Kapitel 67 - Das blinde Herz

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Kapitel 67

Das blinde Herz


~Mile~

Die Luft war so trocken, dass man weit in der Ferne das Ondorgebirge über dem blutig gestrichenen Nachthimmel aufragen sah, der sich immer weiter ins Lila verfärbte. Die Schatten wuchsen mit jeder Minute und verschmolzen mit denen der hohen Bäume. Langsam sank die Temperatur und kündigte eine kalte Nacht an. Ausgelassene Rufe und der Geruch nach Feuer drangen zu ihm durch und füllten seine Sinne.
Trotz der strengen Regeln, Verbote und der nicht zu unterschätzenden Gefahr, hatte Mile es gewagt und geschafft, sich unbemerkt aus dem Sanitätszelt zu schleichen. So war er die lästige Leibgarde los, deren Begleitung Fjore sicherlich nicht akzeptiert hätte.
Die leeren Proviantwägen standen in der Nähe des Waldrandes und fungierten als provisorischer Schutzwall vor dem dichteren Wald und dem, was darin lauerte.
Die Rebellen folgten grösstenteils kleineren Trampelpfaden. Natürlich nicht in Einerreihen. Meist musste man sich durch das nähere Gestrüpp schlagen, doch die Pfade waren wenigstens ein Ansatz, obwohl sie sich stets durch die rasende Vegetation verschoben. Darum kampierte man auch fast immer unter einem Blätterdach, doch ab und an, wie auch heute, hatten die Rebellen sich in Scharen auf einer Lichtung niedergelassen.
Mile näherte sich dem Waldrand. In seiner Hand erwachte eine Flamme zum Leben.
Licht war in dieser Gegend hohes Gut, denn es bedeutete Schutz. Irrlichter hatten es so schwerer, einen mit ihrem eigenen Schein zu locken. Wendigowak mieden die Helligkeit, denn diese schwächte sie und Feuer war für sie tödlich. Der Nachteil des Feuers war, dass es die Waldhüter auf einen aufmerksam machte. Diese Wesen hassten alles, was dem Wald schaden konnte und Feuer stand auf ihrer Liste weit oben. Waldhüter waren jedoch selten und bisher hatten die Rebellen noch keinen von ihnen getroffen. Besser so, schenkte man den Geschichten Glauben, die die Soldaten einander am Feuer mit gedämpfter und vom Schnaps kratziger Stimme erzählten. Schädel eines Hirschs, Rumpf eines Menschen, Beine eines Ziegenbocks, stets ausgerüstet mit den Waffen, die sie ihren Opfern abgenommen hatten. Oft handelte es sich deshalb um Äxte, die einst Baumfällern oder Förstern gehört hatten, die das Risiko eingenagen waren, in die unbezähmbare Vegetation der Waldgärten von Wyr einzugreifen.
»Frohe Nacht, Mylord«, begrüsste ihn Fjore, wie schon am gestrigen Tag aus den Schatten, jagte ihm dieses Mal jedoch keinen Schrecken ein. Mile war auf so etwas gefasst gewesen. Er hatte festgestellt, dass sie Vampire gerne unbemerkt aus der Dunkelheit traten und einen erschreckten, das schien ihnen Spass zu machen.
»Hyru«, beantwortete Mile den Gruss. Er hatte beschlossen, sich die feléenische Begrüssung anzugewöhnen. Diese war förmlich, machte es leichter, Fettnäpfchen zu umgehen und war eine akzeptierte Begrüssung bei praktisch jedem Volk. Vampire eingeschlossen.
Der blonde, junge Mann trat ein Stück ins Licht, vermied es jedoch, mit dem rot-lila Licht der untergehenden Sonne in Berührung zu kommen. Er nickte ihm zu und brummte, direkt zum Punkt kommend: »Zehn Wagons weiter. Die anderen meiner Art schlummern noch. Jedes Licht der Sonne ist für uns tödlich. Man könnte sagen, ich setze mein Leben für Euch aufs Spiel, junger Lord.«
»Auch Frederick?«
»Besonders Frederick. Er hat sich in jüngeren, unerfahrenen Jahren eine üble Sonnenverbrennung zugezogen, seither ist er immer pünktlich im und aus dem Bett. Er ist kein Vampir, der mit der Dämmerung spielt.«
Sie setzten sich in Bewegung. Zehn Wagons weiter hielten sie, Frederick stieg legte eine Hand auf die Klinke.
»Schon mal in einen Leichenwagen eingebrochen, Mylord?«, flüsterte Fjore und lächelte spitze Eckzähne.
Er schüttelte den Kopf.
»Es gibt immer ein erstes Mal«, säuselte der Vampir und öffnete die Tür.


~Sabrina~

Jemandem, den man eben zum Tode verurteilt hatte, in die Augen zu blicken, war nicht leicht.
Alles, was fühlte, fühlte mit. Nur Monster waren gegen so etwas immun.
So erging es nun auch dem Aquaner, der eben noch ein Richter gewesen und nun nur noch ein Mann war. Der Schock war nun in seinen völlig schwarzen Fischaugen zu lesen. Der Schock der Erkenntnis, der Faustschlag des Gewissens, Macht der Wahrheit.
Nach wie vor rannen sie über das runde Kindergesicht, sickerten in den weissen, struppigen Bart, die Tränen der Verurteilten.
Pinocchio und sein Vater kauerten noch immer vor dem Richterpult. Sie starrten auf die staubige Augenbinde, als könne sie sich jeden Moment in eine Schlange verwandeln.
»Noch ist es nicht gültig«, knurrte Nimmertiger und liess den Kragen des Aquaners los, damit dieser sich aufrichten konnte. »Wollt Ihr Eure Worte in Kraft setzen, steigt herab und holt Euren Hammer. Ich werde Euch nicht mehr im Weg stehen.« Der älteste der Rabenbrüder machte einen Satz und landete geschickt im Staub. Ohne ein weiteres Wort schritt er an den noch immer am Boden liegenden Gerichtsdienern vorbei und setzte sich an seinen Platz, als wäre nichts gewesen.
Der Aquaner klappte den Mund auf und zu, was ihn nun endgültig wie einen Fisch aussehen liess. »D-das Gericht zieht sich zurück«, gurgelte er schliesslich unsicher und stieg hastig von seiner Kabine herab. »Die Gerichtsverhandlung wird...« Ohne seinen Satz zu beenden, drückte er sich an Nimmertiger vorbei. Halb ging, halb stürzte er die Treppe hinunter, sprang in die Manege, viel auf die Knie, krabbelte auf allen Vieren auf seinen Hammer zu und holte aus. »Einstellung des Strafverfahrens aufgrund von Mangel an Beweisen und... weil es ansonsten ein Verbrechen an der Moral wäre!«
Der Hammer schlug auf den Grund, Staub flog auf und rieselte nieder.
Schwer atmend verharrte der Aquaner, dann sprang er auf und hastete hinter den Vorhang. Zurück blieben - allesamt äusserst verwirrt - der Angeklagte, die beinahe Verurteilten, die Zuschauer, Gerichtsdiener und Monarchen.

Uralte Fassung (1): Twos - Die Prophezeiung von Feuer und EisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt