Prolog

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Das heilige römische Reich, heutiges Deutschland, 998 n. Chr.

Ein Sturm wütete. Dunkle Wolken türmten sich auf und Vater Himmel erhob seine donnernde Stimme. Kurze Zeit später herabfallender Regen ließ erahnen, dass sein Zürnen feuchte Sprache beinhaltete. Nicht mehr lange und die Welt würde in vollkommener Dunkelheit verschluckt werden und untergehen.

Der Hexenmeister spähte aus dem großen Fensterbogen seines Turmzimmers hinaus und gestattete sich einen Anflug von Freude. Ja, die Welt wird untergehen. Und eine neue Welt wird sich erheben, eine bessere und vollkommene Welt, erschaffen von mir!

Zufrieden verbarg er die Hände in seinen ausladenden Ärmeln und ließ den Blick über die Schatten gleiten, die sich auf der windgeschützten Seite des Turmes wie Bittsteller vor dem Palast des römisch-deutschen Kaisers zusammenrotteten. Schon sehr bald würde er allein die unangefochtene Macht repräsentieren.

Ganz im Hochgefühl seiner Macht versunken, begann er lauthals zu lachen. Ja, die Magie würde endlich triumphieren und es gab niemanden, der dies zu verhindern vermochte!

Im nächsten Moment flog die Tür zu seinem Gemach mit einem lauten Krachen aus den Angeln, explodierte regelrecht in einem Hagel feiner Splitter, die sich über den prunkvollen Teppich verteilten. Aus der aufgewirbelten Staubwolke trat ein junger Mann hervor; die einst sonnengelben Gewänder von Schmutz und Blut besudelt. Schweiß perlte von seiner Stirn und in seinem Gesicht spiegelte sich grimmige Entschlossenheit.

„Lichtbringer", begrüßte ihn der Hexenmeister und breitete die Arme aus. „Es war nur eine Frage der Zeit, bis du den Weg in meine Gemächer finden würdest. Ich habe dich eher erwartet."

Der Mann, der im Eingang des Studierzimmers stand, verzog keine Miene, sondern stützte sich auf seinen langen Stab, um ein wenig Kraft zurückzugewinnen. „Spar dir deinen Spott! Deine Herrschaft ist beendet!"

Der Hexenmeister lachte abfällig. „Wie possierlich. Der Lichtbringer will mir Einhalt gebieten. Dabei kannst du dich kaum noch auf deinen Beinen halten, nachdem du dich durch den ganzen Turm gekämpft hast. Glorreicher Heldenmut hin oder her, er wird kaum die Wunden unter deinem Gewand verschließen, die du so verzweifelt zu verstecken versuchst. Wie willst du so gegen mich kämpfen?"

„Überhaupt nicht!" Der Lichtbringer straffte seine Gestalt. „Ich habe es satt, immer gegen das Böse zu kämpfen - endgültig!"

Der Schattenlord gestattete sich ein Quäntchen Genugtuung. Ja, er hatte gute Arbeit geleistet. Vor ihm stand der einzige Mensch, der in der Lage gewesen wäre, ihn aufzuhalten. Er wusste dies, also hatte er schon früh begonnen, seinen Feind innerlich zu brechen, ihn nach und nach zu zerstören. Jetzt erntete er die Früchte seiner Mühen.

Ein Lichtbringer kämpft für die Menschen, die er liebt, doch diese traurige Gestalt hatte nichts mehr, wofür es sich zu kämpfen lohnte. Ihm blieb nur noch seine Wut über die Niederlage und ein tief verwurzelter Hass in seiner Seele. Ihm war jegliche Grundlage seiner Macht entzogen.

„Ich habe es satt, gegen dich zu kämpfen", wiederholte der Lichtbringer und tiefe Furchen gruben sich in seine Stirn, als er die Brauen zusammenzog. „Ich habe es nie gewollt! Ich wollte nur ein ganz normales Leben führen, bis diese Magier bei meiner Familie aufkreuzten und mich mitnahmen. Von da an musste ich immer nur studieren, tagein, tagaus. Ich durfte mich nicht mit den jungen Mädchen im Dorf zum Tanz verabreden oder mit meinen Freunden am Fluss spielen, denn ich war ja der Lichtbringer, der Gute, dessen Bestimmung es war, das Böse aus dieser Welt zu vertreiben. Ich habe nie um diese Aufgabe gebeten und werde jetzt all das nachholen, was ich verpasst habe."

„Ach ja? Und wie?" Belustigt kräuselte der Schattenlord die Lippen, während sein Widersacher in die Mitte des Raumes trat.

Mit letzter Kraft hob der Lichtbringer seinen Stab. „Soll sich ein anderer mit dir befassen." Ein einzelner Lichtstrahl fiel durch das Turmfenster und wurde von dem Kristall in der Spitze seines Stabes gebrochen.

Der Hexenmeister horchte auf. „Was soll das heißen?", fragte er misstrauisch.

Der Anflug eines Lächelns erschien auf Lichtbringers Lippen. „Das heißt, dass ich meiner Aufgabe entsagen werde, denn ich bin es leid. Endgültig!" Das Licht wurde heller. Wie Salzsäure zersetzte es die Selbstsicherheit des Hexenmeisters, als dieser begriff, was sein Widersacher vorhatte.

„Warte", rief er. „Das ist nicht fair! Du bist gut, du darfst nicht egoistisch handeln! Es ist gegen die Regeln!"

„Und wenn schon!", schrie der Lichtbringer und die Kammer erstrahlte im Glanz der Sonne.

Schützend hob sein Kontrahent eine behandschuhte Hand vor die Kapuze. Das Licht brannte wie Feuer. „Du kannst mich nicht vernichten, ich bin zu mächtig!", rief er.

„Ich will dich nicht vernichten. Und vor allem will ich kein Lichtbringer mehr sein! Dieser Konflikt soll von mir aus in tausend Jahren beendet werden. Selbst wenn ich mit deiner Vernichtung das Paradies auf Erden erschaffen könnte, so würde ich nie etwas davon haben, denn ich bin ja der Lichtbringer, der Gute, der immer nur an die anderen denken soll!" Verbittert blickte er zu dem dunklen Hexenmeister hinüber und Hass loderte in seinen Augen auf. „Fahr zur Hölle!"

Mit einem übertrieben theatralischen Schwung schlug er den Stab mit dem oberen Ende voran auf den Boden. Kristall splitterte und die Kammer wurde vom Licht verzehrt ...

Das Erbe des LichtbringersWhere stories live. Discover now