Kapitel 1| Der Beginn des ganzen Desasters I

1.9K 244 137
                                    


Oft denken Menschen, die wichtigsten Eigenschaften im Umgang mit Magie wären Konzentration und Wissen. Leider vergessen sie meist, dass ihnen beides ohne eine gehörige Portion gesunden Menschenverstands nicht viel nützt.

- aus Leubrunners Lehrbuch der Magie, Einleitung


Deutschland, 2016

Gelangweilt zog Miles sein Smartphone aus der Hosentasche hervor, um einen unauffälligen Blick auf die Uhrzeit zu werfen. Da seine Laune sich bereits gemütlich im Keller seiner Gefühlswelt eingerichtet hatte, fiel sie beim Erhalt der gewünschten Information schmerzvoll auf die Nase und wurde dadurch sprichwörtlich am Boden zerstört. Es waren noch nicht einmal zehn Minuten vergangen!

Er seufzte und rutschte bis ans Ende der Stuhlkante nach vorne. Dies war einer der Momente, in denen er die feste Auffassung vertrat, dass die subjektive Empfindung von Zeit nur aus einem besonders sadistischen Grund existierte. Jede Minute in diesem Raum war so lang wie eine Stunde vor seiner Playstation. Und würde er umgekehrt jetzt zocken dürfen, läge der metaphorische Zeiger auf seiner Uhr zwischen zwei Blicken eine bedeutend größere Distanz zurück. Ein absolut unfaires Gesetz! Es musste doch irgendwie möglich sein, die Zeit etwas zu verkürzen.

Miles setzte sich wieder vernünftig an seinen Platz und fuhr damit fort, auf seinem Block rumzukritzeln, wie er es schon seit einer Viertelstunde tat. Nicht die beste Beschäftigung, aber was sollte er machen? Zuhören?

„... kann man eigentlich nicht von dem Satz des Pythagoras sprechen. Vielmehr gibt es eine ganze Satzgruppe des Pythagoras, die aus ihm selbst, dem Kathetensatz und dem Höhensatz gebildet wird. Alle diese Sätze sind äquivalent und lassen sich wie folgt ..."

Miles verdrehte die Augen und widmete sich wieder seinem Gekritzel. Wie war er nur auf den abwegigen Gedanken gekommen, das Gelaber könnte interessant sein?

Ey, hoffentlich ist die Alte bald mal fertig.

Als hätte eine höhere Macht Anstoß an seinen innerlichen Worten genommen, brach ihm die Spitze seines Bleistiftes ab. Miles unterdrückte einen Fluch. Wie sollte er sich denn jetzt bitte die Zeit vertreiben?

Er schielte zu seiner Sitznachbarin Sarah, die wie immer gebannt nach vorne an die Tafel starrte. Die blöde Streberin hatte doch bestimmt einen Anspitzer in ihrem pinken mit Einhörnern und Regenbögen verzierten Federmäppchen.

Unauffällig tippte er sie an und deutete auf die abgebrochene Mine.

„Später, wenn wir von der Tafel abschreiben", zischte sie unfreundlich. „Jetzt sollst du zuhören."

Als Antwort bekam sie nur Miles' herausgestreckte Zunge zu sehen. Echt, wieso musste er ausgerechnet neben der Klassenzicke sitzen? Na gut, wenn sie ihren Anspitzer nicht ausleihen wollte, musste er sich anders beschäftigen. Und er wusste auch schon genau wie.

Unschuldig nahm er den Stift zwischen Daumen und Zeigefinger und begann damit, auf der Tischkante herumzutrommeln. Eine halbe Minute hielt es Sarah aus, bevor sie sich ihm erneut zuwandte.

„Miles", zischte sie erbost. „Lass das, du nervst!"

Er ignorierte sie gekonnt und trommelte gelassen weiter – nur lauter.

„Hör endlich auf, ich will zuhören! Warum muss ich nur neben so einem Trottel wie dir sitzen!?"

Spielerisch warf Miles den Bleistift ein paar Zentimeter in die Luft, wo er sich mehrmals überschlug, bevor er ihn geschickt wieder auffing. „Also ich hab gehört, dass du Herrn Akkurat darum gebeten hast, weil du mich heiß findest." Er wandte Sarah sein Gesicht zu, in dem nun ein breites Grinsen stand.

Wenn sie sich nicht momentan im Unterricht befunden hätten, hätte sie ihm für diesen Spruch sicherlich eine geklebt. So hingegen beschränkte sich seine Mitschülerin auf einen bösen Blick und ein gezischtes „Idiot", welches Miles immer noch grinsend zur Kenntnis nahm.

„Wusstest du, dass ‚Idiot' von dem griechischen Wort ‚idios' kommt, was ‚eigen' bedeutet und in dem Sinne also gar keine Beleidigung ist?", fragte er süffisant. „Lern mal richtige Beleidigungen, Streberin!"

Sarahs Züge verhärteten sich. „Fick dich!", knurrte sie zurück. Für ihre Verhältnisse eine echt derbe Beleidigung, für die von Miles hingegen normaler Umgangston. „Anstatt Griechisch zu lernen, solltest du dich lieber mal auf den Unterricht konzentrieren."

„Ich glaube kaum", Miles schielte kurz nach vorne an die Tafel, „dass ich diese Dreiecke irgendwann noch mal wiedersehen werde. Im Ernst, wer braucht denn sowas später im Leb..." Er unterbrach sich, als eine andere, um mehrere Dezibel lautere Stimme sich einmischte.

„Miles Helion!", krähte sie.

Erst jetzt wurde er sich bewusst, dass die Aufmerksamkeit der Lehrerin auf ihm lag. Mahnend starrte sie über die ersten Reihen zu ihm hinüber und verschränkte die kräftigen Arme vor ihrem fassförmigen Körper. Miles musste bei ihrem Anblick immer an eine brünstige Seekuh denken.

„Was gibt es, Frau Abelsch?", fragte er unschuldig.

Verhaltenes Gelächter.

„Ich habe dir gerade eine Frage gestellt, Miles", betonte seine Mathelehrerin und funkelte ihn über ihre Lesebrille hinweg an.

„So etwas kommt vor, Frau Abelsch", antwortete Miles höflich. „Ist immer wieder ein wohltuendes Erlebnis."

Erneutes Gelächter.

„Schön, dass du so viel Freude an meinen Fragen hast. Es macht noch viel mehr Spaß, sie auch zu beantworten."

„Das kann ich mir lebhaft vorstellen, Frau Abelsch", antwortete Miles ohne jede Spur von Ironie in der Stimme.

Triumphierend stützte sich seine Mathelehrerin auf das Lehrerpult, welches unter ihrem nicht unerheblichen Gewicht gequält quietschte. „Ich wusste immer, dass du über eine außergewöhnliche Vorstellungskraft verfügst. Also, wie wäre es, wenn du mir nun die Antwort gibst?"

Miles zog entrüstet den Kopf zurück. „Aber Frau Abelsch, wenn ich Ihnen die Lösung vorsage, würde ich Ihnen ja den ganzen Spaß an der Aufgabe nehmen!"

Das Entsetzen in seinem Tonfall und die Antwort als solche sorgten für lautes Gegröle unter den Jungs in der Klasse.

Frau Abelsch hingegen wirkte, als versuche sie, Miles durch bloßes Anstarren in eine Pfütze zu verwandeln. „Du hast also mal wieder nicht zugehört, was?", knurrte sie mit einer Stimme, die Käse zum Schimmeln hätte bringen können. „Das wird sich ja spätestens bei der nächsten Klassenarbeit herausstellen. Aber ich kann dir jetzt schon sagen, dass dein Benehmen auf jeden Fall negativ in die Benotung mit einfließen wird. Mehr als eine Vier wirst du kaum erwarten können."

„Mein Benehmen?", protestierte Miles aufgebracht. „Frau Abelsch, ich denke, jeder hier kann bezeugen, dass ich Ihnen gegenüber die ganze Zeit über höflich geblieben bin, während Sie mir im Gegenzug dazu grundlos vorwerfen, nicht zugehört zu haben."



Das Erbe des LichtbringersWhere stories live. Discover now