Prolog

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Prolog   

Der dünne Rauchfaden zieht sich durch den Raum, windet sich wie ein verendendes Tier, kräuselt sich in der Luft und verschwindet schliesslich in ihr.
Die Kerze ist erloschen. Lange hatte sie gebrannt, über neun Jahre. Neun Jahre, in denen sie mit ihrem strahlenden Licht des in das Wachs gesperrten Sonnenstrahls die Finsternis ferngehalten hatte, der nun nichts mehr im Wege steht. Nichts, nicht einmal der volle Mond, der vorbei an schneebedeckten Zweigen durch das Fenster in die Küche scheint. Sein weisses Licht ist kein Gegner für das, was kommen wird...
In dem Kerzenständer, auf dem die jüngsten Wachsrinnsale noch erstarren, spiegeln sich zwei Gesichter. Bleich und stumm wölben sie sich über das Silber.
Sie sitzen sich am Esstisch gegenüber. Frau und Mann, den Blick starr auf den schwarzen, gekrümmten Docht geheftet. Als sie zueinander aufsehen, ist es wie ein lautloses Gespräch. Worte brauchen sie keine, dafür kennen sie einander zu gut und steht ihr Beschluss zu lange.

Sie brechen auf in eine sehr stille Nacht. So still, wie sie es hier noch nie erlebt haben. Hier, in dieser Zeit, in dieser Welt, in der Ruhe mittlerweile fremd erscheint. Früher waren stille Nächte normal gewesen, denn bei Nacht schlief man.
In der Nacht.
Denn die Nacht gehörte anderen Wesen. Diese Schwärze war jenen vorbehalten, deren Herzen dunkel und die Seelen verdorben waren. Die Nacht gehörte allem Bösen.
Doch hier sieht man sie ihre eigenen Gesetze brechen, wie die zwei, Frau und Mann, in den Armen Tochter und Sohn tragend, hastig durch den Schnee rennen, in der Dunkelheit.
Die Kinder schlafen tief, sie bemerken nicht die Sorgen der Eltern, die Kälte dieser Nacht oder gar das Grauen, das aus der Tiefe anderer Welten herannaht, um zu verschlingen, was es schon seit Jahrzehnten jagt. Heute wird diese Suche enden, denn der Jäger hat wieder eine Spur, heute ist die Kerze erloschen und seine Beute weiss; das Verstecken hat ein Ende. Selbst die Flucht ist sinnlos, doch die Gejagten bangen nicht um ihr Leben. Sie fürchten nicht ihren eigenen Tod. Das einzig Wichtige ist ihr Vermächtnis, das sie mit ihrem Leben beschützen.
Die Zeit drängt. Frau und Mann flüchten weiter die Strasse entlang durch diese schicksalshafte Vollmondnacht. Die dünne Schneeschicht auf dem Asphalt dämpft die  gehetzten Schritte, der Wind zerfetzt ihre Atemwolken, das Grauen rückt näher...
Eine Strassenlampe flackert, denn die Birne wird bald durchbrennen. Nur eine Glühbirne aus Glas und Metall, doch Mann und Frau zucken zusammen.
»Nur die Laterne, die Birne, sie wird durchbrennen...«, flüstert der Mann. Sein Gesicht liegt im Schatten der Kapuze seiner Jacke. Er ist gross, scheint athletisch, aber auch etwas drahtig zu sein, was sich jedoch nur erahnen lässt. Er ist dank langem Kapuzenmantel, Schal, Handschuhen und Winterstiefeln ein Vermummter. Man könnte fast meinen, er würde sich auf einen Blizzard vorbereiten, so viel wärmender Stoff bedeckt seinen Körper. Dabei ist dieser Winter zwar kalt, aber verhältnismässig milde.
Dagegen ist die Frau klar zu erkennen. Sie ist klein und ihre Haut ist weiss wie der Schnee zu ihren Füssen. Trüge sie etwas Helles anstelle des dunklen Pullovers und der Jeans, wäre sie leicht zu übersehen. Anders als ihr Begleiter scheint sie die Kälte kaum wahrzunehmen.
Die kühlen Augen der Mutter sind forschend auf die Laterne gerichtet, als könnte sie nicht glauben, dieses Flackern wäre nur einer altersschwachen Birne zuzuschreiben. Schliesslich stimmt sie dem Mann jedoch zu. »Nur flackerndes Licht«, zischt sie kopfschüttelnd, wie um sich selbst für ihre Schreckhaftigkeit zu tadeln. Nervös blickt sie sich um. Das Grauen ist ihnen auf den Fersen, das kann sie spüren. Als könnte sie sich so vor dem grausamen Jäger unsichtbar machen, zieht sie sich die Kapuze des Pullovers über das blonde Haar. Sie weiss, das wird sie nicht vor ihrem Feind bewahren, doch wenigstens beruhigt die Illusion von mehr Sicherheit ihren ruhelosen Verstand.
