Kapitel 38 | Spießrutenlauf II

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Schmerzen ... wieso hatte er sich das nicht gleich denken können? Hes Training war wie immer hart und äußerst fordernd – und diesmal forderte es Miles' bereits lange aufgebrauchte Geduld. Er saß einfach nur zentral auf der kleinen Grünfläche, die Frau Wasabis Garten darstellte, und fror. Schließlich trug er nur ein von Schatten zerschlitztes T-Shirt. Eigentlich war es nicht sonderlich kalt, doch der Wind zerstörte unbarmherzig jedweden angenehmen Moment, wann immer die Sonne Anstalten machte, Miles' entblößte Unterarme zu wärmen. Und das nannte sein Meister Training?

Eine weitere Böe ließ ihn die Arme fester um seinen Körper schlingen. Verfluchte Kälte! Er wollte wieder zurück ins Bett!

„Du bist mit den Gedanken nicht bei der Sache", hörte er Hes Stimme durch den Wind säuseln; mahnend wie der rasch näher kommende Klang eines Martinshorns.

Ärgerlich öffnete Miles die Augen und starrte zu seinem Meister empor.

„Natürlich bin ich das nicht!", fauchte er. „Ich friere und ... wo zum Teufel haben Sie die dicke Winterjacke her!?" Empört sah er in das faltige Gesicht, welches unter einer kuschelig anmutenden Kapuze hervorlugte.

„Ich habe sie vorhin aus meinem Auto geholt, als der Wind zugenommen hat", erklärte He sachlich. „Du hättest die Gelegenheit nutzen sollen, um deine ebenfalls zu holen."

Die Ruhe seiner Worte waren der Essig für Miles' Laune.

„Und Sie kommen nicht auf die Idee, mir eben bescheid zu sagen? Ich hatte die Augen geschlossen und Sie schleichen sich einfach ... ach, wissen Sie was? Ich hab die Schnauze voll!"

Mit eng an den Körper gepressten Armen erhob er sich von seiner Position in Laub und Gras und stampfte an seinem Lehrer vorbei.

„Was hast du vor, Junge?"

„Was schon?", rief Miles, wobei er auf den Hintereingang von Frau Wasabis Haus zuhielt. „Nur meine Jacke holen. Ich komme gleich wieder."

„Hast du gefragt, ob du eine Pause machen darfst?"

Miles verharrte auf der Schwelle und drehte sich noch einmal zu dem Erzmagier um, der nach wie vor keine Anstalten machte, auch nur einen Finger zu krümmen.

„Wissen Sie was? Mir ist es egal, ob Sie mir eine Pause erlauben oder nicht! Mir ist scheiße kalt und ich will meinen Körper nicht weiter sinnlos diesem Zustand aussetzen!"

Und mit diesen Worten drückte er die Klinke hinunter, öffnete die Tür und trat ... in Frau Wasabis Garten?

„An sich eine gute Antwort", sagte He, der nach wie vor – das Haus in seinem Rücken – vor ihm stand und aufmerksam beobachtete. „Aber du kannst dein Problem lösen, ohne eine Pause machen zu müssen. Also setz dich wieder, wir fahren mit dem Training solange fort, wie es nötig ist."

Miles blickte verwirrt von seinem Lehrer zum Hintereingang, bevor er sich um die eigene Achse drehte und den Apfelbaum begutachtete, der plötzlich hinter ihm in die Höhe ragte. Was war das eben gewesen? Eine Art Illusion?

Verärgert würgte Miles die Fragen an seinen Lehrmeister hinunter und stapfte abermals auf die Hintertür zu, nur um beim Durchschreiten erneut unter dem Apfelbaum zu landen. Verwirrt blieb er stehen. Wie war das möglich? Er hatte den Hausflur beim Eintreten ins Haus doch klar und deutlich vor sich gesehen, sogar bereits die Wärme gespürt, die ihm von dort entgegenströmte.

„Deiner Verwirrung nach zu urteilen, weißt du nicht, was gerade passiert ist", schloss He. „Ich habe uns beide sowie den Garten verschoben. Du wirst nicht ins Haus zurückkehren können."

„Ach nein?", fragte Miles herausfordernd und sprintete auf die zu seiner Rechten liegendende Hecke zu. Davor stand eine kleine Holzbank, die er ganz dreist als Sprungbrett missbrauchte, um über den biologisch abbaubaren Grundstückteiler zu springen – nur um abermals in Frau Wasabis Garten zu landen. Es war, als läge ein identisches Grundstück genau auf der anderen Seite der Hecke.

Das Erbe des LichtbringersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt