Kapitel 56 - Mondkind

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Kapitel 56

Mondkind


~Sabrina~

»Augen auf!«
Sie schrak hoch. Das ging aber schnell!
Das erste, was sie sah, war ein Bett. Ein Kinderbett. Himmelblau. Wo war sie? Was war das? Wieso...
»Passt auf. Das sind meine Erinnerungen. Ich werde sie euch kein zweites Mal zeigen, also seid nun aufmerksam!«
Erinnerungen. Mondkind. Schnell hatte Sabrina sich wieder besonnen. Gesprochen hatte Mondkind, die noch immer neben ihr auf dem Altar sass. Auch Mile war noch da. Er blinzelte verwirrt. Sie musste bestimmt genauso orientierungslos aussehen...
»Wo sind wir?«, zischte ihr Bruder und machte Anstalten, von dem Altar zu springen, doch Mondkind hielt ihn mit einem scharfen »Bleib wo du bist!« auf. Etwas ruhiger fuhr sie fort: »Das sind meine Erinnerungen. Dank des Altars, auf dem ihr sitzt, kann ich sie mit euch teilen, aber wenn ihr mich loslasst, bricht die Verbindung ab. Ihr müsst mich unbedingt weiter berühren, sonst muss ich von vorne anfangen und ich glaube nicht, dass ich es schaffe, diesen Zauber noch einmal zu wirken. Ich sage, wann wir uns bewegen und wann nicht. Also hört auf zu meckern und seht einfach zu. Stellt Fragen, wenn ihr wollt, aber stellt sie schlau und schnell.«
Die Geschwister tauschten einen erstaunten Blick. Mile entschuldigte sich etwas kleinlaut, fragte jedoch noch einmal: »Wo sind wir?«
Mondkind seufzte. » Dies ist mein Kinderzimmer. Wir befinden uns mitten in der Wüste Aurea, auf Schloss Helios, meines Vaters und eures Onkels Heim. Hier bin ich geboren, hier bin ich aufgewachsen, hier hat alles begonnen...«
Auch wenn Mondkinds Antwort kryptischer kaum sein konnte, schien Mile sich damit zufrieden zu geben. Er nickte und konzentrierte sich darauf, seine neue Umgebung zu betrachten. Sabrina tat es ihm gleich und sah sich genauer um.
Der Raum war kreisrund und etwa zehn Quadratmeter gross. Seine Decke war hoch und von einem Deckengemälde, das Sonne, Mond und Sterne zeigte, verziert. Ihr Altar stand neben einer alten Kommode, auf der Stoffpuppen aufgereiht waren. Auch andere Möbelstücke wie ein Schrank, ein Regal, das mit Spielsachen vollgestopft war und ein winziger Tisch. Auf dem Boden lagen Bauklötze und ein paar ausrangierte Holzfiguren. Von ihrem Sitzplatz aus hatten sie die beste Sicht auf das Kinderbett ihnen gegenüber. Darin lag ein Kleinkind. Mehr als sein schwarzer Haarschopf war nicht zu erkennen. Der Rest des Körpers war unter einer Wolldecke versteckt. Neben dem Bett war eine Holztür in der Wand eingelassen. Der Raum hatte drei Erkerfenster, durch die sanftes, rotblaues Licht hereinfiel. Mehr erhellte den Raum nicht. Die Kerzenhalter waren heruntergebrannt. Es war Nacht und das Schloss war in tiefen Schlaf gefallen.
Die Zeit verging und nichts passierte. Auf Mondkinds Wunsch hin schwiegen sie, doch langsam wurde sie unruhig.
Dann geschah etwas...
Ein Kreischen hallte durch das Schloss. Laut und voller Wut.
Das Kind in dem Bett war mit einem Schlag wach. Es presste sich seine Decke an die Brust und stellte sich an das Gitter des Betts. Es weinte nicht, aber es hatte eindeutig Angst, das konnte man ihm ansehen.
Sabrina strengte ihre Augen an und dank ihres Herrscherbluts konnte sie das Kind erkennen. Es war Mondkind.
Sie war genauso alt wie jetzt. Etwa vier. Sie trug ein weisses Nachthemd. Ihre Haare waren leicht verstrubbelt vom Schlaf. Keine einzige Perle, kein Band, nichts hing in den schwarzen Strähnen. Sogar die Glöckchen fehlten. Das war jedoch nicht der grösste Unterschied zu der Mondkind, die sie kannte: Die Augen des Mädchens waren so dunkel wie die ihrer anderen sechs Nicht-Albino-Brüder. Das Amethyst-Violett, das sie so besonders machte, fehlte.
»Was zum...«, zischte Sabrina, doch Mondkind, ihre Mondkind, brachte sie mit einem Kopfschütteln zum Schweigen.
Als nächstes ging die Tür des Zimmers auf. Sieben Jungs in Schlafanzügen stürmten herein. Der Älteste von ihnen hob das kleine Mädchen aus dem Bett. Dann verliessen sie eilig das Zimmer.
»Jetzt laufen wir ihnen nach!«, befahl ihre Cousine neben ihr.
»Ich nehme sie auf den Arm und du hältst einfach ihre Hand, in Ordnung?«, schlug Mile vor und Sabrina nickte.
Gesagt, getan. Im nächsten Moment verfolgten sie auch schon ihre Erinnerungs-Familie durch das nächtliche Schloss.
»Wo ist Papa?«, fragte Mondkinds früheres Ich ihre Brüder.
»Mondkind, wir spielen jetzt ein Spiel, ist gut?«, murmelte Nebelfinger, der neben seinem ältesten Bruder her lief. »Es heisst: Wer kann am längsten ganz still sein. Klingt das nicht toll?«
Nebelfinger schien sich die grösste Mühe zu geben, fröhlich zu klingen, doch seine Stimme bebte und in seinem bleichen Gesicht stand die Angst geschrieben.
»Ich will nicht spielen«, maulte klein Mondkind mit weinerlicher Stimme.
»Schiesse!«, fluchte einer der Jungs. Sabrina identifizierte ihn als Aschenauge. Er deutete den Gang hinunter. Die Brüder blieben wie angewurzelt stehen.
Dies nutzten ihre drei Verfolger, sie einzuholen. Sabrina folgte den Blicken der Jungen. Ein paar Meter den Gang entlang, lagen zwei Männer auf dem Boden in ihren eigenen Blutlachen. Die beiden Leichen trugen Rüstungen. Sie hatten sich gegenseitig ihre Hellebarden in den Hals gerammt.
Sabrina stieg die Galle hoch und sie wandte sich ab.
»Die haben sich gegenseitig geschlachtet. Nimmertiger, die Hexe ist da. Das hier werden nicht die einzigen Wachen sein, die sie verhext hat. Wir können nicht einfach abhauen, wir müssen Vater helfen!«, zischte Schwalbentänzer.
Nimmertiger hatte eine Hand über Mondkinds Augen gelegt, damit seine Schwester den grausigen Anblick nicht sehen musste. Er selbst tat sich den Gefallen nicht hinzusehen nicht. Er starrte die beiden Toten an.
»Nein, Vater hat gesagt, wir sollen uns Mondkind schnappen und abhauen«, mischte Nebelfinger sich ein.
Nimmertiger drehte sich zu seinem jüngsten Bruder um und schnaubte: »Abhauen? Oh nein! Wir sind die Kinder des Sonnenkönigs! Wir fliehen nicht wie die Weiber vor dem Drachen. Wir passen auf unsere Familie auf. Wir bleiben zusammen.« Etwas leiser fügte er hinzu: »Wir haben schon unsere Mutter verloren. Sie konnte niemand retten. Aber Vater können wir retten.«
Nebelfinger fuhr sich durch das weisse Haar. Er schüttelte den Kopf, klappte den Mund auf und zu, suchte nach Worten, die seine Brüder umstimmen könnten, doch natürlich fand er keine. Das war eine der ersten Lektionen, die Sabrina bei den Rabenjungen hatte lernen müssen: Sie liessen sich durch nichts abhalten.
»Okay, dann tut was ihr nicht lassen könnt. Aber gib mir Mondkind. Geht ihr und kämpft für Vater, ich werde so lange auf unsere Schwester aufpassen!«, versuchte der Albino einen Kompromiss auszumachen. Er scheiterte. »Du? Du bist wie eine Schneeflocke in der Nacht. Du kannst unsere Schwester nicht beschützen, dich entdeckt doch ein blinder Adler aus tausend Metern Entfernung. Ausserdem habe ich gesagt, wir bleiben zusammen!« Somit war das Gespräch für Nimmertiger beendet. Er führte seine Brüder weiter durch das Schloss. Er presste seine Schwester an seine Brust, um ihr die Sicht auf all die Toten, denen sie begegneten, zu nehmen und ihr Weinen zu dämpfen. Seine Brüder folgten ihm. Einzig der jüngste von ihnen sah ängstlich und besorgt aus. Alle anderen waren entschlossen und voller Wut, die sich mit jedem Toten steigerte.
»Ich glaube, Nebelfinger hat mir von dieser Nacht erzählt. War es nicht so, dass Königin Damaris versucht hat, deinen Vater mit ins Boot zu holen? Und dann hat sie euch verflucht? Dich und deine Brüder?«, fragte Sabrina, die eins und eins zusammengezählt hatte.
Amethyst-Augen-Mondkind lachte freudlos und knurrte: »Das ist noch freundlich ausgedrückt. Anscheinend hat Nebelfinger dich mit der ganzen Geschichte verschont. Königin Damaris ist nicht nur einfach hergekommen, hat meinen Vater gefragt, ob er bei ihnen mitmacht, hat uns nach seiner Ablehnung verflucht und ist dann wieder gegangen. Sie hat in ihrer Wut alle umgebracht. Sie kann mit so was nicht besonders gut umgehen, weisst du?«
Sabrina schluckte. Ja, das hatte Nebelfinger ihr tatsächlich verschwiegen.
Mittlerweile hatten die Kinder des Sonnenkönigs beinahe den Thronsaal erreicht. Von weitem konnte man Schreie und das metallische Klirren von Waffen, die aufeinander prallten, hören.
Eine tiefe, voluminöse Stimme hallte von den Wänden wider: »Ich würde Ignatz niemals verraten! Er ist mein Bruder! Er ist euer Lichterlord! Wie könnt Ihr es wagen, mich darum zu bitten, meine Familie zu hintergehen? Wie könnt Ihr und Eure düsteren Kumpanen es wagen, die Herrscher der Gezeiten stürzen zu wollen? Das ist Hochverrat!«
Eine andere Stimme, die Sabrina in kommenden Alpträumen verfolgen würde und die sie schrecklicherweise aus ihrer letzten Traumreise kannte, antwortete: »Wir sind nicht die Verräter! Die Herrscher sind es. Sie sagen, sie würden „das Gleichgewicht zwischen Gut und Böse" wahren. Pha! Gut und Böse, schwarz und weiss. Wir wurden schon immer unterdrückt. Die netten Zwerge und tollen Elfen, die sind stets willkommen! Aber was ist mit uns? Was ist mit den Nekromanern, den Moracks, den Hexen, Hexenmeistern, Zauberern und Magiern, die schwarze Magie praktizieren? Wir leben mit Ablehnung. Wir werden überall benachteiligt! Die Herrscher machen nichts dagegen! Sie machen nichts als leere Versprechungen und das schon seit diese Welt zu existieren angefangen hat! Jetzt ist Schluss! Ich bitte dich, Tobias! Du kannst es doch auch sehen! Die Unterdrückung. Dein Bruder hat dich doch genauso abgeschoben, wie er es täglich mit uns macht. Er hat dich abgeschoben, weil er es kann. Du bist nicht der Erstgeborene. Nur darum kann er dir verbieten, deine Kräfte zu nutzen. Ist das fair? Bist du etwa der Meinung, das ist fair?«
»Ich habe nie gesagt, dass ich seine Art zu Regieren unterstütze. Aber trotzdem würde ich ihn niemals hintergehen!«
Wieder hallte der gellende Schrei aus Wut durch das Schloss. Der Schrei einer Hexe, die zurückgewiesen wurde. Der Schrei aus Wut...
Nun stolperten die sieben Rabenbrüder in den Thronsaal. Ihre Verfolger traten ebenfalls in den Raum ein.
Was sie sahen, war grauenvoll: Im ganzen Saal verstreut lagen leblose Körper. Hauptsächlich Soldaten aber auch ein paar unbewaffnete Wesen. Sie alle schienen sich selbst das Leben genommen zu haben. Die Wachen des Sonnenkönigs mit ihren eigenen Waffen, die restlichen Lebewesen hatten kreativer sein müssen. Mindestens zwei hatten sich mit Fackeln, die sie von den Wänden gerissen hatten, in Brand gesteckt. Ein paar andere hatten sich von den Treppen, die zu einem Podest führten, auf dem der Thron des Königs stand, geworfen und sich das Genick gebrochen.
Sabrina weigerte sich, die Todesursache weiterer Leichen zu erschliessen und versuchte die leblosen Körper so gut wie möglich zu übersehen.
Stattdessen konzentrierte sie sich auf die Lebenden. In diesem Fall auf die beiden Kämpfenden.
Natürlich waren Sabrina und Mile ganz wild darauf, ihren Onkel zu sehen, doch dieser hatte ihnen leider den Rücken zugewandt. So konnten sie nicht viel von ihm sehen, aber wenigstens etwas...
