Kapitel 70 - Als niemand schlief

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Kapitel 70

Als niemand schlief


Denkt man an den Krieg, sind diese Gedanken voller Schwarzweissaufnahmen vergangener Zeiten, verschwendeter Leben, vergebener Tode.
Krieg ist immer sinnlos und der Grund, von dem der Glaube an das Kämpfen rührt, ist bei näherer Betrachtung nie Grund genug, denn kein Preis wiegt ein Leben auf.
Aber nicht immer tun wir Dinge, weil die Folge des Handelns den gleichen oder gar höheren Wert verspricht. Das ist so, weil wir denkende, fühlende Wesen sind. Wären wir das nicht, gäbe es zwar keine Kriege, aber genauso würde weder ein Wir noch ein Ich existieren.


~Mile~

Das weisse Meer leckte an den Baumstämmen, badete im Mondlicht und verschluckte den Laubboden, deckte ihn zu, versteckte ihn. Dass er überhaupt noch da war, liess sich nur durch das Rascheln der Blätter und Knacken der Zweige erraten, das jeden seiner Schritte begleitete.
Dieses Rascheln und Knacken war das einzige Geräusch, das die Nacht erfüllte. Jedenfalls hoffte er, der alleinige Lauscher seines Atems und des Bluts, das ihm durch die Ohren schoss, zu sein. Sein Herz schlug so laut, er befürchtete, es wäre durch den ganzen Wald bis zum Zeitpalast zu hören sein.
Die Silhouetten der Bäume zogen an ihnen vorbei. Das Licht der Mode malte rotblaue Schattenspiele auf ihre Gesichter.
Die Rebellen hatten ihnen einen neuen Namen gegeben. Warum, wusste er nicht genau. Vermutlich, weil Eliteeinheit ein viel zu langes Wort war, vielleicht war es auch einfach zu unpersönlich. Xilsar war Feléen und hatte – wie so viele Worte der ältesten Sprache Twos' – eine doppelte Bedeutung. Retter und Rächer.
»Xilsar«, flüsterte er und das Wort schmeckte schwer wie Blei.
Vor ihm färbte sich der Nebel dunkel. Die Rabenbrüder über ihm bestätigten krächzend seine Vermutung.
Die Jolly Roger wirkte wie ein Geisterschiff. Gross und schwarz lag es im Nebelmeer. Weder auf dem Deck noch aus den offenstehenden Stückpforten, aus denen die Mündungen der Kanonen ragten, brannte Licht.
Red trat vor, steckte sich ihre beiden kleinen Finger in den Mund und stiess einen Pfiff aus.
Eine Strickleiter fiel die Bordwand herab. Rosanna bekam das schaukelnde Gerät an einer Sprosse zu fassen und machte sich sogleich an den Aufstieg. Der Rest der Xilsar stellte sich rund um das Schiff auf, um es gegen mögliche Angreifer zu verteidigen. Es hätte sie schliesslich jemand verfolgen können...
Schliesslich kam auch Mile an die Reihe. Sprosse um Sprosse zog er sich hoch. Es war gar nicht so einfach, das Gleichgewicht zu halten.
»Willkommen auf meinem Schiff«, knurrte es über ihm, kurz bevor er das Ende der Strickleiter erklommen hatte. Er hob den Kopf und erkannte die Silhouette des Piraten, der ihm seine Hand als Hilfe anbot, während er sich mit seinem Haken an der Takelage festhielt. »Danke«, antwortete Mile mit gedämpfter Stimme und liess sich über die Reling helfen. Als er endlich mit beiden Beinen auf dem Deck stand, kam ihm sogleich seine Schwester entgegen.
»Hey du, neue Rüstung?«, begrüsste er sie und musterte sie von oben bis unten.
Die Rüstung sass perfekt. Über ihrer dunkelblauen, ledernen Brigantine, die mit silbern glänzenden Nieten bespickt war, schützte ein stählerner Plattenkragen, der über dem Brustbein spitz zulief und mit dem Motiv eines Hirschkopfs geprägt war, ihre Brust. Das, der innere Teil der Brigantine und die Panzerung der linken Schulter und des Arms waren die einzigen Teile der Rüstung, die aus Metall bestanden. Dafür waren sie ohne Zweifel von Zwergenhandwerk, das erkannte man an der detail-und zierreichen Schmiedekunst. Der Rest bestand aus schwarzem Leder, das hier und da mit Verzierungen bestickt war. An ihrer rechten Hand, mit der sie die Sehne des Bogens zurückzog, trug sie einen Schutz, der mit einem Band um ihr Handgelenk angebracht war und ihren Zeige, Mittel-und Ringfinger in Leder hüllte. Anstelle eines Helms hatte ihre Brigantine eine weite Kapuze, die sie sich über den Kopf gezogen hatte. Das dunkelblonde Haar war ihr zu einem strengen Mozartzopf zurückgebunden, der unter der Kapuze verschwand und auf ihrer linken Schulter wieder auftauchte. Natürlich fehlte auch Ellon'da nicht, der Bogen hing ihr samt Köcher auf dem Rücken, wo auch der grüne Schild aus Arseels Schuppe seinen Platz gefunden hatte. Weitere Waffen fanden sich an ihrem Gürtel in Form von zwei Dolchen.
Ihr Erscheinungsbild war einer Königin würdig. Daran sollte es nicht scheitern.
Die Eisprinzessin nickte. »Weisst du noch damals in Aramesia? Drosselbart hat sie für mich in Auftrag gegeben. Er wollte mich nicht ohne anständige Rüstung in den Krieg schicken...«
Er schluckte schwer und nickte. »Wenn er den Tod auf Zeit überwunden hat, wird er in ein neues Zeitalter erwachen.«
»Sei nicht so optimistisch«, murmelte sie. »Du machst mir Angst.« Einen Moment hielt sie Inne, legte den Kopf in den Nacken und betrachtete die fünf um die Segel kreisenden Raben, die sich den Xilsar angeschlossen hatten. Es waren die fünf jüngsten Brüder, Nebelfinger, Federreiter, Aschenauge, Regenjäger und Lichterfänger. Nimmertiger hatte sich entschlossen, seiner neuen Königspflicht nachzugehen und das junge Volk der Verlorenen in die Schlacht zu führen. Damit Nimmertiger nicht ganz auf sich allein gestellt war, hatte Schwalbentänzer, der Zweitälteste, sich ihm angeschlossen. »Manchmal wusste ich nicht, was mir mehr Angst machen sollte. Die Schlacht oder das, was auf sie folgen wird. Jetzt ist es die Schlacht. Definitiv die Schlacht...«
Mile runzelte die Stirn. »Was kommt denn nach der Schlacht?«
Sie lachte zynisch und brummte: »Entweder wir sind tot oder... wir müssen diese Welt regieren. Wie sollen wir das anstellen? Wir sind Kinder!«
Mile lächelte. »Eins nach dem anderen. Hab erstmal einfach nur Angst vor der Schlacht.«
Sie zog die Nase kraus. »Hey, wie sieht es eigentlich aus mit den Truppen?«
»Als wir los sind, ist gerade die Zwölfte von der Basis aufgebrochen.«
»Dann wird es nicht mehr lange dauern...«, stellte sie fest und rieb sich übers Gesicht.
Er legte ihr einen Arm über die Schultern. »Wird schon«, brummte er. »Du passt auf mich auf...«
»Und du auf mich«, ergänzte sie ihn und lächelte.

Uralte Fassung (1): Twos - Die Prophezeiung von Feuer und EisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt