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Jitter ist sich sicher, dass sein letztes Stündlein geschlagen hat. Schlamm, Staub und Blut bedecken seine Knie, seine Unterarme, sein Gesicht. Er hat das eine getan, was man als Scout niemals tun sollte: er hat es geschafft, sich erwischen zu lassen. Das ist in mehrerlei Hinsicht eine Premiere. Er ist noch nie in diesem Teil der Stadt in eine Schießerei geraten, noch nie hat jemand so schnell bemerkt, dass er beschattet wird und noch nie ist Jitter von einer Frau so gnadenlos zusammengefaltet worden, wie von Ravenna Noyemi.

Der Geruch von gebrannten Mandeln, Ozon, ungewaschenen Körpern und Zigaretten hängt über Port Canad, wie die bittersüße Duftnote des Unheils selbst. Die Lichter von Riesenrädern, Achterbahnen und Schießbuden, an denen tatsächlich scharf geschossen wird, spiegeln sich in den vor Benzin schimmernden Pfützen vor den Füßen der Söldnerin. Scouts werden wie Sunhunter darauf trainiert, Folter standzuhalten - doch die Schmerzen, die Ravenna ihm zufügt, sind von einer kalkulierten Grausamkeit, die vollkommen gegen ihr Söldnerdasein steht. Wäre ich doch einfach Künstler geworden, denkt er mehrmals, während sie um ihn herum geht und mit ihren langen pinken Nägeln in seine Halsbeuge drückt, direkt auf einen Nerv.

Er stöhnt auf, weigert sich aber den Mund zu öffnen und ihr die Genugtuung zu geben, ihn schreien zu hören, während sie ihre Finger immer tiefer in seine Haut bohrt, so fest, dass diese aufbricht und Blut ihre hässlichen pinken Nägel verschmiert. Die künstlichen Nägel sind scharf und viel härter, als sie sein sollten, als hätte Noyemi sie sich extra für diesen Moment zugelegt und wie eine Harpye nur darauf gewartet, ihre Krallen in ein Opfer zu schlagen. Ihre Haare riechen nach Schießpulver und Zigaretten, als sie sich vorbeugt, um ihm ins Ohr zu flüstern.

„Süßer, du weißt doch, wie das läuft, oder? Ich tue dir weh, du singst mir etwas vor, ich höre auf dir weh zu tun", sie dreht ihre Finger und er stöhnt auf vor Schmerz, genau wie sie es geplant hat. Ravenna kichert, löst ihre Hand von seiner Schulter und tätschelt ihm die Wange, bevor sie sich erhebt. Er fühlt sein eigenes Blut warm seine Brust hinunter rinnen. Schon vor Stunden hat er aufgehört, bissige Bemerkungen fallen zu lassen, um ihren Sticheleien zu begegnen. Es hat schlicht keinen Sinn.

„Du magst mich, was? Wenn du ernsthaft wolltest, dass ich dich in Ruhe lasse, dann hättest du längst geredet. Das schmeichelt mir."
Sie bezieht wieder vor ihm Stellung.

Vorhin ist es ihm beinahe gelungen, sie zu Fall zu bringen, aber er ist nur ein paar Meter weit gekommen, bevor sie ihn wieder am Kragen hatte und ihn seine Arroganz bitter bereuen ließ. Seitdem hat er gelernt, dass sie immer anfängt zu lächeln, kurz bevor sie irgendetwas tut, das ihn dazu bringt, sich zu wünschen, er wäre nie geboren worden. Sie lächelt wie ein stolzer Künstler, bevor sie jemandem Schmerzen zufügt - wie in diesem Moment.

Ravenna holt mit dem Knie aus, rammt es dem Scout in den Magen und wartet, bis der Mann stöhnend zusammensackt. Seine Hände sind mit Kabelbindern hinter dem Rücken zusammengebunden, die Waffe, die er zuvor auf ihre Brust gerichtet hat, liegt neben ihm im Schlamm des Helikopterlandeplatzes. Als er das Gesicht dreht und das ferne Licht über die wulstigen Narben auf seinen Wangen spielt, sieht man auch eine große Platzwunde. Die gebrochene Rippe, den Streifschuss und das geprellte Handgelenk, alle in der letzten Stunde zugezogen, sieht man hingegen nicht, aber Jitter zittert inzwischen vor Schmerzen.

Die Söldnerin hebt die Waffe ihres Gefangenen auf, wirft sie zweimal in die Luft, nur um sie wieder provokativ zu fangen, lädt und zielt direkt zwischen seine Augen. Sie trägt ein schmutziges Crop Top, auf dem zwei Skeletthände ihre Brüste umfassen. Modegeschmack einer Teenagerin, aber einen rechten Haken wie ein Boxchampion, denkt er irgendwo in seinem pochenden Kopf.

„Noch einmal", ihre Stimme ist rau wie Sandpapier, „Für wen arbeitest du?"

Der Scout spuckt Blut aus, das mit dem Benzin zusammen unheilvolle Schlieren auf das schmutzige Wasser malt. Er schielt am Lauf seiner eigenen Waffe hinauf, trifft den unbewegten Blick der Söldnerin und schweigt beharrlich. Zur Antwort rammt sie ihm den Griff der Waffe ins Gesicht. Nicht fest genug, um ihn bewusstlos zu machen, aber durchaus mit genug Kraft, um seinen Zähnen ein beunruhigendes Krachen zu entlocken.

Jitter unterdrückt nur mit Mühe einen Schrei, fällt hintenüber und knallt hart mit dem Rücken auf den Boden. Die Welt dreht sich um ihn her, während Noyemi vor ihm aufragt wie ein dunkler Albtraum. Er versucht, seinen Blick verächtlich zu halten, ist sich aber sicher, dass sie die Schmerzen aus seinem Körper lesen kann, während er vollkommen hilflos irgendwo in der gefährlichsten Weltraumstadt überhaupt gefesselt zu ihren Füßen liegt. Jitter dreht vorsichtig den Kopf zur Seite, spuckt Blut in die schillernde Pfütze vor ihren Füßen. Ein Zahn landet im schmutzigen Wasser.

„Das sind jetzt zwei Stunden", knurrt ein Mann aus den Schatten, „Schalt' ihn aus und lass uns gehen, wir haben besseres zu tun."

„Ich will wissen, wer mir nachschnüffelt", faucht sie und kickt noch einmal zu. Jitter liegt mit dem Kopf in der Pfütze, direkt neben seinem eigenen Zahn. Aus dem Augenwinkel sieht er, wie sich der Schatten eines Mannes von einem Stahlpfeiler löst und zu Noyemi herüberkommt.
Söldner sind Einzelgänger. Mit wem ist sie unterwegs?, fragt er sich irgendwo zwischen den Schmerzen, während der Fremde sich neben der Frau mit den verfilzten Haaren aufbaut.

„Du genießt es einfach zu sehr, Menschen weh zu tun", sagt er, zückt seine Pistole, um die Sache zu beenden und wird von Noyemi angezischt.

„Weichei."

Erneut landet ihr Stiefel in seiner Magengrube und er krümmt sich im Dreck zusammen.

„Genug", sagt der Pirat, zielt und drückt ab. Jitter hat nur noch Zeit die Augen zu schließen, wappnet sich für den Schmerz und die Stille. Doch dann fühlt er die Kugel neben sich in den Schlamm einschlagen. Keuchend sieht er zu seinen Entführern hoch, inzwischen so fertig, dass die Shilouetten seiner Peiniger im bunten Licht zu wabern scheinen, wie Geister. Noch ist er am Leben.

„Ich denke nicht", sagt Ravenna, die augenscheinlich die Hände ihres Kollegen weggestoßen hat, um ihn zu retten. Doch Jitters Erleichterung darüber, dass er nicht gerade auf einem namenlosen Flugplatz in Port Canad verblutet, ist nicht von Dauer.

„Ich will ihn mitnehmen", sagt die Söldnerin mit einem Lächeln, das ihm das Blut in den Adern gefrieren lässt, „Es wird ein langer Flug und ich habe meine Kopfhörer bei der Schießerei vorhin verloren."

„Nicht. Dein. Ernst", knurrt ihr Begleiter.

„Mein voller Ernst. Oder hast du erwartet, dass ich mit dir rede? Ich brauche Unterhaltung."

„Nein", bringt Jitter durch zugeschwollene Lippen hervor, „Nein, bitte ..."

„Elias, das wird lustig!", ereifert sich Ravenna, „Ich nehme ihn auch mit in den Frachtraum, dann musst du nicht zuhören."

„Du spinnst komplett, Noyemi."

„Ich muss in Übung bleiben", sie lässt ihre Waffe durch ihre blutigen Nägel wandern, „Man braucht ein besonderes Händchen, um Sunhunter zum Reden zu bringen."

Man braucht ein besonderes Händchen, um Sunhunter zum reden zu bringen, echot es im Kopf des Scouts, als hätte Noyemi die Worte in eine Felsschlucht geschrien und würde nun von allen Seiten ihre eigene Stimme hören. Sie ist wirklich hinter Symphony her. Erst dann wird ihm klar, was das für ihn bedeutet.

„Bitte", fleht Jitter den Mann neben Noyemi an. Auf gar keinen Fall will er zum Spielzeug dieser Gestörten werden. Da wäre ihm die Kugel lieber gewesen, tausendmal lieber. Doch der Fremde bleibt stumm, ruckt nur ungeduldig mit dem Kopf. In der Richtung, in die er nickt, steht ein SpaceJet, der definitiv schon bessere Tage gesehen hat. Jitters Herz stolpert vor Panik, als Noyemi mit ihrer DataWatch winkt und die Lichter des Raumschiffs bedrohlich ins Leben flackern.

„Lass uns gehen, bevor die Gehew Meute wieder auftaucht."

Noyemi packt den viel größeren Scout am Kragen, stellt ihn auf die Beine und zerrt ihn hinter sich her zum Schiff hinüber. Jitter schreit um Hilfe, doch Port Canad ist kein Ort, an dem man auf solche Schreie antwortet. Als das Schiff abhebt und in Richtung Sterne davonschießt, bleiben nur Blutspritzer und der ausgeschlagene Zahn als Zeugen zurück.

~☀️~

SunhuntersWhere stories live. Discover now