Kapitel 76 - Alles ist gut

1.2K 61 91
                                    





Kapitel 76

Alles ist gut


~Sabrina~

Es war friedlich.
Orangenrote Ziegeldächer reckten sich der Mittagssonne entgegen. Hier und da kringelte sich Rauch aus einem Kamin und verlor sich in den Höhen. Auf den Strassen herrschte geschäftiges Treiben. Es drang bis zu ihr hoch, das Rufen der Marktschreier, die fröhlichen Melodien der Strassenmusiker und das Hämmern und Sägen der Handwerker, die mit dem Wiederaufbau der Stadt alle Hände voll zu tun hatten.
Ein Monat war vergangen. Ein Monat, dessen erste Hälfte noch ziemlich grässlich gewesen war, da sie die meiste Zeit damit beschäftigt gewesen waren, die Leichen einzusammeln, Scheiterhaufen zu errichten und jene zu jagen, die nach zweieinhalb Jahrhunderten noch immer nicht genug Blut vergossen hatten. Ein Monat, in dessen zweiter Hälfte auf einmal alles besser geworden war. Am ersten Tag der dritten Woche hatte es zu regnen aufgehört und als der Kriegsherr des Himmels, wie Mile ihn nannte, seine Schlacht beendet hatte, war auch das Kämpfen auf Tempus' Strassen vorbei. Hier und da tauchte noch immer der ein oder andere giftspuckende Kopf auf, den es abzuschlagen galt, aber diese Fälle waren mittlerweile selten.
Tempus erholte sich von der Schreckensherrschaft der Dunklen und vom Krieg. Langsam, aber mit unglaublicher Freude und Hoffnung.
Die Bewohner Tempus' hatten Schlimmes durchgemacht. Vermutlich mehr als alle anderen Twosi und Twosa. Sie hatten im Epizentrum des Chaos gewohnt, hatten in ständiger Angst leben, die Launen und Schikanen der Dunklen ertragen, für die Usurpatoren buckeln und den öffentlichen Hinrichtungen beiwohnen müssen. Einige von ihnen hatten nie etwas anderes gekannt, waren in diese düstere Zeit hineingeboren worden. Vergessen hatten sie das alte Tempus jedoch nie. Zu verdanken war das jenen, die sich gegen die Tyrannei gewehrt und den Mund aufgemacht hatten. Tapfere Widerstandskämpfer! Dabei hatte sie den Herzkasper damals verspottet, als er ihr von der Mission des Widerstands, dem Bewahren der Erinnerung an die Herrscher der Gezeiten, erzählt hatte. Wie falsch sie damals gelegen war...
Sabrina seufzte. Ein Seufzer, der einerseits den Stress, genährt durch den Druck, der auf ihr lastete und die Alpträume, die sie mal wieder um ihren Schlaf brachten, in ihrem Inneren abbauen sollte und andererseits auch so etwas wie Zufriedenheit ausdrückte, denn eigentlich war endlich alles gut... Sie lehnte sich vor, stützte die Ellbogen auf das Fenstersims und blinzelte nach oben, wo, von den Winden des Sturmglases getragen, die Jolly Roger schwebte. Von ihr führte eine Strickleiter direkt in ihr Zimmer, wo sie an den Pfosten ihres Himmelbetts mit achtfachem Seemannsknoten festgezurrt war. Der Anker steckte ein Stockwerk höher in der steinernen Palisade eines Balkons.
Eine der Sprossen scharrte über das Fensterbrett - jemand stieg die Leiter herab.
»Wo ist das Sicherheitstau?«, mahnte sie ihn, als er neben ihr ins Zimmer sprang.
»Unsinn, ich brauche kein Tau.«
Sie seufzte. »Pirat, ich weiss, du hältst das für unnötig, aber nur bis du tatsächlich fällst! Kannst ja Mile fragen, wie das war...«
»Prinzesschen, ich habe es 1200 Jahre ohne überlebt, da wird es mich jetzt auch nicht umbringen«, schnurrte er, lächelte spöttisch und schlug den niegelnagelneuen Mantel zurück. Er hatte sich einen neuen schneidern lassen, da sein alter unauffindbar war. Der neue war aus schwarzem Wildleder, hatte dunkelrote Nähte, silberne Knöpfe, breite Ärmelumschläge, einen gewohnt weiten Kragen und reichte ihm knapp über die Knie. Da er massgeschneidert war, passte er auch einfach viel besser als sein alter, obwohl sie das olle Lederding wohl vermissen würde.
Falk sah gut aus. Seine Schrammen waren beinahe gänzlich verheilt und er strotzte wieder vor Energie und Dreistigkeit, wenn er in den letzten Wochen auch etwas in sich gekehrter wirkte und mehr Zeit für sich brauchte. In solchen Momenten zog er sich meist auf die Jolly Roger zurück und sie liess ihn, schliesslich hatte auch er viel zu verarbeiten... Er hatte wieder begonnen, ein Logbuch zu führen, wie während seiner Abenteuer auf See. Das war ja eigentlich eine gute Sache und vermutlich seine Art, mit all diesen traumatischen Erlebnissen klarzukommen, aber sie hatte ihn auch schon einige Male mit düsterer Miene auf die Seiten starren sehen, was ihr irgendwie ein schlechtes Gefühl gab. Gestern hatte sie es geschafft, ihm über die Schultern zu linsen, bevor er seine Niederschrift vor ihr hatte verdecken können. Viel hatte sie nicht lesen können. Nur die Worte Sterblich, Schlüssel und Schicksal, da er diese mit dicken Linien markiert und grossen Lettern geschrieben hatte. Als sie ihn darauf angesprochen hatte, war seine Reaktion etwas ruppig gewesen. Logbücher zu lesen sei genauso verwerflich wie Gedanken. Natürlich hatte sie sich gleich entschuldigt und er hatte das gleiche wegen seiner Barschheit getan und sie hatten entschieden, nicht weiter darüber zu diskutieren. Sie hoffte nur, er würde über die Dinge, die ihn besorgten, reden würde... Wenigstens war er offener, wenn es um seine äusserlichen Wunden ging...
»Zeig her, hat sich was verändert?«
Sofort legten sich Schatten über seine Augen und beinahe zögerlich hob er seine Hand, biss in die Spitze des Mittelfingers, zog den Handschuh ab und streckte ihr die Innenfläche entgegen.
Sabrina biss besorgt die Zähne aufeinander und rollte mit spitzen Fingern die Bandage ab. Ungesund schwarz grinste sie ihr entgegen, diese grässliche Bisswunde des Fuchses aus der Starre...
»Bevor du fragst: Aye, ich hab Valyns Salbe draufgetan, jeden Tag zweimal. Morgens und abends.«
Sie schluckte. »Scheint sich nichts getan zu haben. Vielleicht solltest du noch einen anderen Hellelf aufsuchen? Oder einen Medici?«
Er entzog ihr die Hand. »Nein, geht schon. Die Sanitäter und Heiler haben genug mit denen zu tun, die wirklich Hilfe brauchen. Da bin ich mit meinem Kratzer fehl am Platz.«
Sabrina wusste, dass er Recht hatte, die Krankenstationen quollen über, man hatte sogar schon notdürftige Lazarette auf den Strassen aufgestellt. Vor allem jene, die die letzten Jahre in den Kerkern und Verliessen verbracht hatten, was der Grossteil der nichtmenschlichen Bevölkerung Tempus'- oder das, was die Dunklen davon übrig gelassen hatten - gewesen war, brauchte dringend Hilfe. Sowohl medizinische als auch psychologische. Da war kein Platz für einen Piraten mit Bisswunde an der Hand und doch war Sabrina diese Verletzung einfach nicht geheuer...
Sie half ihm, die Hand wieder zu verbinden, als er murmeln begann: »Da... ist noch etwas, das ich dir zeigen wollte...«
Sie wurde hellhörig. »Klar, was ist es denn?« Fix machte sie einen Knoten.
Er liess den Verband wieder in seinem Handschuh versinken und begann zögerlich etwas zu murmeln, was sie nicht verstand. »Wie bitte?«
Er blieb ihr eine Antwort schuldig, denn es klopfte und Miles Stimme drang durch die Tür: »Pizzaservice. Sie haben Pizza bestellt, Pizza Fungini?« Sein italienischer Akzent war grässlich.
Sie seufzte. Immer im falschen Moment.
»Schon gut, Prinzessin, Ihr müsst Euren Pflichten nachgehen. Wir sehen uns ja später«, meinte er mit einem milden Lächeln, hinter dem Sabrina jedoch ganz genau erkannte, dass etwas nicht stimmte...
»So leicht kommst du mir aber nicht davon, du erzählst mir das später noch!«, mahnte sie ihn, während sie zur Tür ging und den Knauf drehte.
»Olà chica!«, rief Mile und schnitt eine Grimasse.
»Das war Spanisch«, murmelte sie, unterdrückte ein Grinsen und knuffte ihn in die Seite.
»Ich bin halt ein multilingualer Pizzabote!« Mile war schrecklich aufgedreht. Die allgegenwärtige gute Laune war für ihn wie zu viel Sonne.
»Und wo ist dann die Pizza?«
»Ein multilingualer Pizzabote mit Demenz. Die Pizza habe ich doch glatt vergessen!«
Sie verdrehte die Augen. »Ohjee! Ich hoffe nur, der Rest des Rates hat heute nicht auch Clown zum Frühstück gegessen...«

Uralte Fassung (1): Twos - Die Prophezeiung von Feuer und EisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt