35 - Matthias Green

2.3K 280 36
                                    

~☀️~
Student sein finde ich klasse.
Zwar muss ich jetzt wirklich für meinen Kaffee zahlen, aber anstatt die Grundschüler zu unterhalten kann ich nun das tun, worin ich am besten bin – Witze reißen, Energy Drinks kippen und mit meinen Vorgesetzten flirten.

Als der Oktopus und ich zum ersten Mal tatsächlich im Vorlesungssaal aufgeschlagen sind, haben wir zugegebenermaßen einen hyperdramatischen Auftritt hingelegt. Mit meinem Babyalien auf der Schulter und Kopfhörern in den Ohren stolziere ich an jenem Schicksalstag die Stufen hinunter. Auf dem T-shirt, das ich von meinem Ex Helferchen Ricky geklaut habe, steht groß ‚Fuck the patriarchy'. Eine Kaugummizigarette ragt aus meinem linken Mundwinkel und ich habe eine türkise Baseballcap falsch herum auf dem Kopf. Der Oktopus trägt die gleiche Kappe, aber sie ist ihm ein wenig zu groß. Kann eben nicht jeder mein Gehirn haben.

Besagtes Gehirn brauche ich aber nicht unbedingt in den Vorträgen der Veteranen, die die Puppies unterrichten. Die meisten Vorlesungen sind stinklangweilig und für den Job, auf den sie angeblich vorbereiten sollen, absolut unnötig.
‚Historische Waffensysteme'? Bitte.
Sie sollten ihren Schützlingen lieber beibringen ordentlich zuzuschlagen, oder nicht zu stolpern, wenn sie auf der Flucht sind.

Das ist tatsächlich ein ziemliches Problem in Geheimagenten Kreisen, auch wenn man es nicht glauben will - es sieht nämlich nicht nur bescheuert aus, sondern endet in den meisten Fällen tödlich. Niemand will ein pinkes PostIt mit einem ‚Zu dumm zum Laufen'-Vermerk in Avas geschwungener Handschrift als letzten Eintrag in seiner Personalakte.
Meine Koordinatorin würde sich in den Hintern beißen, wenn sie wüsste, wie viel entspannter mein Leben ist, seit sie mich degradiert hat.

Neben der Sache mit dem Kaffee trübt nur eines die neu entdeckte Freude an meiner Degradierung: MacClara.
Sie legt das einzige Verhalten an den Tag, das mich wirklich zutiefst verletzt. Sie ignoriert mich.
Seitdem ich ihr vor vier Tagen angeboten habe, ihr zu helfen, vermeidet sie es um jeden Preis, mit mir zu reden. Dabei ist sie nicht annähernd so unauffällig, wie sie denkt.

Wenn ich mit dem roten Jet Team in der Kaffeteria abhänge, Panic über den Tisch ziehe, weil ich noch besser schummle als er, oder mit Jenkins über Rockbands, Backpulver und unsere ADHS Diagnosen fachsimple, hält sie sich abseits und wirft nur ab und zu einen neunmalklugen Kommentar ein. Sie verschwindet, sobald es gesellschaftlich akzeptabel ist und ist so gut darin, sich unsichtbar zu machen, dass ich meinen attraktiven Kontakt in der IT sogar bitte zu prüfen, ob sie versetzt wurde.
Doch dann sitzt sie wieder auf ihrem Fensterbrett und liest alte Comics.

Das Ganze entwickelt sich zu einer Art Kindergartenwettbewerb.
Sie will mir immer ‚zufällig' aus dem Weg gehen und ich würde gerne ‚zufällig' in sie hineinrennen, um zur Abwechslung mal ein konstruktives Gespräch zu führen.

MacClara sieht mich auf dem Gang, dreht sich auf dem Absatz um und verschwindet unglaublich unauffällig in die entgegengesetzte Richtung. Ich nehme ebenso unauffällig eine andere Route, um vor den Aufzügen ‚zufällig' in sie hineinzurennen.
Beim Essen steht sie ‚zufällig' auf, wenn ich komme und ich habe ‚zufällig' keinen Hunger, stehe ebenfalls auf und verschenke meine Ration an Crimson.

Dummerweise will ich nicht aufdringlich sein, damit sie mich nicht für notgeil oder – Gott bewahre – verknallt hält.
Das bringt mich auf eine andere Idee und ich fange beiläufig an mich mit Melissa sehen zu lassen, die schon bei unserem gemeinsamen Training klar gemacht hat, dass sie gerne die Mutter meiner Kinder werden würde.

Nicht, dass ich vorhätte, Vater zu werden, aber vielleicht macht das dem Schneeflöckchen klar, dass ich es nicht nötig habe, ihr hinterherzugeiern und nur aus professionellem platonischem Interesse an ihrem persönlichen Wohlbefinden angeboten habe, ihr zu helfen. Der Oktopus und ich führen lange Diskussionen darüber, ob diese Taktik genial oder bodenlos unverschämt ist.

„Ich schwöre dir, sie ist eifersüchtig", erkläre ich Grabsy, während ich mein Bett neu beziehe, „Sowas hast du noch nicht gesehen."

Ich werfe den alten Kissenbezug zur Seite, kremple den Neuen um und schüttle ihn über mein Kissen.

„Na ja, vielleicht ist sie auch nur suizidal und will unbedingt sterben. Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht."

Der Oktopus kringelt seine Tentakeln, als wolle er mit den Schultern zucken und ‚Frauen' seufzen.

„Ich kapier's nicht", ich pfeffere das Kissen zur Seite und öffne die Knöpfe an meiner Decke, „Wovor hat sie Angst? Wie kann sie das Ablehnen? Die werden sie in der Luft zerreißen."

Der Oktopus sieht mich stumm an.

„Ja ja", ich falte aggressiv meinen Bademantel, „Schon klar, dass du sie wieder verteidigst. Integrität, Treue, Ehrlichkeit am Arsch, Grabsy. Es ist Krieg. Jede Sekunde sterben Soldaten. Ich dachte, ich kann zumindest etwas Sinnvolles tun, während ich hier herumsitze und Pudding esse. Ihr helfen. Sie ist viel zu gut hierfür, verstehst du? Sie hätte, keine Ahnung, Lehrerin werden sollen. Ärztin. Ingenieurin. Irgendwas, wo man nicht täglich Gefahr läuft eine Kugel in den Kopf zu bekommen. Das ist was für Menschen wie mich."

Ich fange den Blick des Oktopuses auf und halte inne, bevor ich Kissen und Decke über einen Stuhl werfe und das Bettlaken abziehe.

„Nein, du hast Recht", stimme ich zu, „So leicht gebe ich nicht auf. Wenn sie meine Hilfe wirklich nicht will, muss sie mir das nochmal bestätigen. Dann lasse ich sie in Ruhe."

Aber das wäre aufdringlich", äffe ich den Oktopus in meiner besten Alienstimme nach, „Sehe ich aus, als ob ich ein Problem damit hätte, aufdringlich zu sein?! Man muss Opfer bringen. Irgendwo muss meine Perfektion ja eine Delle haben, sonst bin ich nicht authentisch, das wissen wir beide."

Ich werfe Decke und Kissen wieder auf mein Bett.

„Weißt du was? Es reicht. Ich rede jetzt mit ihr. Du kommst auch gar nicht damit klar, wenn man dich ignoriert, oder? Nein, tue ich nicht. Wofür haben mir die Götter diese Persönlichkeit gegeben, wenn man sie nicht wahrnimmt? Und diese stahlharten Muskeln. Danke, bro. Kein Problem, bro."

Dann kommt mir eine Idee. Langsam drehe ich mich zum Oktopus um, der in aller Seelenruhe ein Blatt der Plastikpflanze anknabbert.

„Das wäre nicht moralisch einwandfrei", murmle ich, während ich auf meine DataWatch tippe, „Und sie wird mich dafür hassen. Allerdings kann sie mich nicht mehr ignorieren, wenn sie mich hasst."

Ich überlege einen Moment.

„Das ist es wert."

~☀️~

SunhuntersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt