Kapitel 37

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Inzwischen bin ich seit einer Woche wieder in London. Die meiste Zeit war ich tatsächlich mit Schulzeugs beschäftigt, weil ich doch einiges nachholen musste. Natürlich werden immer neue Themen angefangen, wenn man nicht dabei ist. In meiner ersten Mathestunde nach Toronto hatte ich also so gut wie keinen Plan.

Das hat sich zum Glück geändert, nachdem ich mich ein paar Nachmittage herangesetzt habe. Jetzt bin ich mit meinen Mitschülern wieder auf dem gleichen Level. Wäre auch schlimm, wenn nicht, denn die Abschlussprüfungen sind nun nur noch vier Wochen entfernt. Nach meiner Mom hätte ich schon drei Monate vorher anfangen sollen zu lernen, aber wer macht das schon bitte?

Ach ja, was sie angeht, gibt es auch Neuigkeiten. Einen Tag nach Lori's Besuch habe ich mit ihr geredet. Sie war zunächst ziemlich überrascht und hat mich gefragt, warum ich denn vorher nichts gesagt habe, aber dann hat sie sich sehr gefreut. So sehr, wie Noah sich gefreut hat, als er erfahren hat, dass sein Bruder wegzieht.

Eigentlich wollte ich die beiden ja miteinander versöhnen, doch das hat sich als schwieriger herausgestellt als gedacht. Noah hat immer, wenn ich versucht habe mit ihm zu reden, dicht gemacht und ist auf sein Zimmer verschwunden. So langsam glaube ich, er hat die Hoffnung komplett aufgegeben und will wirklich nichts mehr mit Alex zu tun haben.

Ich hingegen hätte gerne noch mehr Zeit mit ihm, aber morgen wird er bereits zurück nach Toronto fliegen. Eine eigene Wohnung hat er dort zwar noch nicht gefunden, doch einer seiner Teamkollegen war so nett und hat ihm ein Zimmer angeboten. Also wird er zunächst einmal dort wohnen.

"An was denkst du?", werde ich aus meinen Gedanken gerissen. Darauf schaue ich in das Gesicht von Alex, der neben mir auf meinem Bett sitzt. Den letzten Tag müssen wir selbstverständlich gemeinsam verbringen. Es ist schon hart, gerade erst zusammengekommen zu sein und dann auf eine Fernbeziehung umsteigen zu müssen.

"An dich", gebe ich zu und lächele ihn halbherzig an. Allerdings merkt er gleich, dass ich mir dieses Lächeln erzwinge. Auch wenn ich mir heute Morgen gesagt habe, dass ich das Beste aus diesem Tag machen sollte, sinkt meine Laune jedes Mal, wenn ich daran denke, dass mein Freund morgen nicht mehr da ist.

Manche würden vielleicht sagen, dass ich dann einfach nicht mehr daran denken sollte. Tja, wenn das mal so leicht wäre... Wenn ich am darauffolgenden Tag das Konzert meines Lieblingssängers besuche, muss ich ja auch ständig daran denken. Das ist genau dasselbe, mit dem einzigen Unterschied, dass man sich auf die zweite Situation freut.

"Ach, Kyla", murmelt Alex und legt seinen Arm um mich, um mich an sich zu ziehen. Ich lege darauf meinen Kopf auf seiner Schulter ab. "Es wird schon alles gut werden. Ich weiß, dass Fernbeziehungen schwierig sind, aber wir schaffen das. Das verspreche ich dir." Obwohl ich keine Ahnung habe, warum er sich da so sicher ist, glaube ich ihm einfach mal.

"Du musst mir schreiben, sobald du weißt, wann das nächste Spiel ansteht, damit ich dich besuchen kann", erzähle ich ihm, während ich auf meine Füße starre. "Du brauchst ja immerhin noch jemanden, der dich anfeuert." Bei der Vorstellung, wie ich die ganzen achtzig Minuten lang seinen Namen rufe und alle Leute mich anschauen, muss ich grinsen.

"Darauf kannst du dich verlassen", sagt er, worüber ich erleichtert bin, und legt seinen Kopf nun auch auf meinem ab. Wir verweilen eine ganze Weile in dieser Situation - es tut gut, ihm noch einmal so nah zu sein. Doch irgendwann wird es etwas ungemutlich, weshalb ich mich etwas zurückziehe und mich wieder aufrecht hinsetze.

"Was machen wir jetzt eigentlich? Ich meine, wir wollen doch bestimmt nicht den ganzen Tag hier rumsitzen, oder?", erkundige ich mich dann bei ihm. Das ist wie beim Strand in Toronto; ich kann nicht einfach nichts tun. Daran muss ich meinen Dad, der der Meinung ist, nichts tun sei schön, auch immer wieder erinnern.

Nun setzt Alex sich an den Rand des Bettes, sodass ich seinen breiten Rücken sehen kann. Als er sich leicht zu mir dreht, kneift er sein linkes Auge ein bisschen zu, als wollte er mir zuzwinkern, und äußert sich: "Wenn ich vorhin richtig gesehen habe, habt ihr unten eine Dartscheibe. Nimmst du die Herausforderung an, gegen mich zu spielen?"

"Oh je, ich hab schon ewig nicht mehr gespielt", gebe ich zu. Tatsächlich vermute ich sogar, eine Menge Staub an der Scheibe zu finden, weil das letzte Mal bestimmt schon zwei Jahre her ist. Aber das bedeutet ja, dass es noch lustiger wird als sowieso schon. "Aber okay, Herausforderung angenommen."

"Du wirst so was von verlieren!", lacht der Junge, während wir beide aufstehen und aus meinem Zimmer gehen. Im Stillen gebe ich ihm Recht, auch wenn man beim Darts nie genau weiß, wie es ausgeht. Ich könnte meine Punktzahl zwar schneller verringern als er, aber sicher werde ich am Ende nicht die passenden Bereiche treffen.

Als wir unten im Keller angekommen sind, mache ich schnell das Licht an und stecke das Kabel ein, da es sich um eine elektronische Scheibe handelt. Alex sucht sich währenddessen schon seine Pfeile aus. Er entscheidet sich für Großbritannien, also wähle ich die Vereinigten Staaten. Gäbe es auch Kanada, würde die Wahl sicher anders aussehen.

Das Spiel beginnt schon einmal super, denn meinen ersten Pfeil versenke ich in der Wand. "Oh, scheiße!", schreie ich aus Versehen und entschuldige mich in Gedanken bei meiner Mom wegen des Lärms. Ich hätte sie wahrscheinlich vorwarnen sollen. "Ich sagte ja, dass ich schon lange nicht mehr gespielt habe."

Wir beide kommen aus dem Lachen gar nicht mehr heraus. Immer wieder verfehle ich die Scheibe und lasse einige Pfeilspitzen abbrechen. Insgesamt spielen wir um die sechzehn Runden und es geht 11:5 aus. Für ihn natürlich, wie sollte es auch anders sein? Aber hey, wenigstens habe ich auch ein paar Runden geschafft.

Mittlerweile ist es Abend und Alex muss zurück zu sich nach Hause. Da sein Flieger mitten in der Nacht startet, muss er sich langsam auf den Weg machen. Ich wusste, dass es sinnlos ist, doch den ganzen Nachmittag habe ich gehofft, dass irgendetwas dazwischenkommt und ich ihn noch etwas länger für mich habe. Nun ist der Moment gekommen. Ich muss mich von ihm verabschieden.

Wir stehen bereits beide an der Haustür. "Du schreibst mir, wenn du angekommen bist, okay?", rede ich auf Alex ein, worauf er nickt. "Oh man, ich vermisse dich schon jetzt." Ich spüre, wie sich Tränen in meine Augen schleichen, und ich umarme ihn, weil ich nicht will, dass er mich weinen sieht.

"Ich dich auch", entgegnet er mir und streicht mir behutsam über den Rücken. Irgendwann lösen wir uns voneinander, nur um darauf unsere Lippen aufeinander zu spüren. "Mach's gut", sind die letzten Worte von ihm, bevor er die Tür öffnet und geht.

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Heute hatte ich meine zweite Fahrstunde und bin einfach 'ne Dreiviertelstunde durch mein Heimatdorf gefahren. War voll witzig, weil ich meiner Fahrlehrerin immer erklärt hab, was das für Gebäude sind😂

Internet Love | s.m.Where stories live. Discover now