Kapitel 61 - In der Schwebe

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Kapitel 61

In der Schwebe


~Mile~

Mile war innerlich taub. Da war nichts. Nichts, was ihn bewegte, nichts, was ihn berührte.
Nichts...
Er blinzelte.
Etwas Helles leuchtete ihm in die Augen. Er wollte den Kopf wegdrehen, doch etwas hielt ihn fest.
Er verstand nicht, was geschah.
Ganz langsam wurde ihm klar, was da so unangenehm hell war. Eine Kerze. Eine Kerze, deren Flamme ganz nah vor sein Gesicht gehalten wurde. Und es blendete ihn.
Die Kerze wurde weggenommen und wieder blinzelte Mile, denn nun war es wieder viel dunkler...
Etwas anderes näherte sich seinem Gesicht. Grosser Hut, grüne, irgendwie irre Augen, dunkelblondes Haar, das seinem Besitzer über die Stirn hing, da es schon lange mal wieder gekürzt werden sollte.
Langsam erkannte Mile das Gesicht. Jeremy Topper. Der Hutmacher...
Jeremys Mund bewegte sich, doch Mile verstand kein Wort. In seinem Kopf rauschte es.
Des Hutmachers Stirn legte sich in Falten. Sorgenfalten.
Dann drängte sich der Kopf seiner Schwester in sein Blickfeld. Ihre Augen waren ganz rot und verquollen. Ihr Haar war völlig zerzaust.
Er spürte die Erschütterung, als Sabrina sich an seine Brust warf und ihn umklammerte. Ihr Körper bebte.
Mile verstand nicht. Wieso? Woher kam das Rauschen, das alles übertönte? Warum... warum waren seine Gedanken so träge?
Mile drehte den Kopf und sah, dass er auf einer hölzernen Fläche lag. Nicht weit von der Holzplatte entfernt standen Leute. Er brauchte ungewohnt lange, um sie zu erkennen. Der Pirat und seine Red. Und noch mehr Wesen. Amiėle, Orion, Azzarro... Ja, der ganze Rat schien hier zu sein. Und jedes Mitglied hüllte sich in düsteres Schweigen.
Mile konzentrierte sich darauf, was sich im Hintergrund abspielte.
Sie schienen sich alle in einem besonders grossen Zelt zu befinden. Der Stoff war dunkelblau, fast schwarz. Ein paar simple Möbelstücke wie Bücherregale und Schränke standen auf einen unebenen Untergrund, der mit Teppichen ausgelegt war. Kerzenständer erhellten den Raum spärlich. Eine Art Altar stand quer im Raum, als hätte man ihn hastig zur Seite geschoben. Gehetzte Schatten flackerten an den Wänden, als würden viele Leute schnell um das Zelt rennen...
Plötzlich war da etwas Dumpfes und Drückendes auf seiner Brust. Er senkte seinen Blick und beobachtete, wie seine Schwester auf seine Brust eintrommelte. Sie wirkte völlig unkontrolliert. Ihre Augen hatte sie fest zugekniffen, ihr Kopf war hochrot. Wo ihre Fäuste auf seine Brust trafen, schoss der Frost über den Stoff seines Hemdes.
Das Hemd... Wieso war es so fleckig und rot?
Sabrina wurde von ihm runtergezerrt. Hook hatte sie gepackt und hochgehoben. Sie wehrte sich und schlug um sich, doch Falk verzog keine Miene. Sein Gesicht blieb ausdruckslos, sein Blick war eigenartig starr, doch Sabrina liess er nicht los. Irgendwann hörte sie auf, sich zu wehren und sackte in seinen Armen zusammen, als würde sie mit einem Schlag alle Kraft verlassen. Falk liess sich ein Stück mit ihr zu Boden gleiten, dann stemmte er sie in die Höhe und trug sie zu der Holzplatte, auf der er lag.
Erst dachte Mile, der Pirat würde Sabrina neben ihn legen, doch das tat er nicht. Stattdessen griff er nach einem anderen Möbelstück, das sich unter der Holzplatte befunden haben musste. Ein Stuhl. Vorsichtig half Hook Sabrina, sich zu setzen. Dann setzte auch er sich neben sie und umschlang sie mit seinen Armen.
Ein Tisch, schoss es Mile durch den Kopf. Ich liege auf einem Tisch.
Irgendwie erfreute es ihn, diese Erkenntnis gewonnen zu haben und er lachte leise.
Sein Lachen schien Red, die sich nun neben Jeremy Topper gestellt hatte, aufzuschrecken und sie begann auf den Hutmacher einzureden, der aber nur stumm den Kopf schüttelte. Als wäre er eine Art Doktor, beugte sich der Hutmacher nun vor und wedelte mit einer Hand vor Miles Gesicht herum. Seine Augen folgten der behandschuhten Hand mit den bunten Fingerhüten, dann richtete er den Blick wieder auf den Hutmacher.
Was war denn los?
Als nächstes schnippte Jeremy Topper neben seinen Ohren mit den Fingern. Doch Mile nahm das Geräusch nicht wahr, er erkannte nur die Bewegung.
Nun tauchte ein Junge mit blonden Locken neben Red auf. Auf seiner rechten Schulter sass ein riesiger, schwarzer Rabe und in seinen Armen lag ein kleines, weinendes Mädchen. Tatze, Mondkind und einer der Rabenbrüder, teilte ihm sein Gehirn träge mit. An der Grösse des Vogels erkannte Mile, dass es sich um Nimmertiger handelte.
Tatze stellte ein volles Glas Wasser neben Miles Kopf ab und lächelte gequält.
Mile wollte nicht trinken. Mile hatte keinen Durst. Mile spürte innerlich nichts.
Nun piekte der Hutmacher ihm in den Bauch und in die Seiten, aber er fühlte kaum etwas.
Mile drehte den Kopf. Er hatte genug. Man sollte ihn in Ruhe lassen. Er war... so erschöpft. Er schloss die Augen.
Kalt. Nass.
Auf einmal machte sein Herz einen Satz und Mile schreckte hoch. Das Rauschen war weg, alles weg, weg, weg...
Und es war so laut und so hell! So viele Schreie, so viel Klage... Viele, viele Gerüche stachen ihm in die Nase und betäubten ihn fast. Schwerer, dämpfiger Weihrauch, Angst-und Stressschweiss, frisches, heisses, metallisches Blut und bittersalzige Tränen...
Und dann fiel er hin und fühlte Teppichfasern unter seinen Fingerkuppen. Weiche, ölige Baumwolle...
»Mile! Mile, bitte hör auf. Bitte hör auf! Hör auf zu schreien!«
Er erstarrte... und klappte den Mund zu. Er hatte gar nicht bemerkt, dass er geschrien hatte...
»Kannst du mich hören, mein Junge?« Das war Jeremy Toppers Stimme.
Mile blinzelte heftig und sah sich nach dem Hutmacher um. Er war erleichtert, als er ihn gleich neben sich entdeckte.
»J-ja«, murmelte Mile. Sein Hals fühlte sich komisch an.
»Komm und setz dich«, meinte Jeremy und Mile konnte Erleichterung in seiner Stimme hören.
Im nächsten Moment wurde er auch schon auf einen Stuhl geschubst. Erst jetzt bemerkte er, dass Red ihn an seinem Hemdskragen gepackt hatte. Er spürte, wie sein Nacken schon von dem Stoff gescheuert war, so fest hatte sie zugepackt.

Uralte Fassung (1): Twos - Die Prophezeiung von Feuer und EisOnde as histórias ganham vida. Descobre agora