64 - Clara de Flocon

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Das zweite Mal an diesem Tag versucht uns jemand umzubringen, als wir gerade an Klettergurten in einem Aufzugschacht hängen. Die Kugeln prallen so willkürlich von den Schachtwänden ab, dass der Schütze keinerlei Möglichkeit hat, von seiner momentanen Position aus zu zielen. Als die Piratin sich vorlehnt, um ihn besser ins Visier nehmen zu können, erwischt Matt sie. Oder zumindest hört sie auf, auf uns zu schießen.

Das dritte Mal ist noch schlimmer. Wir sind in der Cafeteria und rennen gleich in fünf Eindringlinge hinein, die uns sofort ins Visier nehmen. Ich dachte niemals, dass ich ausgerechnet in der Küche des Kreuzers um mein Leben kämpfen muss, aber schon bald schlittern wir über zerbrochene Teller und gehen hinter dem Herd in Deckung, um dem Kugelhagel zu entkommen.

„Es ist fast ... als wüssten sie genau, wo wir sind", keuche ich, nachdem Matt den letzten Söldner tatsächlich mit einer riesigen Suppenkelle k.o. geschlagen hat.

Der Sunhunter erstarrt. Dann dreht er sich langsam zu mir um, lässt die Arme sinken. Als ich seinen Gesichtsausdruck sehe, bekomme ich Angst.

„Dieser Mistkerl", flucht der Sunhunter, „dieser kleine Mistkerl."

Er streift sich sein blutiges Hemd über den Kopf, was mich zugegebenermaßen unvorbereitet trifft. Ich mache ein sehr fragendes Gesicht.

Matt fährt sich über die Oberarme, bis zu den Händen hinunter, als würde er nach irgendetwas suchen.

„Was tust du da?"

„Sie haben mich gechippt. Sie haben mich wirklich gechippt."

Alles in mir zieht sich zusammen vor Schock. Natürlich wissen sie dann, wo wir sind. Wieso bin ich nicht früher darauf gekommen?

„Ava hat es vermutet. Man hat mich geschlagene dreimal untersucht, aber der verdammte Arzt war anscheinend entweder ein VHN Spitzel oder unfähig", knurrt der Sunhunter, während er seine Unterarme untersucht.

Ich fluche, bin mit zwei Schritten durch den Raum. Nur eine Sekunde zögere ich, bevor ich beginne, Matts Rücken abzutasten. Die VHN weiß genau, wo wir uns befinden. Mit jeder Sekunde hier wird es wahrscheinlicher, dass wir heute noch sterben. Ich verschmiere Blut und Ruß noch mehr auf seiner Haut, während ich nach einer winzigen Erhebung suche, die man nur allzu leicht übersehen kann. Seine Schultern beben vor Verzweiflung. Selbst einer der besten Spione der Föderation ist vollkommen hilflos, wenn der Feind zu jeder Sekunde weiß, wo er sich befindet.

Plötzlich fährt mein Finger über einen Huggel, winzig und kaum erkennbar, aber mit den Fingerspitzen gut zu ertasten. Knapp über einer der kleinen Kuhlen am unteren Ende seiner Wirbelsäule haben sie ihn gechippt.

„Ich hab' ihn", keuche ich, einen Finger auf dem DataDot, um ihn nicht wieder zu verlieren. Mein Magen krampft sich zusammen. Wenn ich den Chip ohne Weiteres finden kann, heißt das wohl, dass wirklich absichtlich jemand darüber hinweggesehen hat.

„Schneid' ihn raus", fordert Matt ohne Umschweife. Er greift nach seinem Anzug und zieht das Messer heraus, das er immer mit sich herumträgt, lässt es aufschnappen und hält es mir hin.

Wir starren uns an. Ich bin kurz davor, einen Nervenzusammenbruch zu bekommen.

„Wenn du ihn nicht rausholst, kriegen sie uns alle", betont er, viel zu ruhig für einen Mann auf der Flucht, „Und das lasse ich nicht zu."

Zitternd nehme ich ihm das Messer ab.

„Clara", er legt zwei Fingerkuppen unter mein Kinn und hebt meinen Kopf, damit ich ihn ansehen muss, wischt mit dem Daumen eine verräterische Träne weg, „bitte."

Ich beiße die Zähne zusammen. Nicke.

Matt stützt sich an der Wand ab. Er gibt keinen Laut von sich, als ich die Klinge ansetze. DataDots sind schreckliche kleine Dinger. Sie sind zwar winzig klein, doch deswegen nicht leicht zu entfernen. Sie haben spindeldürre Fäden, die in den Körper hinein kriechen und den Peilsender fest verankern. Matts Blut, tröpfelt über meine Finger, als ich den Stecknadelkopfgroße Peilsender packe.

„Kalamari sind ungalublich lecker", sage ich mit zitternder Stimme.

„Was?!", empört sich der Sunhunter.

Seine Frage erstickt zu einem unterdrückten Schrei, als ich mit aller Kraft an dem DataDot ziehe. Das Ding bewegt sich keinen Zentimeter. Immer noch stöhnt Matt vor Schmerz.

„Ich bekomme es nicht raus", winsle ich.

Noch zweimal senken sich seine Schultern in viel zu schnellen Atemzügen, bevor er verlangt: „Nochmal."

Irgendwann liegt der verdammte Peilsender neben uns auf dem Fliesenboden, während wir schon rennen, um uns möglichst weit davon zu entfernen. Matt presst sich sein T-shirt auf die Wunde, die nicht groß ist, aber immer noch blutet. Ich verarzte ihn notdürftig, als wir keuchend zwei Gänge weiter wieder anhalten. Beziehungsweise, als ich den Sunhunter zwinge, anzuhalten, weil ein Erste-Hilfe-Kasten an der Wand hängt. Diese sind an strategisch wertvollen Punkten im ganzen Kreuzer verteilt, meist neben den Schotts, die sich bei einem Loch in der Hülle schließen.

„Es war Benedict, nicht wahr?", frage ich mit Garbesstimme, als ich vorsichtig das T-shirt von der Wunde löse, „Du wurdest von einem blonden Assistenzarzt untersucht?"

„Dr. Benedict Brice", stöhnt er laut, „VHN Spitzel. Hätte ich ihm gar nicht zugetraut, er sah so brav aus."

„Wir sind – waren - Freunde."

„Ah."

Ich presse eine Mullbinde auf die Wunde und bedeute dem Sunhunter, diese zu halten, während ich eine Weitere auspacke. Dann geschieht wieder einmal alles gleichzeitig, so schnell, dass mein Gehirn erst im nachhinein gänzlich versteht, was geschehen ist.

Siren sprintet um die Ecke, die Waffe im Anschlag. Ich denke einen verwirrten Moment lang, sie ziehlt auf mich. Matt dreht sich zu mir um und plötzlich steht Panik in seinen Augen. Ein Seil schlingt sich um meinen Hals, zieht sich schmerzhaft eng zu, schneller, als ich meiner Überraschung Ausdruck verleihen kann. Matt greift nach mir, ich sehe gerade noch den Schock auf seinem Gesicht, bevor ich hart nach hinten gezogen werde, mit dem Kopf aufschlage und zusehen muss, wie sich die Schleuse vor mir schließt. 

~☀️~

SunhuntersWhere stories live. Discover now