Kapitel 44 | Die Schatten werden länger III

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Neugierig umrundete er den Schreibtisch und stellte fest, dass der normale Windows Standard-Bildschirmschoner über die Mattscheibe des Rechners flimmerte. Etwas, was normalerweise nicht allzu schnell passierte.

„Für kurz abwesend ist dein Hüter hier aber schon etwas zu lange fort", meinte er und bewegte die Maus, woraufhin sich ihm ein Browserfenster präsentierte. „Tatsächlich war er gerade sogar sehr beschäftigt, eine E-Mail an irgendeinen Walter Bender zu schreiben. Komisch, dass der Text mitten im Satz abbricht. Ungeeigneter Zeitpunkt, für eine Pause, findet ihr nicht?" Miles hob den Kopf. „Irgendetwas ist oberfaul hier drin, und ich wette, es hat mit dem Hexenmeister zu tun."
So schlau und lässig er den klug kombinierten Sachverhalt aussprechen wollte – es gelang ihm nicht. Der Hexenmeister war doch nicht etwa in die Hochschule marschiert und hatte jeden einzelnen Magier aus dem Weg geräumt? Laut Cora war der Mann, dem dieses Büro gehörte, jemand, der Hüter ausbildete. Hüter!

... naja, ohne Magie war auch er nur ein ganz normaler Mensch.

Langsam erkannte Miles, wie fatal die Situation war, in der sie sich alle befanden. Ohne Magie waren sie alle wehrlos. Deswegen hatte Flip auch solche Panik geschoben. Sie hätten echt sofort was unternehmen sollen, doch er, Miles, war ja zu blind gewesen, zu beschäftigt mit sich selbst und seinem Schicksal, anstatt einfach etwas zu tun.

Alarmiert wirbelte er herum und rannte aus dem Büro. Ohne einen Gedanken an irgendwelche Höflichkeitskonventionen, riss er die nächste Tür auf dem Flur auf, nur um wieder einen leeren Büroraum vorzufinden, in dem noch die Jacke über den Stuhl hing. Immer mehr Türen stieß er auf und wann immer sie nicht abgeschlossen waren, kam dahinter ein menschenleeres Büro zum Vorschein.

„Scheiße, wo sind sie alle hin?", fluchte Miles, dem der Gedanke, nun ganz auf sich allein gestellt zu sein, noch weniger gefiel als die Vorstellung, was mit den Leuten geschehen war. Egoistisch, ja, aber in dieser Situation nur menschlich. Immer hatte er jeden, der ihm Hilfe anbot, nur geringschätzig und feindselig angesehen, aber jetzt, wo er wirklich in der Klemme steckte, sollte niemand da sein? Nicht fair, ganz und gar nicht fair!

Tief Luft holend stützte er sich an der Wand ab und versuchte seine Empfindungen unter Kontrolle zu bringen. Panik half ihm jetzt nicht. Die Magier waren nur verschwunden. In keinem der Räume hatte er eine Leiche, geschweige denn, Spuren eines Kampfes oder einer überstürzten Flucht gefunden. Vielleicht war das alles ganz normal; vielleicht hatten die Magier den Hexenmeister bemerkt und eine Notfallsitzung zusammengerufen. Das würde erklären, wieso hier alles so verlassen wirkte.

Miles schluckte. Tief in seinem Inneren wusste er, dass dies nur eine mehr als unwahrscheinliche Begründung war, die sein Gehirn sich zur Beruhigung zurechtgesponnen hatte. Wären er und seine Freunde hier gewesen wie die anderen Kursteilnehmer, wenn sie sich nicht gestritten und den Kurs geschwänzt hätten, dann ...

Er mochte den Gedanken nicht zuende führen.

Zum Glück waren wir nicht hier ...

Wie ein eisiger Blitz fuhr ein Schock durch seinen Körper, als ihm auffiel, dass nicht alle den Kurs verpasst hatten.

Katy!

Als würden Erreichbarkeit des Angerufenden und Geschwindigkeit des Anrufers in Relation stehen, zog er sein Smartphone aus der Tasche und wählte ihre Nummer an.

Bitte!, flehte er, melde dich! Und wenn du nur den Anruf ablehnst – Hauptsache, ich weiß, dass es dir gut geht!

Mit beharrlicher Regelmäßigkeit erklang das Rufzeichen. Nur am Rande bekam er mit, wie Cora und Däx sich wieder über irgendetwas zu streiten anfingen, während sie aus einem der von Miles aufgerissenen Büroräume traten.

Nach einer gefühlten Ewigkeit hörte er endlich ihre Stimme und Miles fühlte eine Welle der Erleichterung durch sich hindurchfließen ... die den Bruchteil einer Sekunde später zu einer dichten Eiswand gefror, als er merkte, dass es bloß die Mailbox war.

„Verdammte Scheiße!", fluchte er so laut, dass es seine beiden Freunde aus ihrer Streiterei riss.

„Was ist los?", fragte Cora sofort und kam auf ihn zu.

Miles ließ das Smartphone sinken. Alles in ihm fühlte sich seltsam taub und stumpf an, als hätte ihn jemand mit Baumwolle ausgestopft, um nachfolgende Schäden in seinem Inneren zu verhindern.

„Katy", sagte er tonlos. „Sie geht nicht an ihr Handy. Sie war hier. Mit all den anderen."
Er sprach nicht weiter. Schweigend starrten sie einander an.

„Nein!", sagte Cora schließlich und schüttelte entschieden den Kopf. „Nein, Miles, das muss nichts heißen! Hör zu, wir haben keine Ahnung, was hier passiert ist! Wir wissen nichts, kapiert!? Als der Hexenmeister an der Schule war, gab es noch Magie. Vielleicht wurde die Hochschule evakuiert. Wenn sie alle tot wären, lägen hier ein paar Leichen rum; du weißt doch, was er mit Herrn Jakob und den Zeugen Jehovas gemacht hat – und sowas ist hier nicht geschehen! Hast du das verstanden?"

Ihre Worte waren mit einer Wut gesprochen, die es Miles unmöglich machte, zu widersprechen. Stumm nickte er.

„Okay", sagte Cora und holte tief Luft. „Wir sollten zunächst deinen Vertrauten verarzten und seine Wunden säubern. Wie es aussieht hat er mehrere Kratzer davongetragen."

„Gute Idee", antwortete Miles, der nur langsam die Kontrolle über seine Stimme zurückgewann. „Was er wohl durchgemacht hat?"

„Das wird er uns hoffentlich bald erzählen."

Fürsorglich sah Cora auf den Fuchs in ihren Armen hinab und kraulte sein Kinn. „Er ist echt putzig. Wieso habe ich nicht so einen niedlichen Vertrauten?"

„Sag das noch mal, wenn du ihn kennenglernt hast", entgegnete Miles, der sich nur zu gut an die sadistische Ader des Fuchses erinnerte.

Cora warf ihm einen vernichtenden Blick zu. „Jungs", sagte sie und fuhr fort, Blacky zu kraulen.

Der Fuchs regte sich. „Ja, da ist es schön", murmelte er kaum hörbar. „Nicht aufhören."

Coras Hand verharrte. Vermutlich hatte sie nicht damit gerechnet, dass ihr neues Kuscheltier sprechen würde.

Miles reagierte als erster. „Blacky!", sagte er eindringlich und rüttelte den Fuchs sachte an der Schulter. „Blacky, hörst du mich?"

„Hmm? Du bist rollig?", murmelte sein Vertrauter, nach wie vor ohne die Augen zu öffnen, woraufhin Däx leise zu kichern anfing.

„Ja, andauernd. Der Fuchs scheint dich echt gut zu kennen", kommentierte er.

Miles sah verstört zu seinem Kumpel hinüber. „Sag mal, du hast die Lage immer noch nicht begriffen, oder?", herrschte er ihn an.

„Ja, weil mir hier niemand etwas erklärt!", grollte sein Kumpel zurück.

Miles ignorierte den Einwand. „Komm schon, Blacky", sagte er wieder an den Fuchs gewandt. „Zum Faulenzen hast du später noch Zeit. Wir brauchen dein Hilfe!"

Sein Vertrauter brummte.

„Du brauchst mich?"

„Ja!"

„Sehr?"

„Ja!"

„Du willst viele junge Füchse von mir?"

„Was!? Nein!"

„Jederzeit. Ich muss vorher nur ..." Die Stimme des Fuchses verlor sich. „... vorher nur meinen Schützling warnen ... Hexenmeister ..." Blacky dämmerte weg.

Sofort hielt Cora ihn auf Armeslänge von sich.

„Hier!", sagte sie entschieden und drückte Miles den Fuchs in den Arm. „Ich halte den nicht, solange er ... solche Dinge träumt."

Miles zögerte. „Ich dachte, er sei niedlich?"

„Ich habe ihn kennengelernt und meine Meinung geändert. Jetzt nimm du ihn, er ist dein Vertrauter!"

Das Erbe des LichtbringersWhere stories live. Discover now