Kapitel 23 | Ein eingelöstes Versprechen I

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Ein Königssaal voller Blut

Entsetzen lähmt die Anwohner der Knuffel-Gasse. Am frühen Nachmittag des 18. Septembers schlachteten bisher unbekannte Täter hundert Mitglieder der Zeugen Jehovas in ihrem eigenen Königssaal gnadenlos ab. Der Saal an sich soll dabei nicht verwüstet oder beschmutzt, die Wertgegenstände nicht gestohlen worden sein. Welches Motiv demnach hinter diesem Massaker steht, ist zum jetzigen Zeitpunkt noch unklar. Fest steht jedoch, dass die Täter grausam zur Tat geschritten sind. Die Gerichtsmedizin spricht in diesem Fall von einem wahren „Schlachtfest". Jeder einzelne der Zeugen wurde durch den gezielten Hieb oder Stich eines Schwertes ermordet.

- aus „Der Merkur"; Ausgabe vom 19. September diesen Jahres



Miles ließ die Tagesausgabe des Merkurs sinken und nahm nachdenklich einen Schluck von seinem Eistee. Dass seine Scheibe Toast bereits kalt war, bekam er gar nicht mit.

Der Vorfall hatte es auf das Titelblatt geschafft und als Miles nach dem Duschen in die Küche ging, um sich Frühstück zu machen, war ihm die entsprechende Überschrift ins Auge gefallen. Der Merkur lag jeden Morgen auf dem Tisch, meist ungelesen. Seine Mutter kam bei ihrem morgendlichen Stress einfach nicht mehr dazu. Normalerweise interessierten Miles die Nachrichten nicht, doch diesmal wollte er schon wissen, wie ein solcher Vorfall der Öffentlichkeit verkauft wurde – besonders, weil er keinen Moment daran zweifelte, dass da irgendetwas Magisches seine Finger im Spiel hatte, so wie die Schatten gestern Präsenz gezeigt hatten.

Doch das Käseblatt half nicht sonderlich weiter und präsentierte weniger Fakten als Vermutungen. Stattdessen tat es, was die Medien nach Miles' Meinung am besten konnten: Angst schüren. Ehrlich, die Alte auf dem Flachdach hatte nicht den Anschein gemacht, als ob sie gleich in Hysterie kreischend um sich schlagen würde. Dennoch, hundert Tote ...

Miles beendete sein Frühstück und legte die Zeitung beiseite. Er würde später mit seinen Freunden darüber reden, jetzt musste er zusehen, dass er zur Schule kam.

Nachdem Flip sich erbrochen hatte, hatten Miles und Cora zugesehen, dass sie ihn aus der Menge herausschafften, bevor sie mehr Aufmerksamkeit erhielten, als gut für sie war. Zum Glück hatteer sich schnell wieder erholt und als sie sich sicher sein konnten, dass er ihnen nicht erneut zusammenklappen würde, hatten sie ihn zur nächsten Bushaltestelle gebracht, damit er nach Hause fahren und sich ausruhen konnte.

Wieso der Junge plötzlich so in die Knie gegangen war, hatten Cora und er nicht von ihm in Erfahrung bringen können, denn Flip war kaum noch in der Lage gewesen, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Miles vermutete, dass es vielleicht ein wenig viel Aufregung für ihn gewesen war, der Empath hielt wirklich nichts aus. Andererseits konnte er es verstehen ... für Flip waren die Schatten sehr viel gefährlicher als für ihn, kein Wunder, dass er nur noch nach Hause gewollt hatte.

Auch in der Schule wurde das Massaker der Knuffelgasse aufgegriffen und zwar in der letzten Doppelstunde: Frau Wasabis Geschichtsunterricht. Oder besser gesagt, im Vertretungsunterricht bei ihrem Physiklehrer Herrn Trivial. Frau Wasabi war krank. Einige von Miles' Klassenkameraden hatten den Artikel auf der Titelseite des Merkurs gesehen und so hatten sie es als Thema für die Stunde vorgeschlagen.

Miles selbst beteiligte sich nicht am Gespräch, sondern hörte nur schweigend zu, während Herr Trivial brummelnd auf dem Lehrerpult Platz nahm und etwas Struktur in die ausufernde Diskussion zu bringen versuchte.

„Einer meiner Kumpels wohnt dort in der Nähe", meldete sich gerade ein Schüler zu Wort. „Er meinte, die hätten einen Zeugen. Der hat gesehen, wie eine schwarz vermummte Gestalt alleine das Gebäude verlassen hat."

Das Erbe des LichtbringersWhere stories live. Discover now