Kapitel 4 - Die verrückte Tanja

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Kapitel 4

Die verrückte Tanja


~Mile~

Nach dem Frühstück hatte Nelly, das Hausmädchen, mit Mile und Sabrina eine kleine Hausführung unternommen..
Die Villa der Tallos war im Jahre 1657 erbaut worden. Sie war ein prächtiges Architekturkunstwerk der Renaissance. Mehrmals war sie schon restauriert worden, weshalb sie noch heute in sehr gutem Zustand war.
Die Fassade des Gebäudes war mit vielen Erkerfenstern, Säulen, Giebeln und Gargoyles übersäht. Hinter dem Haus war ein Teich angelegt worden, auf dem im Frühling die wunderschönsten Seerosen blühen würden, das behauptete jedenfalls Nelly.
Auch das Innere der Villa liess einen vor Staunen einen Moment innehalten, um die Umgebung auf sich wirken lassen zu können.
Wenn man sich im Heim der Tallos aufhielt, fühlte man sich wie in einem Museum. Die Tapeten waren alt und hässlich. Grosse, weiss gestrichene Türrahmen liessen einen von Raum zu Raum schlüpfen. Fussleisten und Wandverzierungen waren stets vergoldet. In manchen Räumen stützten dicke Säulen die Decke. In beinahe jedem Zimmer gab es einen Kamin. Überall hingen grosse Portraits von Leuten, die einen Gesichtsausdruck hatten wie sieben Tage Regenwetter. Wenn man den Kopf in den Nacken legte, konnte man unglaublich detailreiche Deckengemälde bewundern.
Mile hatte das Gebäude schon bei ihrer Ankunft beeindruckend gefunden, doch nun war er regelrecht überwältigt.
Diese Villa musste um die hundert Räume haben. Jedes war verschieden. Alle hatte ihnen Nelly nicht gezeigt. Den ganzen Westflügel der Villa hatte sie bei der Führung ausgelassen, da dieser tabu für die Geschwister sei, da dort die Privaträume der Tallos seien.
Im Mittelflügel befanden sich im Erdgeschoss die Eingangshalle, darüber ein Ballsaal und noch ein Stockwerk höher eine Art Minikirche. In Letztere hatten sie nur einen schnellen Blick werfen können, denn Nelly hatte ihnen nicht die Zeit gelassen, sich den Raum genauer anzusehen. Doch das hatten ihr die Geschwister kaum verübeln können, denn wie alle alten, verlassenen Kirchen hatte auch diese etwas Gruseliges.
Im Ostflügel fand man im Erdgeschoss eine gigantische Bibliothek, die das Herz jedes Buchliebhabers höher schlagen liess. Die Regale, die bis zur zehn Meter hohen Decke reichten, quollen nur so vor Büchern über! Die Deckenmalereien in diesem Raum zeigten eine Sternenkarte, irgendeine blutige Schlacht und einen Haufen Fabelwesen, von denen Mile die meisten völlig unbekannt waren. Geflügelte Schlangen, Wesen, die aus Wasser zu bestehen schienen, Drachen, Einhörner, Elfen, Zentauren, blaue, geisterhafte Erscheinungen, Engel... Man konnte sich kaum satt sehen...
Sabrina und er waren ebenfalls im Ostflügel untergebracht. Sie hatten ein geräumiges Wohnzimmer, ganz für sich alleine, in der sogar ein richtiger Flachbildfernseher stand! Doch ihre eigenen Zimmer hatten nichts Grossartiges. Die Wände waren glatt und kahl, die Fenster vergittert und besonders viel Platz war auch nicht. Möbliert waren sie mit Bett Nachttisch, Schrank und Schreibtisch. Anstelle eines protzigen Kronleuchters, wie sie in allen anderen Räumen von der Decke hingen, erleuchtete eine stinknormale Ikea-Deckenlampe das Zimmer.
Aber das konnte ihnen ja egal sein! Schliesslich konnten sie ja in ihrem Wohnzimmer herumhängen, so oft sie wollten!
Nun, nach der Führung, hatten sich die Geschwister in Sabrinas Zimmer zurückgezogen.
Sabrina trabte gleich auf ihr Bett zu, wich den Koffern aus, die am Boden herumstanden und die sie natürlich noch nicht ausgeräumt hatte. Dann liess sie sich erleichtert auf die federnde Matratze fallen.
»Puuh! Endlich sind wir all diese Hirnis los!«, seufzte Sabrina und vergrub das Gesicht in der Bettdecke. Mile setzte sich neben sie und starrte die Wand an.
Sein Zimmer lag genau nebenan und glich dem Zimmer seiner Schwester auf das Staubkorn genau. Für ihn stand fest, er musste etwas mit diesen kahlen Wänden machen, die so leer und trostlos aussahen.
»Ach, hör schon auf! Das Haus ist dafür echt der Wahnsinn!«, meinte Mile gewohnt optimistisch.
»Schon, aber Ms. Tallo lässt mich jetzt schon an die Decke gehen. Und all diese bescheuerten Regeln!«, maulte seine Schwester weiter.
»In den Fluren wird nicht gerannt. Nachtruhe um zehn Uhr. Kein Alkohol, Tabak, Nikotin oder Drogen im Haus. Anständige Umgangsformen. Nach acht Uhr geht hier niemand mehr aus dem Haus...«, beinahe perfekt äffte Sabrina die Stimme der Alten nach.
»Klaro, sie ist ein bisschen grantig, Ms. Tallo. Aber eigentlich müsstest du ihr dankbar sein! Sie hat uns aus dem Waisenhaus geholt und zwar alle beide! Oder hättest du getrennt von mir leben wollen?«
Sabrinas Mimik verdüsterte sich.
»Das haben wir allein deinen guten Noten zu verdanken. Der Pater hatte mich als „Problemkind" eingestuft! Problemkind!«, nörgelte Sabrina weiter.
Mile musste sich ein Lachen verkneifen.
Problemkind?
Klar, seine Schwester war äusserst launisch, ein Morgenmuffel und ihr Glas war immer halb leer, aber „Problemkind" war nun wirklich übertrieben!
Missmutig kaute Sabrina an ihren Nägeln.
»Und dann das hier! Ein kaltes, leeres Zimmer! Weisse Wände ohne Bilder. Ein altes Holzbett und ein kleines, vergittertes Fenster. Und dann dieses Holzkreuz über der Tür! Ist das hier ein Kloster, oder was?«, schimpfte sie in voller Fahrt.
Mile drehte sich um. Tatsache. Ein Kreuz auf dem ein mitgenommen aussehender Jesus festgenagelt war.
»Es ist besser als das Zimmer im Heim!«, munterte Mile sie auf.
»Mmpf«, knurrte Sabrina und vergrub ihr Gesicht erneut in der, mit Rosen bedruckten, Decke.
Mile liess sie allein und verkroch sich seinerseits in seinem Zimmer. In circa einer Stunde würde diese Tanja vor der Tür stehen, von der Ms. Tallo berichtet hatte. Noch eine Fremde...
Aber bis dahin hatte er noch ein wenig Zeit für sich...


»Moin, Moin, ihr zwei!«, rief die Frau und strahlte sie an.
Sie hatte kurze, braune Haare, die ihr wild vom Kopf abstanden, sodass sie aussah, als hätte sie in eine Steckdose gelangt. Einigermassen im Zaum gehalten, wurden sie einzig durch ein breites Stirnband. Sie hatte ein schmales Gesicht, hohe Wangenknochen und eine spitze Nase, die mit Sommersprossen übersät war. Ihre haselnussbraunen Augen glitzerten frech.
Sie trug eine verdreckte, grüne Latzhose, in deren Brusttasche ein Gänseblümchen steckte. Die Hosenträger spannten sich über einem quietschgelben Kapuzenshirt.
Sabrina knurrte ein missmutiges »Hey« und verschwand in dem hinteren Teil des knallroten Trucks, der in der Einfahrt des Anwesens parkte.
»Na, die hat ja 'ne Laune...«, staunte die Frau und wandte sich wieder Mile zu. »Bist du... Milo?«, fragte sie und lächelte.
»Mile.«
»Na dann! Willkommen in der Familie!«, rief sie und umarmte ihn herzlich.
»Also, auf geht's! Immer rein in den alten Truck!«, mit diesen Worten riss die Frau die Tür des Wagens auf und hüpfte hinein.
Mile drehte sich zögernd zu den Tallos um, die das Ganze vom Türrahmen aus beobachteten.
»Tzz tzz... Diese Miss Helgo...«, zischte die Alte und verschwand kopfschüttelnd in der Villa.
»Tanja. Ihr werdet sie mögen«, meinte Onkel Tobi, zwinkerte Mile zu und rollte seiner Frau hinterher. Der Amre... Er musste im Rollstuhl sitzen, war blind und dann auch noch mit so einer verheiratet.
Mile lief Tanja nach.
Seine Schwester blickte missmutig aus dem Fenster. Heute musste sie wirklich üble Laune haben...
Tanja sass wild gestikulierend am Steuer und deutete auf den Platz neben sich.
Mile setzte sich in den Wagen. Kaum hatte er sich angeschnallt, machte der Truck einen riesen Satz und Sabrina knallte von hinten gegen seinen Sitz. Sie quiekte erschrocken, fing sich jedoch schnell und rieb sich den Kopf.
»Verdammt nochmal! Sorry, Kleines! Der alte Truck hat leider seinen eigenen Willen. Mal schnurrt er wie ein Kätzchen und läuft wie geschmiert und dann kommt es leider auch vor, dass er lahm wie eine Schnecke ist...«, jammerte Tanja und fingerte an dem Armaturenbrett herum.
Mile grinste seine Schwester an, die sich noch immer den Kopf rieb, was ihm einen Tritt in den Rücken einbrachte.
»So Kiddys! Ab ins Dorf! Ich hab gehört, ihr kommt aus Berlin? Ich will alles wissen!«, schnatterte Tanja und durchlöcherte Mile mit Fragen über das Leben in der Grossstadt, das Waisenhaus, die Schule, ihre Freunde... Es war schon fast ein Verhör, doch Mile erzählte ihr alles, was sie wissen wollte.
Sabrina mischte sich ab und zu ein, um ihren Senf dazuzugeben. Auch wenn sie etwas muffig tat, konnte Mile genau sehen, dass auch sie Tanja mochte. Sie brauchte einfach immer etwas lange, um jemandem wirklich vertrauen zu können.
Die verrückte Tanja fuhr mit ihnen durch das ganze Dorf und zeigte ihnen die besten Geschäfte und Restaurants.
Die Stadt selber war ganz anders als Berlin.
Überall standen alte Häuser, Brücken und Türme. Relikte aus einer längst vergessenen Zeit.
»Der Bus wird euch dann Morgen zur Schule fahren. Richtet dem alten Hurby, dem Busfahrer, meine Grüsse aus!«, schnatterte die verrückte Tanja.
Sabrina sprang stöhnend aus dem Truck. Schule!
Mile lachte und lief seiner Schwester hinterher.
Bevor er die Villa betrat, drehte er sich noch einmal um und winkte lächelnd der verrückten Tanja hinterher, die in ihrem roten Truck bereits wieder von dem Anwesen fuhr.


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Hallo Leute!
Na, wie wa'rs? Ich hoffe, ihr seid gespannt, wie es weitergeht xD

Liebe Grüsse,

Eure Dreamtravel

Uralte Fassung (1): Twos - Die Prophezeiung von Feuer und EisWhere stories live. Discover now