Kapitel 38 |Spießrutenlauf I

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Verschiebung

Die Verschiebung – auch die Königsdisziplin der Zehrenden Bannflüche genannt – ist die Kunst sich selbst und andere Personen, oder sogar ganze Landschaftsbereiche in die Zwischenebene zu versetzen.

Das heißt, aufgrund der besonderen – wie in Kapitel 3.1 beschriebenen – physikalischen und miraculösen Eigenschaften dieses Ortes, ist ein Magier mit Hilfe der Verschiebung in der Lage, jedwede Gefahr, die ihm in einem Moment von außen droht, einfach abzuwehren. Nicht selten entkamen Magier in der Zeit des ersten und zweiten Magierkrieges auf diese Weise ihren Gegnern – vorausgesetzt, jene beherrschten nicht selbst die Verschiebung. Dieser Fall nennt sich Selbstverschiebung.

Im Falle einer sogenannten Fremdverschiebung wird sogar die gesamte Umgebung in die Zwischenebene kopiert. „Kopiert", weil nur lebende Materie (einschließlich aller Objekte innerhalb ihres körpereigenen magischen Feldes) vollends in die Zwischenebene wechseln kann. Statt also wie im ersten Fall vor den Augen aller anderen zu verschwinden, wird ein verschobenes Haus nach wie vor in der realen Welt verweilen – alle darin befindlichen Lebewesen jedoch in die Zwischenebene wechseln. Dieser Fall nennt sich Fremdverschiebung.

Das Gefährliche daran: Wenn man durch einen Magier fremdverschoben wird, kann man es unter Umständen noch nicht einmal bemerken. Erst wenn er den Rand der verschobenen Umgebung erreicht, realisiert der Verschobene, dass er sich plötzlich in einem „eigenen kleinen Universum" befindet – wie einige Hexenmeister zu sagen pflegen.

Diese verschobenen Orte sind nicht zu verwechseln mit realen Orten der Zwischenebene wie zum Beispiel dem zentralen Amt der magischen Gesellschaft oder dem Hohen Magierrat. Es sind nur zeitliche Kopien realer Orte und Objekte, die bei der Rückverschiebung aufhören zu existieren.

Zudem sind Verschiebungen sehr flüchtige Bannflüche. Nur wenige Magier schaffen es, sich selbst, geschweige denn einen ganzen Ort, nur für wenige Minuten zu verschieben.

- aus Leubrunners Lehrbuch der Magie; Kapitel 5.2 Zehrende Bannflüche





Miles blieb noch den kompletten Samstag bei Yolanda Wasabi. Erschöpft von seinen Verletzungen – sowohl den magischen als auch den seelischen – war er in einen rastlosen Halbschlaf verfallen, der sich jedoch ähnlich erholsam auf ihn auswirkte wie ein Hochleistungsmarathon. Immer wieder schreckte er hoch, als dunkle und formlose Gestalten in seine wirren Träume schlichen und ihn mit langen Klauen zu zerreißen drohten. Darunter mischte sich das Schluchzen zweier Jungen. Felix' ängstliches Wimmern blieb allgegenwärtig, doch wann immer er sich dem Jungen zuwenden wollte, war da nur er selbst – ein Heranwachsender, der nie den Tod seines ihm am nächsten stehenden Familienmitgliedes überwunden hatte.

Es stellte für ihn nichts Verwunderliches dar, dass Frau Wasabi nichts davon gewusst hatte. So wie er seine Mutter kannte, hatte sie die Angelegenheit niemals nach außen hin erwähnt, genauso, wie die Sache auch zu Hause totgeschwiegen worden war.

Einmal war Yolanda im Zimmer gewesen als er schweißgebadet aus seinen Träumen hochfuhr. Sie hatte gefragt, ob er zu Abend essen wollte, doch er hatte dankend abgelehnt. Übelkeit plagte ihn und er wollte einen erneuten visuellen Kontakt mit seinem Mageninhalt lieber vermeiden.

Also blieb er über Nacht.

Auch dieses Mal fand er keinen Schlaf, sondern nur qualvolle Stunden voller Schulgefühle, unterbrochen von schattenhaften Flashbacks seiner Erinnerungen. Nicht selten weckten ihn die Schmerzen seiner Schattenrisse – einmal war es sogar so schlimm, dass er Yolanda mit seinen Schreien aus dem Schlaf riss. Nachdem sie ihm abermals etwas von ihrem Wundermittel gab, fand er endlich für wenige Stunden Ruhe.

Das Erbe des LichtbringersDonde viven las historias. Descúbrelo ahora