Kapitel 32 | Der Bann der hundert verlorenen Seelen

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Der Wandel der Magie

Dieses Phänomen wurde erst sehr spät in der magischen Forschung entdeckt und befindet sich derzeit noch - wie so vieles in der Miraculogie – in Untersuchung. Die Theorie vom Wandel der Magie gab es laut den Schriften weiser Magier wie Merlin bereits vor tausend Jahren im alten Camelot.

Bekanntlich ist Magie immer eng mit demjenigen verknüpft, der sie fühlen und verbrennen kann. Magie und Magier „kommunizieren" über ganz eigene Wege, wobei einer davon die Sprache ist. Magie wird von Orten und von Magiern geprägt, ebenso, wie Magie das magieverbrennende Lebewesen beeinflusst. Es gilt eine Wechselseitigkeit. So ist es nicht verwunderlich, dass Zaubersprüche – die vor vielen hundert Jahren einst mächtig waren – heute ihre Wirkung eingebüßt haben. Ganze Bände über Magie wurden als nichtig erachtet, große Magier zu Heuchlern degradiert und ihre Werke verbrannt. Dabei konnte die heutige Magie nur nichts mehr mit den alten Worten anfangen. Sie hat sich gewandelt.

- aus Leubrunners Lehrbuch der Magie; Kapitel 9: Magische Theorien



„Seht und staunt!", rief der Hexenmeister voller Inbrunst und breitete die Arme aus, nachdem er die Teekanne mit den hundert verlorenen Seelen vor sich auf dem Boden platziert hatte. Schafftlich hingegen wandte sich zunehmend gehetzter um und spähte nach allen Seiten, um eventuelle Beobachter ausfindig zu machen. Es war zwei Uhr nachts unter der Woche – da war am wenigsten los –, aber so ganz wohl fühlte er sich bei der Sache trotzdem nicht. Immerhin standen sie mitten auf einer öffentlichen Straße im heruntergekommensten Viertel der Stadt und praktizierten böse Magie.

Er hatte vorgeschlagen, den Bann irgendwo auf einem stillen Hinterhof oder in einer verwahrlohsten Seitengasse zu zelebrieren, aber nein, der Herr der Finsternis musste sich ja direkt auf die Kreuzung der Hauptstraße stellen, weil hier alles im „Flow" war, wie er es nannte. Wo sein Herr diesen Begriff aufgeschnappt hatte, wollte Schafftlich gar nicht wissen.

Abermals riskierte er einen Blick über die Schulter und sah die verlassene Straße hinunter. Der Hexenmeister stand keine drei Schritte vor ihm und hielt die Arme immer noch ausgebreitet. Nichts rührte sich.

Nervös tippelte Schafftlich von einen Fuß auf den anderen und spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach. Er wollte sich hier nicht lange aufhalten, andererseits wollte er den Schattenlord auch nicht unterbrechen, das könnte ebenso schlimme Folgen haben. Endlich holte sein Meister Luft.

„Anima surgere!", intonierte er mit kräftiger Stimme.

Nichts geschah. Schafftlich wusste auch wieso.

„Ähm, Meister?", sagte er und zog sicherhaltshalber den Kopf ein.

„Unterbrecht mich nicht!", rief er zornig. „Anima surgere!"

Diesmal bewirkten seine Worte etwas. Geblendet kniff Schafftlich die Augen zusammen und der Schattenlord brach in triumphales Gelächter aus.

„Erblicket meine Macht!"

Schafftlich blinzelte. „Meister, das ..."

„Schweigt!"

„Aber ..."

„Ihr verderbt den Augenblick!"

Schafftlich konnte nicht anders. Hastig verließ er die Straße, während das Licht an Intensität gewann. Nur Sekundenbruchteile später ertönte hinter ihm ein hässliches Scheppern gefolgt von dem Quietschen, als das Auto mit durchgetretenen Bremsen zum Stehen kam. Schafftlich hörte das Öffnen einer Tür, gefolgt von einer von Alkohol geschwängerten Stimme:

Das Erbe des LichtbringersWhere stories live. Discover now