Sabrina hätte erwartet, den rebellischen, hochgewachsenen Sonnenkönig wie ihren Vater in einer prunkvollen, goldenen Rüstung zu sehen, doch sie hatte sich getäuscht. Der Sonnenkönig trug einen klassischen Herrenanzug aus Samt. Jackett, Weste, Hemd, Hose, Gürtel und Schuhe waren völlig schwarz. Um seinen rechten Oberarm hatte er ein breites Stoffband gebunden, das aus Goldfäden gesponnen war. An einem breiten Ledergürtel hing die Schwertscheide seiner riesenhaften Waffe. Ein Beidhänder mit dem man sicherlich sogar einen Elefanten mit einem Hieb hätte enthaupten können. Es versetzte Sabrina einen enttäuschten Stich, dass sie ihren Onkel nicht ins Gesicht blicken konnte. Leider hatte er ihnen noch immer den Rücken zugedreht. So konnte sie nur seinen Hinterkopf sehen. Sein Haar hatte einen dunkleren Rotstich als Mile oder ihr Vater es gehabt hatte. Dafür war sein Tan der genau gleiche. Nicht so weiss wie Sabrinas, aber trotzdem noch hell. Wie weisse Asche oder Rauch. Wie für einen König üblich, trug der Sonnenkönig eine goldene Krone. Sie war genauso wenig prunkvoll oder auffallend wie die Kleidung ihres Besitzers. Sie bestand aus einem leicht ovalen, ein Zentimeter dicken Reif, dessen Innenseite gepolstert war. Entlang der abgeflachten Aussenseite verlief eine glatte, dünne, aber dennoch massive Goldplatte, die etwa zwei Zentimeter höher als der Reif war. Die Metallplatte war nicht graviert, verziert oder mit irgendwelchen Edelsteinen versehen. Sie sah genau so aus, wie Kinder eine Krone malen würden. Vielleicht etwas weniger hoch und mit gleichmässigen, relativ stumpfwinkligen Zacken. Dafür war das glatte Metall so gut poliert und gleichmässig abgerundet, dass man sich darin spiegeln konnte.
Die Frau, deren Stimme Sabrina bereits kannte, hatte ihnen ihr Gesicht zugewandt. Heute war sie eine der Dunklen, doch in Mondkinds Erinnerung kannte man sie nur als böse Königin Damaris. Ihr Haar war tiefschwarz und mit einem strengen Zopf gezähmt worden, der sich einmal um ihren Kopf wand. Auf ihrem Haupt trug sie eine goldene Krone, deren Zacken wie schmale, spitze Nadeln in die Höhe ragten. Jede Spitze war an den Kanten mit tausenden kleinen Rubinen besetzt. Auf einer Wölbung an der Vorderseite der Krone waren apfelförmige Spiegel eingelassen, die ebenfalls von Rubinen umkränzt wurden. Das Kleid der Königin hatte einen metallisch roten Kragen, der sich in ihrem Nacken zu einem regelrechten Fächer ausbreitete. Der Ausschnitt war gefährlich tief und zeigte mehr als nötig. Dank einer goldenen Kette, die sich über dem Dekolleté der Königin spannte, blieb der Stoff, wo er sein sollte. Ja, dieser Stoff. Der gesamte Oberkörper der Königin steckte in einem schwarzen Glitzerungeheuer aus Samt und Pailletten. Die Ärmel bestanden aus enganliegenden, netzartigen Fäden, die sich über die bleiche Haut Damaris' spannten. In der linken Hand der Königin lag ein schwerer Stab aus einem dunklen Holz. Er lief zu einem Ende spitz zu, zum anderen wurde er breiter. Auf dem breiteren war ein gläserner Apfel angebracht, in dessen Inneren irgendein dunkler Qualm zu wabern schien. Von der Taille abwärts wurde der Stoff zunehmend farbiger. Als hätte sich der Teil, der den Boden berührte, mit Blut vollgesaugt, kletterte eine rötliche Verfärbung den Samt hinauf.
Die Kleidung der Königin war ein Wunder, doch sah man erst ihr Gesicht, blieb einem endgültig die Spucke weg. Diese Frau hatte Kurven und Kleider wie die Götter, doch ihr Gesicht war so schrecklich schön wie das eines Titanen.
Ihre helle Haut war so makellos glatt und weich wie die eines Neugeborenen. Ihr Gesicht war sehr schmal, hatte aber hohe und runde Wangenknochen, die zu sanften, leicht rosigen Wangen herabflossen. Sie hatte einen spitzen Haaransatz, eine glatte, furchenlose Stirn und geschwungene, schmale aber dennoch ausdrucksstarke Augenbrauen. Ihre Nase geschwungen und spitz mit schmalen Nasenflügeln. Ihre herzförmigen Lippen waren voll und mattrot. Dahinter lagen zwei Reihen weisser Zähne, wie aus einer Zahnpastawerbung. Ihr Kinn war gerade und spitz. Dicke, lange Wimpern umfächerten ihre grossen, hellgrauen Augen. Ihre Augenlider waren mit einem perfekt sitzenden, rötlichgoldenen Lidschatten betont worden. Passend dazu funkelten die Rubine und roten Juwelen an ihren Ohrringen und ihrer Halskette. An ihrem Haaransatz, in geschwungenen Linien über ihre Wangen, unter den Augen und am Rande ihres Ausschnitts hatte die Königin sich zusätzlich funkelnde, rote Steine aufkleben lassen. Diese bedeckten auch ihren Handrücken und wie ein passendes Accessoire ebenso ihren Ebenholzstab.
Wer lange lebt, sieht viele Gesichter während seines Daseins. Viele schöne und viele weniger schöne Gesichter. Wer also lange lebt, wird mit der Weisheit gesegnet sein, dass äusserliche Schönheit ein dehnbarer Begriff ist. Schönheit kann auf vielem basieren. Manche sind schön, weil sie lächeln können wie die Sonne. Andere sind schön, weil sie Dinge gesehen haben, die sich in ihren Augen mit einem Leuchten widerspiegeln, das heller als der Mond ist. Manchmal sind da jene, die schön sind, weil die Natur es ihnen zum Geschenk gemacht hat, schön zu sein. Das sind dann die natürlich Schönen, die selbst nach einer Schlammschlacht ihren Glanz nicht verlieren. Wieder andere haben die Schönheit nicht offensichtlich an sich, doch sieht man sie länger an, redet mit ihnen, verbringt auch nur ein kleines bisschen Zeit mit ihnen, dann überfluten sie einen mit einer solchen Welle aus Wundervollem, dass man kaum wagt, den Blick jemals wieder von ihnen zu wenden. Schönheit ist also ein dehnbarer Begriff und jeder weiss ihn anders zu interpretieren und zu sehen.
Königin Damaris war keine der beschriebenen Schönheiten. Königin Damaris hatte ihre eigene Schönheit erfunden. Eine Schönheit, die so grausam war, dass man beinahe Angst hatte, sie zu bewundern, denn die Gefahr, von ihr vergiftet zu werden, war praktisch sicher. Königin Damaris trug ihre Boshaftigkeit in einem Lächeln zur Schau. Ihr Hass war das Glitzern in ihren hellgrauen Augen. Sie war schön wie Schatten.
»Sie ist wunderschön«, flüsterte die reale Mondkind. »Aber wisst ihr, wieso sie trotzdem von einem Kind wie Schneechen es gewesen ist, übertrumpft wurde? Schneewittchen trägt die Schönheit wie Licht in sich und verschenkt Freude. Darum war sie schon immer schöner als diese Frau, denn Königin Damaris hat kein Herz und wer nicht lieben kann, wird auch niemals so geliebt werden.«
Wie immer war es erstaunlich, wie weise Mondkind war oder wie sie von Dingen sprach, die sie eigentlich noch gar nicht verstehen konnte. Vor allem jetzt, da Sabrina ihr früheres Ich gesehen hatte.
Sabrina dachte über die Worte ihrer Cousine nach. Damals, als sie Falk zum ersten Mal gesehen hatte... Er sah wirklich nicht übel aus. Sie hatte sich sofort zu ihm hingezogen gefühlt, so oberflächlich das auch war. Jetzt sah sie ihn jedoch noch mal anders als bei ihrer ersten Begegnung. Früher war es eine Schwärmerei gewesen. Das simple Interesse für jemanden, der ein schönes Gesicht hat. Nun war sie sich sicher, verliebt zu sein, ihn zu lieben, ja, sie liebte ihn. Und nun war es nicht nur einfach dieser gut aussehende Kerl. Nun war er schön, denn er konnte für sie dieses Feuer entfachen, das ihre Welt zum Strahlen brachte.
Als Sabrina nun die böse Königin betrachtete, war es anders. Nun, da sie wusste, was Mondkind ihr verraten hatte, nun, da sie an Falk gedacht hatte, nun war es fast so, als ob sie gegen die Schönheit der Königin immun wäre.
Sabrina sah zu ihrem Bruder auf, der die Königin noch immer betrachtete. Sei Blick hatte aber nicht diesen Ausdruck, den junge Männer aufhatten, wenn sie eine besonders schöne Frau sahen. Seine Augen blitzten wie die eines Spielers, der sich seines Sieges sicher war.

Uralte Fassung (1): Twos - Die Prophezeiung von Feuer und EisWhere stories live. Discover now