Kapitel 50 | Ein neuer Morgen

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„Oft haben mir Leute in meinem Leben gesagt, was für ein verplanter Idiot ich doch manchmal wäre. Heute ist der Tag, an dem ich erstmals denke, dass da was dran sein könnte ..."

- Miles Helion



Der nächste Morgen kam Miles' Empfinden nach viel zu früh. Eine ihm typische Eigenschaft, weswegen der junge Funkenschmied ihn vom ganzem Herzen hasste. Nicht nur, dass er in aller Hergottsfrühe geweckt wurde, nein, die garstige Schwester vom Vortag bestand darauf, dass er gewaschen werden musste. Ein Satz, in dem Miles das Passiv überhaupt nicht gefiel.

Andererseits, mit tatkräftiger Hilfe kam er zwar auf die Beine, doch da er seinen Oberkörper nicht bewegen konnte, besaß er die Mobilität eines Holzbrettes. Er musste sich also wohl oder übel fügen. Zum Glück übernahm das Waschen nicht dieser Drachen einer Oberschwester, sondern eine etwas Jüngere, die augenscheinlich froh über die Abwechslung war, einem Teenager die Hosen runterzuziehen – jedenfalls deutete eine gewisse Belustigung über Miles' Scham darauf hin.

Anschließend wurde er zurück ins Bett verfrachtet und bekam ein ordentliches Frühstück geliefert. Währenddessen hatte der Chefarzt einen weiteren Blick auf Flip geworfen, der sich zu Miles' großer Erleichterung bester Gesundheit erfreute. Der Empath wirkte immer noch bleich und unsicher auf den Beinen, aber der Arzt meinte, das wäre ganz normal, den Morgen solle er noch im Bett verbringen, dann könnte man ihn zum Mittag schon wieder entlassen. Das Koma war bestimmt nur ein Resultat zu großer Erschöpfung gewesen.

Da sie am Tage nicht wagten, über die vergangenen Ereignisse zu sprechen, setzte Flip sich zu Miles ans Bett, um ihn bei seinen Hausaufgaben zu unterstützen. Miles nahm seine Hilfe dankbar entgegen, denn sein Freund konnte gut und geduldig erklären, was ihm die Arbeit erheblich erleichterte. Es war das erste Mal seit Langem, dass Miles sich ernsthaft mit seinen Hausaufgaben beschäftigte.

Gegen Mittag kamen dann die Senters vorbei, um ihren Sohn abzuholen. Miles war die Begegnung etwas unbehaglich, war er es doch gewesen, der ihren einzigen Sohn in solch enorme Gefahr gebracht hatte, aber Lena und Tiberius schienen das anders zu sehen. Sie begegneten ihn mit der gleichen Warmherzigkeit wie schon bei ihrem letzten Treffen und erkundigten sich besorgt auch nach seinem Zustand.

Sie redeten noch ein wenig, bis der nächste Besuch in der Tür stand. Diesmal handelte es sich um Miles' Mutter. Und sie kam in Begleitung eines anderen Mannes, den er nie zuvor gesehen hatte.

Sein erster Gedanke war Erleichterung. Seit Yolandas Begegnung mit dem Schatten bei ihm zu Hause, war er ernsthaft um ihre Sicherheit besorgt gewesen. Der zweite Gedanke bestand aus Ablehnung und betraf den Mann an ihrer Seite. Seit jeher hatte sich Miles zu jedem männlichen Bekannten seiner Mutter unaustehlich verhalten – ein häufiger Streitpunkt zwischen ihnen. Miles hatte ihr nie gesagt, dass er nur verhindern wollte, dass ein zweiter Arsch wie sein Vater sie verletzte. Andererseits – Miles musterte den Mann mit den unordlichen Haaren und dem stoppeligen Klobrillenbart – vermutlich war sie seinetwegen nicht im Haus gewesen, als der Schatten dort sein Unwesen getrieben hatte. Damit hatte er sich besser um sie gekümmert, als sein Vater.

„Miles, Schatz!", rief Ida Helion und kam an sein Bett geeilt. Sie wollte ihn umarmen, beschränkte sich dann aber, ihn mit beiden Händen über die Wangen zu streichen. „Himmel, ich war so froh, als das Krankenhaus endlich anrief und sagte, dass du aufgewacht bist. Ralf war auch gleich bereit, mich sofort hierher zu fahren. Schatz, ich bin ja so froh, dass es dir gut geht."

Miles lächelte etwas verlegen über den Ansturm seiner Mutter in Gegenwart seines Schulfreundes. „Same here."

Ida Helion war viel zu aufgeregt, um die Bemerkung richtig zu verstehen. „Es tut mir leid, ich habe mich in den letzten Wochen zu wenig um dich gekümmert. Da lässt man dich mal kurz aus den Augen und du bringst dich beinahe um!" Eine Träne rollte ihr über die Wange.

Das Erbe des LichtbringersWhere stories live. Discover now