Kapitel 63

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Langsam gehe ich in das Zimmer von Alex hinein und schließe die Tür. Das erste Mal seit Langem, dass ich wieder hier bin, und dann auch noch alleine. Fühlt sich irgendwie komisch an. Aber andererseits kann ich mir auch ein Lächeln nicht verkneifen, als mir die ganzen Erinnerungen hochkommen.

Wenn ich daran denke, wie ich mich gefühlt habe, nachdem ich neben ihm im Bett aufgewacht war, spüre ich immer noch die aufkommende Hitze. Diese Situation werde ich wahrscheinlich nie vergessen. Und ehrlich gesagt will ich das auch gar nicht, selbst wenn ich nun mit Shawn zusammen bin.

Tatsächlich schwelge ich länger in Erinnerungen, als ich es mir vorstelle, denn als ich auf die Uhr schaue, sind schon fast zehn Minuten vergangen. Das müsste ja genug Zeit gewesen sein, damit Lori und Noah alles klären konnten. Außer natürlich, es ist irgendetwas schief gegangen, doch davon gehe ich nicht aus.

Deshalb mache ich die Tür wieder auf und mache mich auf den Weg nach unten. Mit jedem Schritt werden die Stimmen von den beiden lauter und ich stelle fest, dass meine beste Freundin Noah - sicher erneut - erklären muss, warum sie sich so entschieden hat.

"Ich kann das einfach nicht mehr. So wie du über deinen Bruder urteilst...", sagt sie und weiß anscheinend nicht, wie sie fortfahren soll. Würde ich aber sicher auch nicht. Mittlerweile habe ich die Treppe hinter mir und befinde mich nur noch wenige Meter von ihnen entfernt.

Um Lori aus der Situation herauszuhelfen, trete ich nun zu ihnen heran und sage an den Jungen gewandt: "Und genau darüber muss ich mit dir reden." Danach drehe ich mich zu Lori und flüstere ihr zu: "Wenn du willst, kannst du schon einmal rausgehen. Ich komme später nach."

Nachdem sie genickt und dann das Haus verlassen hat, setzt sich Noah auf die Couch und wartet darauf, dass ich das Gespräch beginne, wobei er ziemlich gelangweilt wirkt. Bei diesem Gesichtsausdruck habe ich eigentlich auch keine Lust mehr, doch ich muss es meinem besten Freund zuliebe tun.

"Ich weiß, du bist der Meinung, Alex sei an dem Tod deiner Eltern schuld", fange ich mit selbstbewusster Stimme an, während ich ein, zwei Schritte auf ihn zugehe. Ihm direkt gegenüberzustehen, halte ich für keine gute Idee. Wer weiß, wie aggressiv er werden kann. Ich möchte mir nicht auch eine gebrochene Nase einfangen.

"Ja, weil es auch so ist", meint der Junge und verschränkt seine Arme miteinander. "Er hat unsere Mom angeschrien und dafür gesorgt, dass sie nicht ganz bei der Sache war und das Auto nicht gesehen hat. Wäre er nicht gewesen, wären unsere Eltern heute noch hier. Wahrscheinlich ist er auch der Grund, warum Lori mit mir Schluss gemacht hat."

"Wow, warte!", werde ich etwas lauter. "Alex hat absolut gar nichts mit eurer gescheiterten Beziehung zu tun. Da ist einzig und allein dein Verhalten dran schuld. Aber egal, wir schweifen vom eigentlichen Thema ab." Es gibt keinen Ausweg für ihn, da müssen wir jetzt beide durch.

Ich atme einmal kurz durch, damit ich meine Gedanken ein wenig sortieren kann, und sage dann: "Nur weil dein Bruder eure Mom angeschrien hat, muss es nicht heißen, dass er schuld an dem Tod eurer Eltern ist. Eigentlich hätte sie genauso gut wissen müssen, dass sie in diesem Zustand nicht in der Lage war, Auto zu fahren. Sie hätte sich erst einmal beruhigen müssen. Willst du jetzt auch auf deine Mutter wütend sein?"

"Natürlich nicht", schaut Noah endlich zu mir auf. "Mag ja sein, dass sie es hätte wissen müssen, aber Alex ist immer noch der Ursprung allen Übels. Das alles ist nur wegen ihm passiert. Er hätte sich einfach zusammenreißen sollen."

Fast muss ich lachen. "Das sagt ja gerade der Richtige", mache ich ihm klar. "Wenn du dich mit deinen Bemerkungen über ihn zurückgehalten hättest, hättest du immer noch eine Freundin. Die hättest du dir nämlich echt sparen können."

Auf einmal steht er von der Couch auf und ich mache instinktiv einen Schritt nach hinten. Ich muss zugeben, dass ich es kurz mit der Angst zu tun bekomme, doch glücklicherweise ist die unberechtigt. Noah kommt mir nicht noch näher, sondern bleibt an Ort und Stelle stehen.

"Wie soll ich den sonst meine Wut auf ihn loswerden?", fragt er beinahe verzweifelt. "Zu einer Therapie gehen? Nein, danke." Dabei würde er sie wirklich gebrauchen. "Ich kann nicht alles aufstauen, ich muss es irgendwie rauslassen."

"Vielleicht war es ja gerade das", mutmaße ich nachdenklich. "Vielleicht hatte Alex ja schon vorher irgendwie Stress und hat alles in sich hineingefressen. Und irgendwann ist es dann halt wahrscheinlich zu viel geworden und es ist alles hinausgebrochen."

Nun scheint sich Alex' Bruder meine Vermutung tatsächlich durch den Kopf gehen zu lassen. Ich würde mal sagen, das ist ein Fortschritt, denn vorhin hat ihn das Gespräch scheinbar nicht interessiert. Möglicherweise habe ich hier einen wunden Punkt getroffen.

"Das war ich", flüstert er und schaut zu Boden. "Er hatte Stress mit mir. Wir haben uns damals schon gestritten, weil wir in dasselbe Mädchen verknallt waren, welches letztendlich ich abbekommen habe. Ich kann es kaum glauben, aber ich denke, ich bin schuld an seinem Wutausbruch."

Seine Stimme klingt unerwarteterweise brüchig, weshalb ich es wage, auf ihn zuzugehen und ihm ins Gesicht zu sehen. In seinen Augen glitzern Tränen. Tränen, von denen ich niemals dachte, sie jemals bei ihm zu sehen.

"Es tut mir leid, ihn die ganze Zeit beschuldigt zu haben, obwohl er keine Schuld trägt. Mir hätte das wirklich früher klar werden sollen. Aber es hat mir irgendwie geholfen, mit dem Schmerz klarzukommen", gibt der Junge zu, wobei ihm schließlich eine Träne über die Wange läuft. "Ich bin daran schuld, dass wir keine Brüder mehr sind."

Nachdem er das gesagt hat, verstehe ich ihn irgendwie besser. Klar hat er einen Fehler gemacht, aber wenigstens hat er diesen eingesehen. Und anscheinend ist er auch bereit, sich mit Alex zu vertragen.

Auch das hätte ich niemals gedacht, doch er tut mir wirklich etwas leid. "Sag das nicht", versuche ich deswegen, ihn zu trösten. "Ihr bleibt immer Brüder, egal was passiert. Ich bin mir sicher, er kann dir verzeihen. Auch wenn es seine Zeit braucht."

Im nächsten Moment lächelt Noah ein klein wenig, versucht es zumindest, und sagt: "Danke. Danke, dass du mir klargemacht hast, wie blöd ich eigentlich war. Und danke, dass du mich aufmuntern wolltest."

"Gerne", sage ich ehrlich und räuspere mich dann. "Ähm, ich werde jetzt gehen. Lori wartet auf mich." Nachdem wir uns verabschiedet haben, verlasse ich also das Haus.

Irgendwie blöd gelaufen. Eben hat Lori mit Noah Schluss gemacht und dann will er sich ändern. Aber wer weiß, vielleicht gibt es ja eine zweite Chance für die beiden oder eine ganz neue Liebe.

"Und?", fragt meine beste Freundin sofort, als ich neben sie trete, und schaut mich gespannt an. "Seid ihr zu einem Ergebnis gekommen?"

"Ja, das sind wir", antworte ich. "Es ist alles gut ausgegangen."

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Jetzt ist die Sache endlich geklärt🙈

Oh man, nur noch zwei Tage, dann werden meine Weisheitszähne gezogen. Irgendwie bekomm ich jetzt schon ein bisschen Schiss😅

Internet Love | s.m.Where stories live. Discover now