46 - Clara de Flocon

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„Roach?", frage ich ungläubig, als ich in die hinterste Duschkabine sehe, „Alles okay?"

Die Rekrutin, die mir die letzten Monate das Leben zur Hölle gemacht hat, zuckt zusammen, als ich den Vorhang zurückziehe. Sie kauert auf den weißen Fliesen, wie ein kleines Kind, die Arme um die Knie geschlungen und am ganzen Körper bebend.

Doch ich bin mit sicher, dass sie nicht betrunken ist, da ich weder Louis noch sie auf der Feier gesehen habe. Als sie mich sieht, rutscht sie noch weiter nach hinten und drückt sich gegen die schmutzig weißen Fliesen. Etwas wie Angst steht in ihren Augen, als sie erkennt, dass ich es bin, die sie gefunden hat. Fast, als erwarte sie, dass ich ihre Schwäche ausnutze und sie attackiere.

Doch ich bin viel zu geschockt von ihrem Anblick, als dass ich mich bewegen könnte. Rache ist das letzte, woran ich denke, aber für einen Moment erwäge ich, den Duschvorhang hinter mir zuzuziehen und zu gehen. Denn das hier geht mich überhaupt nichts an. Sie wollte offensichtlich alleine sein und du störst gewaltig, denke ich. Kurz kämpfe ich mit mir, während Roach den Kopf in die Hände stützt.

All die Gemeinheiten, die sie mir an den Kopf geworfen hat, stehen plötzlich wieder ganz klar vor meinen Augen. Ihre Worte in eben dieser Dusche, ihre Hände um meinen Hals, ihre Nägel in meiner Haut. Mein Herz schlägt schneller, vor Wut, aber auch vor Angst. Halb rechne ich damit, dass sie sich vom Boden hochstemmt und auf mich wirft. Doch automatisch nehmen meine Füße den Stand ein, den mir der Sunhunter hundertmal gezeigt hat. Mit einem Gefühl wie nach einer langen Schifffahrt endlich wieder festen Boden unter den Füßen zu haben, realisiere ich, dass ich nicht mehr so hilflos bin, wie zuvor. Ich bin nicht mehr die naive Person, die Roach anfallen konnte. Ich brauche keine Angst mehr vor ihr zu haben.
Deswegen kann ich ruhig auf sie hinunter sehen, nach dem Vorhang greifen und mich mit einem „Sag' Bescheid, wenn du etwas brauchst" abwenden.

Als ich vor den Waschbecken stehe und Zahnpasta auf meine Zahnbürste drücke, fühle ich mich leichter. Ob es immer noch der Alkohol ist, mein Aufeinandertreffen mit dem Sunhunter oder meine Erkenntnis gerade eben, weiß ich nicht. Doch während ich mir den Mund ausspüle und meine Zahnbürste auswasche, kommt ein unverständlicher Satz aus der Duschkabine. Ich drehe mich um, während die völlig fertige Roach sich hochstützt und den Vorhang zurückzieht. Im weißen Licht sieht sie noch kränker aus. All meine Wut auf sie reicht nicht aus, um meine Sorge nun noch zu unterdrücken.

„Paris", flüstert sie aschfahl, eine Hand auf ihren Bauch gepresst, „Ich brauche Hilfe."

Mein Blick huscht an ihr hinunter und dann sehe ich Blut aus ihrem Hosenbein sickern. Es sammelt sich auf ihrem Schuh und den weißen Fliesen, wie der billige Wein, der auf der Party becherweise ausgekippt wurde.

„Was zur Hölle ist passiert?", frage ich, bin schon bei ihr, schlinge einen Arm um ihre Taille. Wie konnte ich das übersehen?

„Irgendetwas stimmt nicht", sagt sie, „Mit dem Baby."

„Baby?!"

Sie hätte mich genauso gut ins Gesicht schlagen können. Sie ist schwanger?Roach, die mich gehänselt hat, Louis unerträgliche Freundin, hängt schwer atmend in meinen Armen und muss sich ausgerechnet mir anvertrauen. Innerlich fluche ich, aber nun gibt es wirklich nur noch eines, was ich tun kann. Eine schwangere Rekrutin ist so ziemlich das letzte, was die Föderation will. Das muss der Grund sein, wieso man sie degradiert hat, schießt es mir durch den Kopf, während ich Roach ein Handtuch reiche und versuche zu ignorieren, dass sie einen Schmerzensschrei unterdrückt.

Ich will fragen: Wieso? Wieso ich? Wieso jetzt? Und vor allem: verdammt, ist Louis zu dumm zum Verhüten? Stattdessen frage ich:
„Kannst du laufen?"

Sie nickt. Ich stehe vor ihr und sehe ihr eindringlich in die Augen, um trotz der absolut verdrehten Situation zu ihr durchzudringen und zu suggerieren, dass ich sie nicht irgendwo auf dem Gang liegen lassen werde.

„Ich bringe dich jetzt auf die Krankenstation, weil das schneller geht, als sie kommen zu lassen. Dann weiß auch nicht jeder sofort, was Sache ist. Einverstanden?"

„Nein!", sie krallt sich in meinen Arm, die Augen flehentlich aufgerissen. Ich zucke zusammen, knurre mein Missfallen, reiße meinen Arm aber nicht weg.

„Was sollen sie denn machen?", frage ich, „Degradiert haben sie dich schon."

Ich nehme sie an der Schulter, begleite sie so leise wie möglich in den Gang hinaus und gebe per DataWatch an die diensthabenden Pfleger durch, dass wir auf dem Weg zu ihnen sind.

„Du darfst es niemandem erzählen", bittet sie mich.

„Werde ich nicht", verspreche ich, während ich auf den Aufzugsknopf drücke.

„Weiß der Vater Bescheid?", frage ich so leise, dass ich mich selbst kaum höre.

Sie schüttelt den Kopf.

„Niemand."

Ich stütze sie, während wir in die Höhe schießen, ihr Kopf an meiner Schulter. Sie hat wieder zu weinen angefangen.

„Ich habe keine Ahnung, wieso du das für mich tust", sagt sie dann erstickt, „ich habe dir wehgetan."

„Ich auch nicht", seufze ich, „Schieb es darauf, dass ich immer noch betrunken bin."

Doch wir wissen beide, dass Roach ein wirklich großes Problem hat. Trotz ihrer Gemeinheiten, trotz allem, wünsche ich ihr nicht, dass sie leidet. Ich fühle mich schon schuldig, weil ich nicht sofort verstanden habe, wie ernst die Lage ist und stattdessen seelenruhig Zähne geputzt habe. Als sich die Aufzugtüren öffnen, wartet man bereits auf uns. Stasya und ich bringen Roach in einen Untersuchungsraum. Ich versuche nicht einmal zu gehen, weil sie meine Hand umklammert, sobald sie sich hinlegt.

Benedict wirft mir einen schwer zu deutenden Blick zu, bevor er mit sanfter Stimme auf die Rekrutin einredet. Er macht einen Ultraschall und piept sofort einen der beiden Bordchirurgen an. Dieser steht zehn Minuten später schlecht gelaunt und ruppig auf der Matte, befühlt kurz mit scheinbar eiskalten Händen Roachs Bauch und pfeift dann nach seinen Assistenten. Der Schock krallt sich immer noch in meine Knochen, aber mehr als warten kann ich nicht tun, als sie Roach wegbringen.

„Sie hatte wahnsinniges Glück, dass du sie hergebracht hast", sagt Benedict, als er mir wenig später einen Kaffee bringt. Er war nicht auf der Party, weil er Dienst hat, und unterhält sich kurz mit mir, bevor zwei Rekruten aus dem violetten Jet Team mit Alkoholintoxikation auf die Krankenstation stolpern. Letztendlich nicke ich trotz meiner rasenden Gedanken und mit sehr gemischten Gefühlen auf dem Stuhl neben Roachs Bett ein, während sie operiert wird. Die seltsamste Nacht meines Lebens endet traumlos.  

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