Kapitel 55 - Der Tempel der Orakel

3K 163 29
                                    

Kapitel 55

Der Tempel der Orakel


~Mile~

Ein Fehltritt wäre unverzeihlich. Und es wäre auch der letzte, den sie sich jemals leisten können würden. Das war pure Logik, denn sie hatten es ausgetestet. Sabrina hatte eine murmelgrosse Eiskugel in ihrer Hand wachsen und dann hinunterfallen lassen. Nicht einmal das Echo hatte sie mehr erreicht, so tief ging es hinab.
Die Treppe war zwei Meter breit. Links und rechts davon war... nichts. Nur eine unschätzbar grosse Leere. Ab und zu schlängelte die schier endlose Wendeltreppe an der Steinwand entlang, doch das war eher selten der Fall. Meist klaffte auf beiden Seiten der Treppe einfach nur der Abgrund wie ein riesiges, schwarzes Maul, das darauf wartete, dass einer von ihnen ausrutschte und fiel. Es gab kein Gelände, das einen Sturz aufhalten könnte.
Die Treppe selbst wurde von einem regelrechten Netzwerk aus Querbalken gehalten, die aus den Wänden wuchsen wie lange, glatte Finger.
Stalagmiten und Stalaktiten wuchsen wie Unkraut aus den Stufen oder Querbalken und manchmal versperrten ihnen ein paar der Stalagmiten den Weg. Jedes Mal mussten sie mit halsbrecherischen Klettermanövern um einen der spitzen, glatten Berge herum kraxeln.
»Gedankenlesen, Träumen, Ninjakräfte, Feuer, Eis, Blitze, Supersinne... Alles schön und gut«, brummte Sabrina zum etwa fünften Mal seit sie ihren Abstieg begonnen hatten, »aber warum haben diese blöden Urherrscher bei der Aufteilung ihrer Kräfte nicht einmal ans Fliegen gedacht?!«
Das war eine berechtigte Frage. Auch Mile hatte sie sich schon einige Male gestellt und hatte sich mittlerweile eine Theorie zurechtgelegt: »Vielleicht haben sich ihre Kräfte erst mit der Zeit entwickelt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die vier Urherrscher einfach dagestanden sind, mit den Fingern geschnippt und sich gewünscht haben, Gedanken lesen oder Blitze schiessen zu können. So stand es doch auch in dem Buch. Die Herrscher veränderten sich. Was, wenn sie anfangs einfach nur diese Welt erschaffen, sich die Verantwortungen untereinander aufgeteilt und sich nach diesen verändert haben. So legte man fest, dass der Lichterlord über den Sommer wachen müsste und daraufhin ging diese Aufgabe so auf ihn über, dass er zum Feuerbändiger wurde. Oder bei der Eisprinzessin: Sie war für die Träume verantwortlich. Sie hat Wunschträume und Alpträume, sowie Traumwesen und so erschaffen und irgendwie ist sie dann automatisch zur Traumreisenden geworden. Wer kann das schon sagen?«
Sabrina blinzelte ihn an und lachte dann. »Mile«, kicherte sie, »über was du dir immer den Kopf zerbrichst. Das gerade war eine rhetorische Frage.«
Mile nickte und lachte ebenfalls. Er wusste, dass Sabrina keine Antwort erwartet hatte, aber so war er nun einmal. Er machte sich gerne Gedanken über die Dinge, liebte Geschichten wie diese und teilte sie nur zu gerne mit seiner Schwester. Auch wenn diese seine Begeisterung nicht teilte.
Die nächste halbe Stunde schwiegen sie beide und konzentrierten sich nur auf die glitschigen Treppenstufen vor ihnen. Langsam spürte Mile seine Muskeln ganz schön. Morgen würde er sich kaum aus dem Bett bewegen können vor Muskelschmerzen. Seine Füsse anzusehen traute er sich gar nicht erst. Da er ja barfuss war und ohne schützende Solen den Berg hinaufgeklettert war, waren sie sicher ganz wund, doch er spürte sie kaum. Die Stufen waren so kalt und nass, dass sie jeden Schmerz betäubten.
Irgendwann brach Sabrina das Schweigen. Nicht durch eine Wiederholung der Bemerkung über die Urherrscher und das Fliegen, nein sie sagte: »Irgendwie habe ich schon die ganze Zeit ein Déjà-vu.«
»Wie meinst du das?«, fragte Mile und starrte den Hinterkopf seiner Schwester an. Sie hatten sich darauf geeinigt, hintereinander zu gehen, da sie somit beide in der Mitte der Treppe gehen konnten, so weit weg von den beiden Abgründen wie möglich.
»Erinnerst du dich an die Nacht?«, flüsterte sie geheimnisvoll und Mile konnte ihrer Stimme anhören, dass sie lächelte.
»Welche Nacht?«
Sabrina hob die Stimme, sodass ihr Echo laut und klar durch den Berg schallte: »Die Macht des vollen Mondes, der Wolf auf sehnsüchtiger Jagt, in der Nacht des monatlichen Jahres, niemals wird der Zeitpunkt vertagt.«
Mile strahlte und rief: »Das ist eine Zeile aus der Prophezeiung. Sie handelt von der Nacht, als wir das Portal im Wald von Wolfsbach entdeckten!«
»Genau. Weisst du noch, wie das war? Wir haben uns aufgeteilt und sind durch den Wald gelaufen und haben nach irgendwas gesucht, das übernatürlich aussah. Himmel, wenn man bedenkt, wie viele Dinge sich seither verändert haben. Wie viel geschehen ist...«
»Und dann war da dieser Wolf. Oskar. Dieser Wolf und seine Mondsucht. Er ist mal wieder durch das Portal in die sterbliche Welt und dann hat er dich entdeckt. Er hat dich angesprungen und dann bin ich dir zu Hilfe gekommen. Dann sind wir ihm hinterher und im nächsten Moment war da dieser Fels auf der Lichtung«, murmelte Mile.
»Und dann sind wir hinterher. Und das meine ich mit Déjà-vu. Wir sind in die Höhle in diesem Fels und auch dort war so eine glitschige, gruselige Treppe und im nächsten Moment waren wir in der Märchenwelt«, erklärte Sabrina und ging dann verträumt ihren Erinnerungen nach.
Mile sah alles noch ganz genau vor sich. Fast war es, als würde er einen Film sehen. Einen Film aus Erinnerungen, seinen Erinnerungen. Doch so fühlte es sich nicht an. Wie konnte dieses Leben das seine gewesen sein? Dieser Junge, dieser Mile Beltran, das Waisenkind, dieser Sonnenschein... Das war er jetzt nicht mehr. Er war noch immer Mile, der Optimist, der Bruder, Mile Beltran... Aber auch er hatte sich verändert. Er war ernster geworden, hatte gelernt zu kämpfen und zu töten. Und er war, wirklich wahr, das erste Mal in seinem Leben kein guter Bruder gewesen. Und das traf ihn. Dabei war das immer ein Teil seiner Identität gewesen. Er hatte das so gewollt, war auch irgendwie stolz darauf gewesen. Und dann... dann hatte sich die Welt auf den Kopf gestellt. Die Adoption, die so mysteriös verlaufen war, die Tallos, ihr neue zu Hause... Und auf einmal hatte Mile das Gefühl gehabt, ein normales Leben führen zu können. Ein normales Leben, auf seine eigene, verdrehte art. Natürlich war es nur eine Illusion gewesen. Eine Illusion von dem was hätte sein sollen. Mit seinen Eltern. Mit Eira und Ignatz und Sabrina. Und es wäre gottverdammt normal gewesen. So hatte er sich Freunde gesucht, hatte Sabrina... vergessen. Nein, nicht vergessen. Er hatte sie bei Seite geschoben. Weil er das normale Leben hatte schmecken wollen. Und es hatte gut geschmeckt. Nach Schule und Junge und Mädchen und Hausaufgaben und Abhängen und Kino und Party und Musik und Freunde und Spass... Aber natürlich war es eine Illusion gewesen. Denn Sabrina war seine Familie, damals die einzige, die er gehabt hatte und natürlich liebte er sie. Und dann war Red gekommen. Sie war keine Illusion. Niemals würde er sie so bezeichnen. Nein, Red war echt. Wie ein Wunsch, der in Erfüllung gegangen war. Wie ein Traum in Fleisch und Blut. Und Red hatte er nicht teilen müssen. Nein, Red war Red und er war Mile und sie gehörten zusammen. Red war ein Teil von ihm, so wie auch Sabrina zu ihm gehörte. Doch auch hier hatte er den gleichen Fehler gemacht, dieses Mal noch schwerwiegender. Er hatte versucht, sich mehrere Welten zu errichten. Die Welt mit Red und die andere mit Sabrina. Aber das konnte er nicht, das durfte er nicht und das wollte er auch nicht mehr. Er war nur glücklich, wenn Sabrina glücklich war. Und er war nur glücklich, wenn er Red hatte. Und Red war glücklich, wenn er es war, also wenn Sabrina es war und dann war da diese eine Variable, die er nicht einberechnet hatte.
Früher war es doch so einfach gewesen. Sabrina und er. Diese kleine Welt, in der sie beide lebten. Und ihre Atmosphäre war aus reiner, guter Luft gewesen, die niemand anderes atmen konnte. Und dann war alles gut gewesen.
Dann hatte er angefangen Fehler zu machen und Sabrina war verschwunden. Sie hatte sich alleine auf eine Reise begeben. Meine Güte, sie war ja nicht das erste Mal ohne ihn irgendwo hingegangen. Aber diese Mal war es anders gewesen. Erstens hatten sie zuvor gestritten. Und zwar weil er Fehler gemacht hatte. Er hatte ihren Eril verletzen wollen. Mit einem Sinduin. Er hatte versucht, sich einzureden, dass er das ja nicht mit Absicht gemacht, diesen Sinduin ausversehen beschworen hätte und alles nur ein Missverständnis gewesen war, aber das stimmte so auch nicht. Er hatte diesen Eril nicht leiden können, aber Sabrina hatte damals Gefühle für den Elf gehabt. Und er hatte einfach weiter gemacht. Er hatte den Elf beinahe umgebracht und am Ende hatte er sich nicht einmal einstehen können, etwas Schreckliches getan zu haben.
Und Sabrina war gegangen und zu ihm zurückgekehrt. Und er hatte sich so gefreut. Sie war glücklich gewesen. Für einen Moment.
Da war sie für einen Moment gewesen. Ihre Welt, ihre eigene Welt mit der Atmosphäre die niemand ausser ihnen atmen konnte. Und dann war sie gekommen, die Variable, die er nicht gesehen hatte.
Er hatte Red. Er hatte Sabrina. Er war vollständig. Doch Sabrina nicht. Denn sie hatte nun auch einen Teil von sich verschenkt. Nur mit ihm war sie nicht mehr vollständig. Ihr Herz gehörte nun auch einem anderen, ohne den sie nicht leben wollte. Und er, Mile, hatte wieder nicht zugehört, aufgepasst oder hingesehen.
»Ich bin ein Egoist.«
Sabrina zuckte zusammen und auch Mile erschrak vom Klang seiner Stimme. Er hatte, ohne es zu wollen, seinen letzten Gedanken laut ausgesprochen.
»Okay?«, fragte Sabrina gedehnt und drehte sich zu ihm um. Mile blieb stehen. Etwa drei Treppenstufen trennten sie voneinander. Sabrinas Haare leuchteten im Schein seiner Flamme. Mile versuchte sich daran zu erinnern, wie sie als kleines Kind ausgesehen hatte. Es gelang ihm nicht.
»Ich bin ein Egoist«, sagte er noch einmal. Er wusste nicht wieso, aber es fühlte sich richtig an.
Sabrina legte den Kopf schief.
»Ich bin ein Egoist. Ich bin ein Egoist. Ich bin ein Egoist«, sagte Mile und er fühlte sich leicht. Scheisse, das tat auf eine irrationale Weise gut.
»Sagtest du bereits«, meinte Sabrina. Sie runzelte besorgt die Stirn. »Geht es dir gut?«
»Nein«, antwortete Mile. »Mir geht es nicht gut, weil ich ein Egoist bin. Und das will ich nicht. Das tut dir weh und es tut mir weh. Ich will das nicht mehr und ich würde es rückgängig machen, wenn ich könnte und ich habe so einen Mist geredet und Schreckliches angerichtet.« Himmel, es war fast wie eine Droge!
»Okay, du hast... Mist geredet... Ich weiss nicht, was du willst, Mile. Eigentlich redest du gerade eben auch Mist...«, murmelte Sabrina und sah zu ihm auf.
»Ja, ich weiss. Aber ich habe so einen Unsinn geredet. Ich habe dich in der Schule alleine gelassen, weil ich das Gefühl hatte, so könnte ich ein normales Leben haben, aber das war einfach nur rücksichtslos und gemein und naiv. Dann habe ich Red kennen gelernt und dich erneut von mir gestossen. Und du hast Eril kennen gelernt und dann war ich eifersüchtig und wollte ihn von dir fern halten und hab ihn vor lauter Egoismus beinahe umgebracht. Dann haben wir gestritten und du bist gegangen, um nach dem Mohn zu suchen. Und ich habe so viel falsch gemacht. Du bist zurückgekommen und ich wollte, dass wir wieder zueinanderfinden, wie früher. Aber du... du hast dich auch verändert und bist so stark geworden, du kannst ganz ohne mich so viel schaffen. Und du hast Hook. Aber ich wollte dich für mich, damit es wieder so ist wie früher, aber das ging ja nicht. Ich habe gesagt, er wäre gefährlich, aber das ist mir doch eigentlich gar nicht wichtig gewesen. Die ganze Zeit war ich nur ein Egoist. Aber ich habe es nicht gewusst. Ich habe wirklich geglaubt, er wäre nicht gut für dich, aber eigentlich... eigentlich bin ich ein Egoist. Ich habe alles kaputt gemacht, nur weil ich eifersüchtig war, wo ich dich doch selbst von mir gestossen habe! Ich habe die Schuld nie mir zustehen können, habe Ausreden gesucht, aber es stimmt nicht! Ich bin schuld, weil ich ein Egoist bin.« Mittlerweile schrie er. Er hatte zuvor schon laut gesprochen, doch nun schrie er. Und sein Echo wiederholte seine Worte.
»... hab ihn vor lauter Egoismus beinahe umgebracht«, rief das Echo.
»... so viel falsch gemacht«, brüllte es.
»... Du hast Hook, aber ich wollte dich für mich«, kreischte es.
»... weil ich ein Egoist bin«, schrie es.
Er schlang seine Arme um sich und verstand auf einmal gar nichts mehr.
Wieso?
Mit einem Mal schien es, als hätte ihm jemand die Augen geöffnet und ihm gezeigt, was die Wahrheit war. Er konnte einfach... verstehen!
Seine Echos waren schon beinahe verklungen, als plötzlich ein Neues hinzukam. Ein neues Echo.
Ein Schluchzen.
Mile sah erschrocken auf. Ihr Blick traf ihn wie ein Schlag.
»Du bist so ein....«, flüsterte Sabrina... und brach ab. Stattdessen stieg sie die drei Stufen, die sie trennte, hinauf und warf sich an ihn. Sie schlug auf ihn ein und weinte in sein Hemd und ihre Tränen waren so kalt, dass sie sich wie Nadelstiche anfühlten.

Uralte Fassung (1): Twos - Die Prophezeiung von Feuer und EisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt