiten zum Landen. Das Risiko, das Schiff bei so einer Kunstlandung zu beschädigen, war einfach zu gross. Also musste der Pirat sich mit ihr ein Feldbett in ihrem Zelt teilen. Sabrina bezweifelte jedoch, dass ihn das störte. Er genoss es. Und zugegeben: Sie ebenso...
Viel zu lange hatte sie ihn auf Abstand gehalten. Sie hatte befürchtet, denselben Fehler wie schon bei Eril zu machen. Nicht weil sie befürchtet hatte, Falk würde sie wie Eril nur belügen. Bei Eril war sie nicht war das anders gewesen. Bei ihm war sie in das Verliebtsein verliebt gewesen. Jemanden du haben, der einen immer bei sich haben wollte, immer für einen da war, nichts wichtigeres als sie in seinem Leben hatte... Sie war in das Verliebtsein verliebt gewesen. Bei Eril.
Doch mit Falk war es anders.
Falk gab ihr gleichzeitig Boden unter den Füssen und Flügel zum Fliegen gab.
»Ich glaube kaum. Bestimmt sind sie nur besser geworden, weil jetzt klar ist, dass du Cernunnos nicht töten wirst. Ich schätze, das hat mittlerweile sogar dein Unterbewusstsein mitgekriegt«, brummte Hook. Er wollte eigentlich noch weiterreden, doch er war gezwungen, abzubrechen, denn sein Monsterpferd bäumte sich auf.
»Noch einmal und ich lasse dich Kiel holen! Mir ist egal, dass du ein Pferd bist und mein Schiff fliegt. Ich lass dich trotzdem irgendwie Kiel holen, du blöder Gaul!«, drohte der Pirat dem Pferd.
»Ich glaube nicht, dass dein Pferd dir besser gehorcht, wenn du es bedrohst und beschimpfst.«
»Und was soll ich dann machen?«
Sabrina seufzte und ritt ein Stück vor, um mit dem Kopf des Tiers auf gleicher Höhe zu sein. Langsam hob sie ihre rechte Hand und streichelte das bebende Tier. Wahrscheinlich lag es an ihrer Telepathie, selbst wenn diese durch ihren Traumfänger abgeschwächt war, jedenfalls wurde das Pferd sofort ruhiger. Diesen Nebeneffekt ihrer Gaben hatte sie entdeckt, als Drosselbart sie letzte Woche in die Ställe geschickt hatte, damit sie sich ein Reittier aussuchen konnte. Tiere reagierten sehr sensibel auf sie. Sabrina konnte spüren, wie die Tiere sich fühlten. Das war nicht wie bei den Völkern Twos'. Jedes Wesen hatte ein komplexes Bewusstsein und neben Gefühlen auch noch Gedanken und so was. Bei Tieren war das anders. Auch sie hatten Gedanken, nur waren die um so vieles simpler. Sie dachten nicht in Worten, sondern mit Bildern, Erinnerungen und Gefühlen. Sie dachten nicht 'Essen', wenn sie Hunger hatten. Sie riefen sich die Empfindungen, die sie beim Fressen hatten, in Erinnerung. Jedenfalls hatte Sabrina so gelernt, wie sie mit Tieren umzugehen hatte. Wenn jetzt ein Löwe sie angreifen würde sie keine zwei Minuten brauchen, um die Bestie zu zähmen. Okay, erst würde sie vermutlich vor Angst sterben, aber die Wahrscheinlichkeit, einem Löwen zu begegnen, war ja auch nicht so gross.
Wobei, da war ja Astrar, Miles... Reittier... Sie musste gestehen, sie beneidete ihren Bruder ein wenig. Astrar war wirklich gewaltig.
Automatisch hielt sie Ausschau nach der schwarzen Raubkatze. Sie entdeckte Astrar etwa hundert Meter vor ihnen. Er lieferte sich gerade mit Oskar, Reds Wolfszwilling, ein Wettrennen. Sie erkannte Miles roten Haarschopf. Ihr Bruder hing sich voll rein. Den Oberkörper vorgebeugt, um möglichst jeden Luftwiderstand zu vermeiden, krallte er sich in Astrars schwarzes Fell. Es dauerte nicht lange, da hatten Löwe und Lord die Rote und den Wolf abgehängt. Schliesslich war ein Löwe kein Gegner für einen Wolf, selbst wenn er grösser als ein Pferd und dazu ein Hybride war...
»Wie machst du das?«
Die Stimme des Piraten holte sie in die Wirklichkeit zurück.
Sie wandte sich von ihrem Bruder ab und sah zu Falk hoch.
»Was gemacht?«
»Das Pferd. Es ist ganz ruhig...«, erklärte Falk und strich dem Tier verwundert über den Hals.
Sabrina nickte und liess ihre Hand, die sie noch immer auf dem Fell des Pferdes ruhen gelassen hatte, sinken. Sie meinte: »Meine Telepathie scheint sich irgendwie auszubauen. Ich glaube, ich entwickle eine Affinität zu Tieren...«
Falk sah sie forschend an. Er fragte: »Ist das gut oder schlecht?«
»Weiss nicht... Solange der Traumfänger mich beschützt und mein Zustand sich nicht verschlechtert, ist es okay.« In Gedanken fügte sie hinzu: Und wenn nicht, dann sind wir aufgeschmissen. Sollte meine Telepathie sogar zu mächtig für den Traumfänger werden, werde ich den Rebellen kaum nützlich sein...
»Mist! Jetzt geht es schonwieder los!«, knurrte Falk und riss an den Zügeln seines Hengsts. Der Rappen tat keinen Wank. Trotzig blieb er stehen und scharrte mit den Hufen.
»Tja, muss also mal wieder der Pferdeflüsterer ran...«, seufzte sie gespielt überheblich. Sie lenkte ihre Fuchsstute zu Hooks Riesenteil. Sie wollte gerade die Hand nach dem Hengst ausstrecken, um dem Tier Ruhe und Geborgenheit einzuflössen, da wurde sie auf einmal unter den Armen gepackt und hochgerissen. Erschrocken quiekte sie, dann wurde sie auch schon auf dem breiten Sattel des Schlachtrosses abgesetzt. Die Fuchsstute, die nun keinen Reiter mehr hatte, wieherte verwirrt und stob dann davon. Das blieb von den Rebellen nicht unbemerkt. Es lösten sich drei menschliche Krieger aus den marschierenden Reihen und ritten auf ihren eigenen Pferden dem entflohenen Tier hinterher.
Sabrina drehte sich zu ihrem Entführer um. Sie rief: »Falk! Was soll denn das?«
Der Pirat lächelte sie spöttisch an und gab dem Rappen die Sporen. Das Schlachtross trabte los, ruhig und ohne zu bocken. »Ich dachte, das wäre ein Fall für den 'Pferdeflüsterer'...«
Gerne hätte Sabrina sich auf sein Spiel eingelassen, hätte irgendwas Schnippisches erwidert und ihrem verbalen Duell Leben eingehaucht, doch wie so oft warf sein Lächeln sie aus der Bahn.
Wie er den einen Mundwinkel leicht selbstgefällig hochzog, ebenso seine rechte Augenbraue. In seinen Augen lachte der Schalk voller Siegessicherheit.
Das schief-spöttische Lächeln, die bodenlosen Ozeanaugen und die Geschichte dahinter, die sie von Anfang an erahnt hatte. Falk hatte sie von Anfang an fasziniert...
»Wieso lächelst du eigentlich immer so?«, fragte sie nachdenklich. Sie lehnte sich an seine Schulter, hob den Arm und strich ihm über das haarige Kinn.
Falk fing ihr Handgelenk mit seinem Haken ein. Er sah sie verwirrt an. »Was meinst du?«
»Dein Lächeln«, antwortete sie. »Es ist so voller... Spott...«
Der Pirat runzelte die Stirn. »So? Ist es das?«
Sie nickte.
»Und ist das was... was Schlechtes?«, fragte er unsicher.
Sabrina lachte. »Nein, so habe ich das nicht gemeint. In gewisser Hinsicht ist es sogar ganz süss.«
Hook schüttelte den Kopf und rief: »Süss?! Das ist was Schlechtes!«
Sie verdrehte die Augen und meinte: »Nein. Ich mag dein Lächeln. Und jetzt hör schon auf mit deinem Ego-Piraten-Macho-Gehabe.«
Der Pirat grinste breit und zwinkerte ihr zu. Doch sein Gesicht verdüsterte sich schnell wieder. Er holte tief Luft und erklärte: »Dieses Lächeln... Das was du gerade gesagt hat, das... hat schon einmal jemand zu mir...« Er brach ab.
Sabrina hätte sich ohrfeigen können. Nicht schonwieder... »A-Arielle?«, krächzte sie leise.
Hook runzelte die Stirn. »Was? Nein. Wie kommst du denn darauf?«
Sabrina schüttelte den Kopf. Wieso? Wie kommst du auf so was?, fragte sie sich selbst in Gedanken. Verflucht! Hook war auf dem besten Weg, die Sache mit Arielle hinter sich zu lassen und sie erwähnte seine erste Liebe? Sehr feinfühlig...
»Wer... war es dann?«
Falks Blick verlor sich in einer fernen Erinnerung. »Es war Blackbeard. Kurz nachdem ich den Sohn des ersten Maats umgebracht hatte. Er hatte mich in die Captain-Kabine gebeten und mit mir geredet. Er hatte gesagt, ich würde einen tollen Piraten abgeben. Ich würde schon wie einer Aussehen. Wie ich lächeln würde. So spöttisch. Das sei wichtig, denn der Spott sei für die Piraten eine wichtige Waffe.«
Sabrina schmunzelte. Sie hatte auch schon mit dieser „Waffe" Bekanntschaft machen müssen. Dagegen gab es keinen Schild...
»Mit Spott können wir uns eine Maske bauen. Die eigene Furcht verstecken und sich mit dem Spott, diesem lebensmüden, wahnsinnigen, gleichgültigen, freudigen Vergnügen, über den Feind lustig machen. Mit dem Spott schüchtern wir unseren Gegner ein. Spott, dieser kleine, traurige, dunkle, feindselige Bruder der Freude. Der Spott war die erste Etappe in meiner glorreichen Laufbahn zum Piratencaptain.«
Sabrina versuchte in Falks Gesicht zu lesen, doch seine Miene war unergründlich. »Ich hätte das nicht sagen sollen. Ich schätze, du wirst nicht gern an Blackbeard erinnert.«
Der Pirat lachte und schüttelte den Kopf. »Aber nein! Sabrina, ich... ich muss dir das genauer erklären.« Er machte eine Pause. Vielleicht dachte er über seine Wortwahl nach, aber Sabrina kannte ihn zu gut. Falk hatte einen Hang zum Dramatischen, auch wenn er es sich selbst nicht richtig eingestehen konnte. Aber er genoss seine Kunstpause, um sie auf die Folter zu spannen. Schliesslich erklärte Hook: »Blackbeard war Pirat. Das Meer floss in seinen Adern. Er war Klyuss' Kind bis auf die Knochen. Ich bin auch ein Pirat. Das ist etwas, das ich für immer sein werde. Das ist meine Geschichte, mein Märchen. All meine Taten hängen an meinem Piratendasein und diese Schuld kann ich nicht ablegen. Du denkst vielleicht, dass ich Blackbeard hasse, schliesslich hat er mich zum Piraten und damit zu dem Monster gemacht, das ich so verabscheue.«
Sabrina nickte. Sie hatte tatsächlich angenommen, dass Falk den Mann, der ihn zum Piraten gemacht hatte, verabscheuen würde, doch Hooks Augen erzählten eine andere Geschichte.
»Blackbeard hat mir eine Chance gegeben. Nachdem ich den Sohn des ersten Maates getötet hatte, war ich natürlich nicht besonders beliebt bei der Mannschaft. Aber Blackbeard nahm mich unter seine Fittiche. Er lehrte mich das Kämpfen und brachte mir bei, ein Pirat mit Ehre zu sein. Ehre und Pirat, das scheint nicht zusammen zu passen, aber du täuschst dich. Auch für Piraten gibt es einen Ehrenkodex und der beinhaltet wohl die einzigen Regeln, die wir Piraten akzeptieren.«
»Du meinst also, Blackbeard hat... dir geholfen?«
Falk nickte. »Er hat mich beschützt, mich gelehrt und für mich gesorgt. Er hat mir sogar erlaubt, ihn mit seinem bürgerlichen Namen, Edward Thatch, anzusprechen, natürlich nur, wenn wir alleine waren. Er war so was wie ein Vater für mich... Als damals der Teufel, Wilhelm Grimm, auf der Jolly Roger auftauchte und die Crew auseinanderriss, hat er auch Blackbeard gebrochen. Er war nicht mehr derselbe. Er war zerstört. Ich hatte versucht, ihn dazu zu bewegen, mit mir zu kommen und die neue Crew anzuführen und die Black Swan unter sein Kommando zu nehmen, doch er wollte nicht. Also wurde ich Captain der Black Swan. Ich kannte nichts anderes und ich tat es ihm zu ehren.«
Sabrina schmiegte sich an seine Brust. »Wenn das alles vorbei ist, werden wir Blackbeard suchen. Wenn er noch lebt, soll er sehen, was aus dir geworden ist. Ihm zu Ehren hast du sein... ich muss zugeben, eher Fragwürdiges Andenken fortgeführt. Aber jetzt bist du ein Held. Vom Schurken zum Helden. Ich würde deinen... darf ich ihn als „Ersatzvater" bezeichnen?«
Falk nickte.
»Ich würde deinen Ersatzvater Blackbeard gerne kennen lernen.«
Falk sah sie forschend an, so als würde er überprüfen wollen, ob sie ihn reinlegen wollte. Als er erkannte, dass dem nicht so war, runzelte er die Stirn und fragte überrascht: »Das meinst du ernst? Blackbeard mag ein Vater für mich gewesen sein, doch er war auch ein... ein Pirat.«
»Das bist du auch.«
»Natürlich, aber... ich bin anders. Ich habe nie so kaltblütig sein können wie Blackbeard. Ich habe immer bereut, Scham empfunden und war von Selbsthass erfüllt. Blackbeard hat mir oft gesagt, das wäre eine Schwäche. Erst als meine Schwester... Das hatte mich so erschüttert, dass mir alles egal wurde. Da war auf einmal kein Mitleid mehr. Bedauern, Scham und Selbsthass waren zwar noch immer da, es war schlimmer denn je, aber ich habe den Schmerz angenommen und ihn vergraben. Ich denke heute, dass ich mich so für das war meiner Schwester passiert war, bestrafen. Ich habe mich bestraft... Blackbeard hatte das erkannt. Er hat mich gekannt. Auch wenn er Mitleid, Bedauern, Scham und Selbsthass als Schwäche bezeichnete, so kannte er mich und wusste, dass der Tod meiner Schwester mich kaputt gemacht hatte. Mitleid war ein Teil von mir gewesen, genau wie die Liebe zu... zu Arielle. Doch mit ihrem Tod ist dieser Teil von mit zerbrochen. Blackbeard hatte mich bremsen wollen, doch ich hatte das nicht zugelassen. Immer wieder hat er mich ermahnt, auf mich zu achten, damit ich mich nicht selbst verlieren würde, aber ich schlug alles in den Wind. Er hat versucht mich zu retten, aber aufhalten konnte er mich nicht.«
»Ich habe das Gefühl, du willst mich vor Blackbeard warnen, nur hast du mir noch immer nicht erklärt, wieso?«
Falk seufzte. »Blackbeard kannte mich zu gut, er wusste um mein Mitleid und meine Güte. Er hatte diese Eigenschaften als Schwäche gesehen, doch ich hatte ihm immer gesagt, dass dies keine Schwächen, sondern Tugenden wären, die ich niemals ablegen wollte. Als ich dann zerbrochen war, hat Blackbeard mich zwar versucht zu retten, alleine aus Liebe zu mir, um meinet Willen, aber... Ihm hat meine Veränderung auch gefallen. Immer hatte er meine Tugenden kritisiert und als ich sie dann verloren hatte, war ich seiner Hinsicht nach der perfekte Pirat. Blackbeard war wie ein Vater für mich, aber ansonsten war er kein guter Mensch...«
Sabrina hatte ihm aufmerksam zugehört. Schliesslich meinte sie: »Wir werden sehen. Blackbeard bedeutet dir etwas und das ist alles was zählt.«
Falk lachte und antwortete: »Wie Ihr meint, Prinzessin. Aber erst sollten wir diesen Krieg gewinnen, meint Ihr nicht?«
»Ja«, stimmte sie ihm zu. »Aber trotz allem dürfen wir das Träumen, Hoffen und Wünschen nicht vergessen...«

Uralte Fassung (1): Twos - Die Prophezeiung von Feuer und EisWhere stories live. Discover now