1 - Matthias Green

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Ich war fundamental am Arsch.
Mir ist bewusst, dass wir das alle mal gerne sagen. Nachdem ich wegen ein paar Gramm vom Institut suspendiert worden bin, nachdem meine Ex damit gedroht hat, unser Sextape an meinen General zu schicken und auch, als das Los für dieses Himmelfahrtskommando auf mich gefallen ist - alles Situationen, in denen ich dachte, mein letztes Stündlein hat geschlagen.
Doch mein Leben ist immer wieder für eine Überraschung gut. Beispielsweise bin ich mir ziemlich sicher, dass nun wirklich mein letztes Stündlein geschlagen hat.
Das glaubt ihr nicht?
Dann erzählt doch mal, was passender mit ‚am Arsch sein' bezeichnet werden kann, als an einem Arm am Geländer auf dem Dach eines gottverdammten gut einen Kilometer hohen Wolkenkratzers zu hängen. Wartet, wartet, ich bin noch gar nicht fertig, das wäre ja langweilig. Besagter Wolkenkratzer steht nämlich in einer untergehenden Weltraumstadt, die in den nächsten zehn Minuten von ungefähr fünfzehn Nukleargeschützen in die Luft gejagt wird.

Neben ‚unglaublich spektakulär sterben' habe ich übrigens noch andere Superkräfte.
Zum Beispiel kann ich Gedankenlesen.
Du fragst dich gerade mit ziemlich dummem Gesichtsausdruck ‚Matt ... was zur Hölle?! Wie kann man nur so viel Scheiße labern, während man abkratzt? Und wie ist das Ganze überhaupt passiert?'.
Leider bin ich gerade wirklich ein bisschen zu sehr damit beschäftigt, den Löffel abzugeben, um zu antworten.
Aber ... ich kann auch Gedankenlesen. Erwähnt das auf meiner Beerdigung. Oder schreibt es am Besten auf meinen Grabstein.

Stöhnend versuche ich, die Augen offen zu halten. Die Schmerzmittel, die ich mir vor einer Stunde in den Oberschenkel gespritzt habe, sind nicht stark genug, um meine Blessuren vollkommen zu betäuben. Die Muskeln in meinem Arm brennen inzwischen, als hätte mir jemand konzentrierte Schwefelsäure gespritzt.
Während ich also abhänge und auf meinen Tod warte, klammert sich ein panischer Baby Oktopus unter dem Raumanzug an meinen Nacken und drückt mir langsam aber sicher die Luft ab. Der Oktopus und ich? Lange Geschichte, zu lang, um sie ausgerechnet jetzt zu erzählen.
Immerhin leuchtet mein Babyalien, also sieht es zumindest cool aus, wenn es mich hier noch aus Versehen erwürgt, bevor der Weltraum eine Chance bekommt, mich umzulegen.
Grabsy streichelt mir mit einer weiß leuchtenden Tentakel über die Wange, als wolle er mich ermutigen.
Aber wie schon gesagt, wir sind am Arsch. So richtig.

„Okay, bro", ich kann nur noch durch die Zähne knurren, weil ich mich so sehr darauf fixieren muss, nicht den Halt zu verlieren und in das schwarze Nichts gesaugt zu werden, das nach dem Zusammenbruch der Atmosphäre schon so viele Menschen geschluckt hat.
„Ganz ruhig. Das ist kein Grund zur Panik. Wir ... scheiße."
Mein Atem lässt das Glas meines Raumanzugs beschlagen, während eine Warnmeldung in meinem Sichtfeld aufflackert. Die Geschütze kommen näher.
Ich spucke Flüche, bis ich nicht mehr kann und sich ein Schluchzen aus meiner Kehle kämpft.
Ich schließe die Augen und höre im Vakuum nur mein Herz hämmern.
Noch fünfzehn Minuten, bis die Ruinen von Wazekya, der Oktopus und ich in einem Feuerball aus Uran und Hitze verglühen werden.

Ich schreie durch meine Zähne vor Frustration, während das Zittern schlimmer wird und kalter Schweiß meine Stirn hinunterrinnt.
Von meinem Kopf bis in die Fingerspitzen, die ich immer noch um die Metallstrebe gekrallt habe, das einzige Ding, das mich davor bewahrt völlig unkontrolliert ins All hinaus zu trudeln wie eine Plastiktüte.
Mir wird so kotzübel, dass ich mich zusammenkrümme, um mich nicht zu übergeben.
Die unendlich vielen Sterne der Galaxie tanzen vor meinen Augen, während die Tränen kommen. Grabsy schlingt die floureszierenden Tentakeln in meine Haare, als ob er mich trösten wollen würde. Doch wir werden in ein paar Minuten tot sein. Weg. In unsere Moleküle zerlegt.

Die Lautsprecher in meinem Helm rauschen nur noch statisch und ich überlege, ob ich nicht einfach loslassen soll. Ein Mensch und ein Oktopus, die orientierungslos durch den Raum treiben.
Zumindest, bis uns die Explosion der Stadt erfasst und verschluckt. Bis die Strahlung die DNA in meinen Zellen schmelzen lässt. Denn ohne Antrieb werden wir es nie weit genug weg von der verlorenen Stadt schaffen.
Selbst wenn ... die Kriegsflotte der Vereinigten Humanoiden Nationen würde uns schneller in die Luft jagen, als ich diesen Arschlöchern den Mittelfinger zeigen kann. Und selbst wenn das aus irgendeinem Grund nicht passiert, wird mir innerhalb der nächsten Stunde der Sauerstoff in diesem Raumanzug ausgehen.
Vielleicht sollte ich anfangen zu beten. Macht man sowas nicht, kurz bevor man stirbt?

Stattdessen würge ich, stammle „Sorry, bro" und kotze in meinen Helm.
Der Oktopus zieht sich angewidert in meine Haare zurück.
Der beißende Gestank treibt mir schon wieder die Tränen in die Augen. Außerdem läuft meine Nase vom Weinen, aber ich kann sie mir natürlich nicht abwischen.
So einen erbärmlichen Tod hat mir niemand zugetraut.

Die Tränen kommen, ohne dass ich sie aufhalten könnte. Doch wieso auch, es ist ja nicht so, als würde mich mein Oktopus verurteilen.
Ich weine, wegen allem, was ohne mich noch in diesem Universum passieren wird. Weil ich so klein bin, verdammt, weil ich nie irgendetwas bedeutet habe.
Doch ich habe meine Mission erfüllt. Alle Zielpersonen haben es auf die Selene geschafft und sind jetzt auf der Flucht.
Ich werde ein Staatsbegräbnis im Core bekommen, auch wenn mein Körper niemals geborgen werden kann. Das ist doch etwas, oder? Oh Mann, die strahlenden Atmosphärenkuppeln des Cores werden mir fehlen.
Oder auch nicht, ich meine, keine Ahnung, was mit meiner Seele passiert, wenn ich von riesigen Nuklearwaffen zerfetzt werde.
Ob überhaupt irgendetwas von all der Mühe übrigbleiben wird, die ich in dieses verdammte Leben investiert habe.

Ich kann sie jetzt sehen.
Wie Sternschnuppen zischen die Geschütze auf uns zu.
Der Oktopus vergräbt sich noch tiefer in meinen Haaren, während ich durch meinen Tränenschleier und die Kotzespritzer auf meinem Visier hinaus in den Weltraum starre und mich mental darauf vorbereite, zu sterben.

Meine Traumfrau wählt genau diesen Moment, um in ihrem schwarzen Raumanzug mit viel zu coolen blauen TechLines über mir - beziehungsweise unter mir, im Weltall ist das alles nicht so genau bestimmbar - aufzutauchen.
Ich bin so geschockt, ihr attraktives Gesicht zu sehen, dass ich fast loslasse.

„Hunter Matthias 'Symphony' Green?", fragt eine weibliche Stimme über das Mikro in meinem Helm und ich bin innerhalb von Sekunden wieder der Weltraummilitär, zu dem sie mich ausgebildet haben.

„Copy."

„General Alexandra 'Siren' Tailor. Schön festhalten, Symphony, wir holen Sie rein."

Ich bin so perplex, dass mir ein hohes, nervöses Lachen entwischt.
„Scheiße."

General Tailor antwortet nicht. Stattdessen hakt sie ein silbernes Kabel in meinen Anzug ein, während ich total überforderte Blicke mit meinem Oktopus tausche, der weiter in Richtung des Glases meines Helmvisiers gerutscht ist, um einen besseren Blick zu bekommen.
Ich muss schon wieder so peinlich lachen und die Generalin, auf deren Raumanzug das Logo der Föderation prankt, wirft mir einen Blick zu, den ich durch ihr spiegelndes Visier aus diesem Winkel zum Glück nur schlecht sehe.
Da hat man mit seinem Leben abgeschlossen und dann stirbt man doch nicht.
Oder?

Siren ist in einem getarnten, schwarzen UniJet gekommen, deswegen habe ich sie nicht gesehen. Es ist ein Wunder, dass sie mich gefunden hat, nichts weiter als reines Glück.
Mein ungläubiges Grinsen verwischt, als Grabsy sein Gewicht verlagert und ich in allen Regenbogenfarben zu fluchen beginne, weil sich sein Griff um meinen Arm verschiebt.
Der Oktopus zieht seine Tentakel sofort wieder fest um den blutenden Stumpf, denn auch nachdem ich ihn angekotzt habe, will er nicht, dass ich verblute.
Wofür hat man schließlich Freunde?

Siren gibt mir das okay und endlich - endlich - kann ich loslassen.
Hoffentlich sieht die Generalin nicht, dass ich vor Erleichterung gleich noch ein bisschen mehr heule.
Doch das ist sowieso alles egal, weil ich auf halber Strecke zu ihrem Jet ohnmächtig werde wie eine Märchenprinzessin.
In Anbetracht der Tatsache, dass mein linker Arm irgendwo im Weltraum herumtreibt, erbitte ich mir aber etwas Verständnis für meinen heroischen ersten Eindruck.

~☀️~

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