Der Vater kommt der Frau näher, lehnt seine Stirn an die ihre und flüstert: »Es ist nur flackerndes Licht. Keine Angst. Er... ist noch nicht hier! Das Portal hat sich eben erst geöffnet. So schnell ist er nicht.« Er löst sich von ihr und senkt den Blick auf das Kind in seinen Armen. Er drückt seinen Sohn fest an sich, als würde er ihn zum letzten Mal berühren. Auch die Mutter widmet sich ihrer Tochter. Nur für einen kleinen Moment, um Kraft zu schöpfen. So wenig Zeit bleibt ihnen noch für ihre Kinder...
»Weiter. Er wird noch kommen...«, flüstert sie, als sie es endlich schafft, den Blick von dem schlafenden Mädchen in ihren Armen abzuwenden.
So hasten sie weiter, rennen über Schnee und Strassen, durch die Nacht, auf der Flucht.
Vor wem?
Vor was?
Und noch immer ist die Nacht so still. Der Schnee fällt weiter und glitzert im Licht flackernder Strassenlampen.
Auf einmal knickt die Mutter um, sie taumelt, droht zu fallen, doch ihr Mann ist schnell, hat Reflexe wie eine Raubkatze und verhindert ihren Sturz. Die Frau nickt ihm dankbar zu. Ihr Atem geht schnell, ihr Herz rast.
»Gib sie mir«, murmelt der Vater ihr zu. »Sie ist zu schwer für dich...« Er streicht über die Wange des kleinen Mädchens.
Die Frau schüttelt den Kopf. Sie richtet sich auf, drückt ihr Kind nur noch fester an ihre Brust. »Nein, ich...«
Er stellt sich ihr in den Weg. »Wir haben keine Wahl...«, flüstert er traurig.
Die Frau zögert. Schliesslich schluckt sie schwer und übergibt das Kind dem Vater. Nun trägt der Mann beide Geschwister. Er hält sie fest, schützt sie vor Kälte und Schnee, lässt sie nicht los.
Erneut beginnen sie zu rennen. Sie sind erschöpft, doch der Gedanke an das Wesen, das sie jagt, lässt sie durchhalten und schneller werden.
Irgendwann bleiben sie keuchend stehen. Sie sind angekommen. Hier, vor einem Haus, alt und ein wenig heruntergekommen. Die Wände sind mit Graffiti beschmiert, die Fenster von aussen vergittert, eine eingeschlagene Scheibe ist nur mit Pappe verklebt, damit die Kälte nicht hineinklettern kann. Neben dem Haus liegt ein kleiner Parkplatz, auf dem kein Auto steht. Über der mittleren der drei Parkflächen hängt ein Basketballkorb ohne Netz. Rostiger Maschendraht umzäunt einen verwilderten Garten. Drei Stufen führen zu einer Flügeltür, an der sich die verblichene Farbe abblättert. Daneben hängt ein Schild: Kinder-undJugendheim Weisstein
Die Eltern mustern das Gebäude. Ihre Mienen verdüstern sich.
»Das ist es?«, fragt die Frau und wird bleich. Noch bleicher, als die beinahe weisse Haut ohnehin schon ist...
Der Mann legt den Kopf in den Nacken und sieht hinauf. Geschätzte fünf Meter hoch ist das Haus. Es steht etwas abseits von den anderen Bauten hier. Obwohl es eine komplette Sanierung dringend nötig hätte, sieht es im Vergleich zu den Nachbarhäusern beinahe schon akzeptabel aus. Dies ist ein schlechtes Stadtviertel und alle anderen Häuser sind genauso, wenn nicht sogar schlimmer verdreckt.
»Ja, ich glaube schon«, murmelt der Mann. Fast wirkt es, als widerstrebe ihm diese Feststellung.
»Wir können sie nicht...«, beginnt die Frau zu protestieren und wendet sich zum Gehen, doch der Mann unterbricht sie: »Wir haben keine Wahl. So muss es sein...«
Die Frau schliesst die Lider. Sie muss sich sammeln. Erst als sie sich wieder im Stande fühlt, weiterzumachen, öffnet sie ihre Augen wieder und tut, was sie tun muss. Sie geht auf das Haus zu. Schweren Schrittes steigt sie die Treppe zur Tür hinauf. Es sind nur drei Stufen, doch sie fühlen sich an, wie Berge, die es zu erklimmen gilt...
Der Vater folgt ihr. Als er neben der Mutter steht, beugt er sich zu ihr herab und legt ihr das Mädchen, das er ihr zuvor abgenommen hatte, wieder in die Arme. Er wendet sich wieder der Eingangstür zu, hebt die Hand und pocht zweimal dagegen.
Sofort wird die Tür aufgerissen und die Eltern treten ein.

Uralte Fassung (1): Twos - Die Prophezeiung von Feuer und EisWhere stories live. Discover now