Kapitel 21

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Es dauert nicht lange, bis wir schließlich am Flughafen ankommen. Dafür nehmen die ganzen Kontrollen aber umso mehr Zeit in Anspruch. Aber gut, Sicherheit geht vor und eigentlich bin ich ganz froh darüber.

Als wir endlich in der Maschine angekommen sind und uns auf unsere Plätze gesetzt haben - ich habe mir den Platz am Fenster ergattert -, realisiere ich erst richtig, dass wir gleich auf einen anderen Kontinent zusteuern. Während der Autofahrt hätten wir jederzeit umdrehen können, es hätte ja nur eine kleine Roadtour sein können.

Tatsächlich ist das auch der erste Flug in meinem Leben. Bisher sind wir immer nur an die Küste gefahren. Auch wenn mein Dad ziemlich gut verdient, hieß es immer, dass das Fliegen zu teuer ist. Desto überraschter war ich, als er mir die Hälfte des Fluges bezahlt hat.

"Ist alles in Ordnung mit dir?", erkundigt sich Alex bei mir. Wahrscheinlich sieht man mir es an, dass ich mehr als nur angespannt bin.

"Ja, es ist nur... Ich hab das Gefühl, mein Herz explodiert gleich. Ich glaube, ich war noch nie so aufgeregt wie in diesem Moment", gebe ich zu und schaue zu Boden.

"Nicht einmal, als du in meinem Bett unter der Decke warst und meine Grandma dich hätte sehen können?", fragt er auf einmal, worauf ich ihn etwas entgeistert anschaue. "Okay, sorry. Das hätte ich mir verkneifen sollen."

"Nein, ist schon okay", versuche ich, die Situation etwas zu lockern. Doch vergeblich, denn während er sich verlegen am Hinterkopf kratzt, spüre ich schon das Blut in meine Wangen schießen.

Eine ganze Weile sagt keiner von uns beiden etwas und ich hoffe nur, dass das nicht den ganzen Flug so geht. Es wäre auch das erste Mal, dass ich mich in seiner Nähe unwohl fühle.

Bald darauf stellt sich bereits eine Sterwardess vor und kündigt an, dass wir in Kürze abheben. So spüre ich schon nach wenigen Augenblicken das Gefühl der Schwerelosigkeit und beobachte, wie all die Gebäude, die Bäume und alles andere immer kleiner werden. Es ist unglaublich.

"Wow", staune ich deshalb, ohne meinen Blick vom Fenster abzuwenden. Mein Verhalten mag zwar dem eines kleinen Kindes gleichen, aber das ist mir egal und Alex scheint es auch nichts auszumachen.

Das einzige, was er macht, ist mich anzulächeln. Es ist ein ehrliches Lächeln, denn es erreicht sogar seine Augen. Es gefällt mir, sogar sehr.

Warum denke ich eigentlich darüber nach? Ich fliege nach Toronto, treffe Shawn und kann Alex bei der Verwirklichung seines Traumes begleiten. Trotzdem mache ich mir Gedanken über ein dämliches Lächeln.

"Es wird ein langer Flug und wenn wir in Toronto ankommen, wird es dort erst Mittag sein. Also wenn du nicht an einem Jetlag leiden möchtest, würde ich an deiner Stelle versuchen, hier zu schlafen", meint der Junge plötzlich und bringt mich damit zurück in die Realität.

"Das kannst du doch nicht ernst meinen, oder? Ich werde bei diesem Ausblick niemals schlafen können!", protestiere ich, während ich mit beiden Händen auf das Fenster zeige. Inzwischen befinden wir uns auf Höhe der Wolken.

"Das ist mein voller Ernst, Kyla", lacht er nun. "Wenigstens ein bisschen. Glaub mir, das wird dir gut tun. Außerdem, was willst du sonst die ganze Zeit machen? Ganz ehrlich, wenn ich nur aus dem Fenster schauen würde, würde ich irgendwann automatisch einschlafen."

Kopfschüttelnd denke ich daran, wie spannend das Beobachten von Personen und ähnlichem doch sein kann. Vielleicht bin ich ein kleiner Stalker, aber ich könnte das den ganzen Tag machen und mir würde nicht langweilig werden. Das habe ich von meiner Mom. Aber gut, andere interessiert das eben nicht.

Aus diesem Grund nenne ich eine andere Tätigkeit: "Reden. Abgesehen von deinem Traum, deiner schulischen Sportkarriere und dem Streit mit deinem Bruder weiß ich ja nicht besonders viel von dir. Also los, erzähl mir was von dir."

"Und das willst du lange acht Stunden tun?" Sein Ton verrät ganz genau, was er von meiner Idee hält. Doch davon lasse ich mich nicht beirren.

Zunächst nicke ich einfach nur eifrig, bis mir einfällt, worüber wir reden könnten. "Tut mir leid, wenn dir das zu nahe geht. Du musst mir nicht einmal antworten, aber ich frage mich schon länger, was in eurer Familie vorgefallen ist. Gibt es einen bestimmten Grund, warum Noah dich so hasst?"

Im ersten Moment war ich so überzeugt von dieser Frage, denn ich würde die Geschichte so gerne kennen, doch nun bereue ich es, sie gestellt zu haben. Wenn man die Zeit zurückdrehen könnte, würde ich es jetzt tun.

Alex' Mund steht ein kleines bisschen offen und seine Augen sind weit aufgerissen. Anscheinend hat er nicht damit gerechnet. Und ich gebe es ja zu, ich hätte wirklich etwas schonender herangehen sollen.

Er scheint mir sich selbst zu ringen, wie er nun reagieren soll. Es fühlt sich wie Stunden an, bis er irgendeine Regung zeigt.

Doch dann dreht er sich auf seinem Sitz zu mir und legt seinen Arm auf der Rückenlehne meines Sitzes ab, wobei er kurz meine Wange mit seinen Fingerspitzen streift. Auf einmal kribbelt es ganz leicht an dieser Stelle.

"Ja, da gibt es einen Grund", fängt er schließlich an und zieht damit meine komplette Aufmerksamkeit auf sich. "Vor zwei Jahren... Da ist etwas passiert, wofür Noah mich verantwortlich macht. Und mittlerweile frage ich mich sogar, ob er recht hat.

Heute bereue ich es, aber damals habe ich meine Mutter angeschrien. Ich weiß ehrlich gesagt nicht mehr, warum, aber ich war sehr wütend. Und so hat sie sich die Autoschlüssel geschnappt und weinend das Haus verlassen.

Mein Dad hatte kurz davor einen kleinen Unfall, weswegen er nicht selbst fahren konnte. Mom wollte ihn nur zum Arzt bringen. Und hätte ich sie nicht so angeschrien, wäre auch alles nach Plan verlaufen... Wahrscheinlich war sie so sehr abgelenkt von meinem Wutausbruch, dass sie das entgegenkommende Auto nicht gesehen hat... Meine beiden Eltern sind gestorben."

Auch wenn das, was er mir gerade erzählt hat, schrecklich ist - es hat mir sogar Tränen in die Augen getrieben -, bin ich froh, dass er mit der Sprache herausgerückt ist. Damit hat Alex mir nämlich gezeigt, dass er mir vertraut, und das macht mich glücklich.

Doch statt mein Beleid auszusprechen, sage ich einfach nur: "Danke, dass ich es wissen durfte. Das bedeutet mir viel."

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Vielen Dank für 2k!❤️❤️❤️

Internet Love | s.m.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt