Kapitel 9 | Die Entscheidung

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Kannst du den Strom fühlen?
Den ungeheuren Hort der Kraft?
Kannst du im Verborg'nen wühlen,
Erblicken die Macht, die alles erschafft?

Siehst du die Schatten, viele ihrer Zahl?
Wie sie dir folgen, dich bedrängen.
Spürst du ihren Atem kalt und fahl?
Bist bald erlegen ihren Fängen.

- Adariel Versschmied; Unbenanntes Gedicht




Ein frischer Wind zog auf und ließ die Blätter an den Zweigen der alten Eichen tanzen. Dichte Wolken wälzten sich gemächlich über das Firmament und versperrten der Sonne ihren Blick auf die Erde. Die Temperatur nahm spürbar ab.

Froh, einen Kapuzenpulli übergezogen zu haben, zog Miles den Reißverschluss nach oben. Nach den warmen Tagen der letzten Woche konnte dieser Temperatursturz nur ein Gewitter ankündigen.

Er beschleunigte das Tempo seines Skateboards und rollte durch die ruhige Straße des ordentlichsten Vorortes, den er bisher gesehen hatte. Die Häuser waren klein und höchstens zweistöckig, eingerahmt von sorgsam geschnittenen Hecken, die dem neidischen Nachbarn einen Blick auf den eigenen, kunstvoll angelegten Vorgarten versperren sollten. Gelangweilte Hobbygärtner mähten Rasen – wahrscheinlich schon den lieben langen Tag – oder tränkten ihre Blumen und Ziergewächse, deren exotische Namen der Teen hätte nachschlagen müssen.

Es war still und idyllisch. Miles hätte kotzen können. Wer wollte denn schon hier wohnen? Eine Party zum sechzehnten Geburtstag würde in so einem Viertel nicht infrage kommen. Er wettete im Stillen, dass mindestens neun von zehn Anwohnern die Polizei riefen, wenn Blacky gegen ihren Zaun pinkeln oder sein Geschäft in ihrem Vorgarten erledigen würde.

Blacky ...

Er würde es niemals zugeben, aber Miles war mehr als nur neugierig auf das, was der Fuchs ihm heute erzählen wollte. Schließlich war er – wie hatte Blacky das noch genannt? – genau, ein Funkenschmied! Wenn seine Gabe die Macht über das Feuer war, dann würde sein Leben wahrscheinlich um einiges ... heißer werden. Miles kicherte.

Es juckte ihn in den Fingern, einen dieser albernen Zierbüsche in Brand zu stecken, die so geschnitten waren, dass sie irgendwelche unnatürlichen Formen annahmen, beschloss aber, ausnahmsweise keinen Unfug zu machen. Erst musste Blacky ihm zeigen, wie er das Feuer unter Kontrolle bekam. Ein andernmal also vielleicht.

Miles bremste ab, als er von der Straße in einen kleinen Waldweg bog, der Stadt und Vorort mit der Natur verband. Mit seiner Schuhspitze katapultierte er das Board in die Luft und fing es lässig auf. Doch die Einzige, die diesen coolen Trick bewundern konnte, war eine ältere Dame, die einen pummeligen Mops Gassi führte und ihm einen missbilligenden Blick zuwarf.

Miles verdrehte die Augen und schlug den Pfad in das Wäldchen ein. Er war noch keine fünfzig Meter unterwegs, als Blacky aus dem Unterholz an seine Seite sprang.

„Siehst du, war doch gar nicht so schwer, hierher zu finden", sagte er.

„Darum ging es mir heute Morgen nicht", antwortete Miles. „Ich frage mich nur, warum ich erst ein paar Kilometer fahren musste. Wir hätten genauso gut zu Hause üben können."

„In eurem Vorgarten, der zufälligerweise an der Straße liegt?"

„Nein, in meinem Zimmer."

„Hast du nicht genug Probleme? Willst du auch noch deiner Mutter erklären, warum du das Haus in Brand gesteckt hast?" Blacky hob den Kopf und warf ihm einen fragenden Blick zu.

„Hältst du mich für ein Kleinkind, dem man bloß kein Feuerzeug in die Hand geben darf? Natürlich wäre ich vorsichtig damit."

„Das sagen alle Funkenschmiede, bevor sie irgendetwas Dummes tun. Im Feuer ruht eine Menge ungezähmte Kraft und ein unerfahrener Funkenschmied unterschätzt diese leider viel zu oft. Viele Brände sind auf einen unvorsichtigen Magier zurückzuführen, Miles. Erinnerst du dich an den Brand vor einigen Monaten in der Wachmann-Allee?"

Das Erbe des LichtbringersWhere stories live. Discover now