Kapitel 30 - Geheimnis ohne Zeit

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Kapitel 30

Geheimnis ohne Zeit


~Mile~

»Drei Tage wühlen wir jetzt schon in diesem Gemäuer. Ich habe beinahe zwanzig Bücher durchgelesen! So viele hab ich in meinem ganzen Leben noch nicht einmal in der Hand gehabt!«, brüllte Grumpy und trat in einen Stapel Bücher, der polternd umkippte und eine Staubwolke aufwirbelte.
Mile stand von seinem unbequemen Stuhl auf. Sein Körper fühlte sich ganz steif an. Er lief zu dem missgelaunten Zwerg und begann die Bücher wieder aufzustapeln, die Grumpy umgestossen hatte.
»Musst du denn gleich die Bibliothek verwüsten? Die Bücher haben dir nichts getan.«
Der Zwerg schnaubte. »Ich hätte mich nicht bereit erklären sollen, dir zu helfen. Nichts für Ungut mein Lichterlord.«
Mile verstand den Zwerg ja. Ihm selbst brummte ja auch schon der Schädel vor all den Büchern, doch was er las, war viel zu interessant, als das Mile sich darüber aufregen konnte. Das erste Mal erfuhr er etwas über diese Welt, die Herrscher und der ganze Rest. Das erste Mal verstand er.
Twos war eine Welt, die neben der sterblichen Welt existierte. Während es in der sterblichen Welt keine Magie gab, so strotzte die Märchenwelt nur von ihr. Magie.
Die Welten musste man sich wie zwei Strassen vorstellen. Sie liefen nicht parallel zueinander, was die Zeit beeinflusste. Die sterbliche Welt verlief schnurgerade, während die magische Welt wie eine plattgestampfte Achterbahn aussehen musste. Darum war ein Monat in der sterblichen Welt gleich einem Jahr in der Märchenwelt. Dieses Phänomen wurde „Der Strom der Zeit" genannt. Und diesen Strom der Zeit musste man sich als Fluss vorstellen, der zwischen den Strassen hindurchfloss. Ein Fluss aus Zeit, sozusagen.
Dann gab es da noch die Portale, mit denen man in die anderen Welten gelangte. Ein Portal wie das, durch welches Sabrina und er in diese Welt gelangt waren. Diese Portale tauchten immer im gleichen Takt auf und schlossen sich gleich darauf wieder. Die Portale waren wie Brücken, die über dem Zeit-Fluss aufgebaut wurden, doch überquerte man diese Brücken nicht rechtzeitig, so spülte der Fluss sie hinfort. Doch die Brücken konnte auch nicht jeder überqueren. Nur wer Magie in sich trug, oder damit in Berührung kam, konnte durch die Portale hindurch schreiten. Ohne Magie wurde man vom Strom der Zeit zerrissen.
De Strom der Zeit war vor unzähligen Jahren (unzählige in beiden Welten) gebildet worden. Von vier Herrschern. Vier. Die Urherrscher, wie man sie nannte. Zwei Frauen und zwei Männer. Mehr wusste er über die vier Herrscher nicht. Er wühlte nun schon seit er das erste Mal von den Urherrschern gelesen hatte, in Bücherregalen und Stapeln, fand aber keine weiteren Informationen. Es war zum verrückt werden!
»Wenn du nicht gerne liest, dann lass dich doch bei den Aufräumarbeiten einteilen. Oder bei den Pflegern der Schlafenden! Die brauchen sicher noch Hilfe«, neckte ihn Happy.
Der Doc stöhnte und zischte von seinem Ohrensessel zu ihnen herüber: »Jungs, haltet den Rand! Wir sind hier in einer Bibliothek! Da flüstert man!«
Happy verdrehte die Augen und widmete sich seinem Buch. Den Titel konnte Mile nicht entziffern doch auf dem Buchdeckel war das Bild von einem Auge und einem Pentagramm zu erkennen.
Mile lächelte. Red, die sieben Zwerge und einige anderen Rebellen hatten sich ihm angeschlossen, als er verkündet hatte, Informationen in der Bibliothek zu sammeln. Er selbst hatte die Auslese der Freiwilligen streng beobachtet. Die Arbeit die sie hier verbrachten war äusserst wichtig und streng geheim. Falls ein Lichterlord tatsächlich Fähigkeiten besass, von denen nicht einmal alte Völker wie die Drachen, Zwerge oder Elfen wussten, so durften dieses Wissen auf keinen Fall zu den Dunklen durchdringen. Top Secret also.
Nun huschten um die dreissig ausgelesene Helfer in der alten, verstaubten Bibliothek herum, die alle über dicken Büchern brüteten. Ihr Ziel? Infos über alles zu finden, was den Rebellen helfen könnte, die Dunklen zu besiegen. Infos über Flüche, wie diesen vermaledeiten Dornröschenschlaf. Infos über die Herrscher. Infos über ihn. Mile. Den Lichterlord. Infos über ihn und seine Schwester. Über seine Familie, egal ob schon lange tot oder in der Zukunft.
Bisher waren sie noch nicht wirklich fündig geworden. Hier und da hatte Mile sich ein paar der dicken Wälzer auf die Seite gelegt. Ein Geschichtsbuch, einige Chroniken, Lexikons und andere Sachbücher, aus denen er vielleicht noch mehr über diese Welt lernen konnte. Doch das meiste davon war für die Zwecke der Rebellen von Wert.
Buch um Buch stapelte Mile die am Boden liegenden Bücher wieder zum Turm. Warum musste Grumpy auch immer gleich so ausrasten?
Er legte „Zaubertränke brauen für Amateure" auf „Klingentornado" und „Rührei mit Dracheneiern" auf „Vampir und Mensch - Der Beziehungsratgeber". Er grinste. Das letzte Buch konnte doch nicht wirklich ernst gemeint sein! Twilight Real Life oder was?
Er nahm das Buch in die Hand und sah sich den Einband genauer an. Der Titel prangte in neutraler, weisser Schrift auf dem Deckel. Der Hintergrund war schwarz. Unter dem Titel war ein Vampirgebiss gemalt, das eine rote Rose zwischen die spitzen Beisser geklemmt hatte. Das Buch war richtig dick und das Papier war fleckig-gelb und sehr alt. Eigenartig... Abgesehen vom Einband schien das Schriftwerk älter zu sein als alle Bücher in dieser Bibliothek zusammen! Es roch sogar richtig alt. Modrig und nach Staub.
Mile schlug es auf.
Die Schrift war verschlungen, die Buchstaben mit schwarzer Tinte auf raues Papier geschrieben. Die Anfangsbuchstaben der Kapitel waren golden, hervorgehoben und verziert. Als Mile es durchblätterte stellte er fest, dass man immer wieder Bilder auf die Seiten gezeichnet hatte. Eines der Bilder fing sofort seine Aufmerksamkeit ein, als wäre sein Geist eine Biene, die von den bunten Farben des Blattes angezogen wurde.
Auf dem Bild war ein Baum zu sehen. Wie das Bild eines Kindes, so sah man einen Schnitt durch die Erde. Oben in der Höhe das Dickicht grüner Blätter und unten in der Erde rankten sich die Wurzeln. Über ihm schwebte eine Schildkröte, wie Mile sie schon hinter einem Panzerglas durch klares, blaues Wasser hatte schwimmen sehen. Im Zoo...
Links und rechts von dem Baum standen zwei Personen. Die Person rechts war klein und schmächtig. Und wunderschön. Es war eine Frau. Langes, blondes Haar wurde ihr, von einem Windstoss erfass, aus dem bleichen, feinen Gesicht geweht. Der silberne Kranz um ihren Kopf, konnte das goldene Haar nicht bändigen. Der Körper war in ein weisses Kleid gehüllt, das ebenfalls vom Wind mitgerissen wurde. Sie stand aufrecht da, den Oberkörper dem Betrachter zugewandt. Den Kopf hatte sie nach rechts gedreht. In den Händen hielt sie Pfeil und Bogen, mit denen sie Richtung Bildrand zielte.
Eisprinzessin.
Die Person, die rechts vom Baum stand, war er...
Der Lichterlord war gross. Seine Haare standen ihm wild vom Kopf ab. Auch er trug einen Kranz um den Kopf, doch der war schwarz wie Russ und stand lichterloh in Flammen. Er steckte in einer dicken, schwarzen Lederrüstung, die überall mit goldenen Flammenzungen verziert war. Der Mann stand da, wie die Herrscherin links von ihm. Aufrecht und kampfbereit. Sein Kopf war nach links gedreht. An seinem linken Arm war ein Schild befestigt. Den rechten hielt er in die Höhe, ein Schwert gen Himmel reckend.
Lichterlord.
Verwirrt starrte Mile das Bild an, bis er sie sah.
Die Anderen.
Die anderen Urherrscher.
Dort, wo der Baumstamm sich aufteilte in ein Netz aus Ästen, dort stand eine Frau. Und unten, in der Erde, zwischen dem Chaos aus Wurzeln, war ein Mann vergraben. Mit dem Kopf nach unten...
Die Frau im Baum schien zu schweben. Erst als Mile näher hinsah, erkannte er, dass sie von vielen winzigen Vögeln getragen wurde, die sich an ihr Kleid krallten. Ihre Haut hatte die Farbe von sanftem Karamell und ihr langes, schwarzes Haar fiel ihr in einem kunstvollen, geflochtenen Zopf um die schmale Schulter. Blumen waren in das dunkle Geflecht gesteckt worden. Sie war klein, kleiner als die Eisprinzessin. Auch sie war schlank. Bunter Stoff, der immer wieder mit Gold versetzt war, umschlang ihren Körper. Jetzt erkannte Mile auch, dass es kein Kleid war, was sie trug. Die Frau trug einen Sari, wie die Frauen in Indien. Auch ihre Haltung erinnerte an das Land der sterblichen Welt. Ihre Arme hatte sie in die Höhe gereckt, die Handflächen über dem Kopf aneinander gelegt. Sie sah nach oben, hinauf zu der Schildkröte, die aus unerfindlichen Gründen über dem Baum schwebte. Eine Waffe schien die orientalische Frau nicht zu besitzen.
Wer war diese Frau? Wenn sie eine der Urherrscher war, warum gab es in dieser Zeit nur noch zwei Herrscher?
Da er wohl kaum auf die Antwort der Frage kommen würde, wenn er weiterhin die Inderin anglotzte, wandte er sich dem Mann zu, der in der schwarzen Erde vergraben war.
Um den Mann herum lagen Knochen. Bleich und weiss klemmten sie zwischen den Wurzeln. Der Mann selbst war grösser als die Frau im Baum, jedoch kleiner als der Lichterlord. Seine Haare waren braun und glatt. Sie sahen aus, als hätte der Mann sie sich an den Kopf gegelt, denn sie klebten platt an seinem Kopf. Sein Gesicht war schmal und seine Wangenknochen traten stark heraus. Seine Hautfarbe sah sehr ungesund aus, aschfahl war das richtige Wort. Seine Gesichtszüge hatten etwas brutales, das sah man, obwohl der Mann den Kopf in den Nacken gelegt hatte, als würde er durch die Erde über den Bildrand hinausblicken könnte. Er trug ein schwarzes Hemd, schwarze Hosen und schwarze Stiefel. Dazu kam ein blutroter Umhang, dessen Stoff ihm von seinen Schultern herabhing... oder hinaufstreckte, als wäre die Erdanziehung ein Witz.. Die Gesetze der Schwerkraft schienen hier nicht zu gelten. Was die gruselige Erscheinung des Mannes noch untermalte, war der Totenkopf in seiner linken und die Sense in seiner rechten Hand.
Die vier Urherrscher. Das waren sie also. Er hatte das Buch also gefunden. Das Buch der Bücher.
Er klappte es zu und untersuchte den Einband. Er schien draufgeklebt worden zu sein, denn an einer Ecke löste sich das Papier des Einbands. Mile zog daran um es abzulösen. Stück für Stück wurde das richtige Cover sichtbar.
„Die Herrscher der Gezeiten" von den Gebrüdern Grimm.

Uralte Fassung (1): Twos - Die Prophezeiung von Feuer und EisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt