Kapitel 50

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Miguel

Amara gähnt, während sie den Stift ablegt und sich den Zettel durchließt. Sie hat ziemlich viele Dinge über ihren Bruder aufschreiben können, die Frage ist nur, ob diese Dinge auch heute noch auf ihn zu treffen. Immerhin ist er älter geworden, reifer nicht unbedingt, wenn er wirklich versucht haben sollte seine Schwester abzuknallen.

"Mir fällt nichts mehr ein.", seufzt sie und lehnt sich zurück gegen meine Brust. Ich greife nach dem Zettel und beginne mir einiges durchzulesen.

"Ihr habt oft am Hafen gespielt?", frage ich sie stirnrunzelnd und schaue sie von der Seite an.

"Ja. Mein Vater hat dort früher in der Nähe gearbeitet, bevor er nach Miami gezogen ist. Wir waren oft da, als wir noch Kinder waren.", erklärt sie mir.
Am Strand und im Hafengebiet gibt es viele Ecken, die unbewacht und einsam sind. Aber er wird wohl kaum zurück nach Los Angeles gegangen sein. Er muss hier irgendwo im Land sein, dafür lege ich meine Hand ins Feuer.

"Am Hafen zu spielen ist gefährlich.", ermahne ich sie.

"Du sagst mir, was gefährlich ist?", gluckst sie leise.

"War er schonmal in Mexiko?", übergehe ich ihre Aussage und will wissen, ob es vielleicht hier in der Nähe einen Ort gibt, den er kennen könnte und an dem er sich sicher fühlt.

"Ja, mit Mama und mir jeden Sommer. In Altata.", deutet sie auf die kleine Küstenstadt auf  Landkarte auf meinen Schreibtisch.

"Und gibt es da was besonderes?", hake ich nach, da ich ihr anscheinend alles aus der Nase rumziehen muss.

"Wir waren immer am Strand. Es gibt eine kleine Höhle, da haben wir immer gespielt. Ansonsten gibt es dort nichts mehr. Meine Oma wohnt dort schon seit Ewigkeiten nicht mehr."
Sie zuckt mit den Schulter und steht von meinem Schoß auf. Dann geht sie auf die Terrassentür zu und schaut nach draußen.
Die Sonne steht noch immer am Himmel und strahlt hell auf den Pool. Das Wasser muss jetzt angenehm warm sein.

"Ich bin mir sicher, dass er da ist. Lass uns da hin fahren und es herausfinden.", schlägt sie vor. Sie schaut gerade aus in den Garten und beobachtet Sofia.

Ich stehe auf und werfe mir das Jackett über. Als ich die Autoschlüssel aus der Schublade meines Schreibtisches hole, wirft sie mir einen erstaunten Blick zu.

"Stimmst du mir gerade zu?", fragt sie genauso erstaunt und folgt mir dann aus dem Büro.
Ich halte ihr die Eingangstür auf, während sie sich die Schuhe anzieht.

"Ein richtiger Gentleman.", flüstert sie kichernd und huscht die Steintreppen runter in Richtung BMW. Ich verdrehe die Augen und gehe sicher, dass ich meine Waffe auch wirklich dabei habe, bevor wir zu diesem Bastard fahren.

"Woran denkst du?", will ich wissen und steige ins Auto ein.
Sie lässt sich auf den warmen Ledersitz fallen und lehnt sich direkt an.

"Er ist erst 17.", haucht sie und schaut durch die Windschutzscheibe auf die Blumen im Vorgarten. Ich starte den Wagen und drehe auf dem Hof, dann fahre ich die lange Einfahrt entlang und schaue in den Sonnenuntergang.

"Das Alter hat nichts mit der Reife zu tun. Du darfst nicht vergessen, was er dir antun wollte.", will ich ihr das Mitleid ausreden.
Der Bastard hat nichts anderes als den Tod verdient, dafür werde ich sorgen.
Fast hätte er mir das Herz gebrochen, als er auf meine Frau geschossen hat und sie fast getötet hätte.
Eine Gänsehaut läuft mir über den Rücken, als ich an den Augenblick des Schusses zurückdenke. Das viele Blut an meinen Händen und auf dem Boden.

"Er wollte das bestimmt nicht.", verteidigt sie ihn tatsächlich.
Ich umgreife das Lenkrad fester und trete das Gaspedal weiter durch, als ich auf die Landstraße abbiege.

Sie will dieses Arschloch wirklich verteidigen.

"Du verteidigst jemanden, der dein Leben nehmen wollte.", zische ich angespannt und starre gerade aus auf den heißen Asphalt.

"Ja, weil derjenige vermutlich mein Bruder ist!", zischt sie ebenfalls wütend zurück.
Dann verschränkt sie die Arme vor der Brust und schaut aus dem Seitenfenster auf die unendlichen Maisfelder neben der Landstraße.
Die Sonne steht niedrig am Horizont, die Hitze staut sich über der heißen Straße.

"Wenn er es wirklich war, was willst du dann tun?", frage ich ein wenig entspannter und lockere meinen Griff um das Lenkrad.

"Keine Ahnung.", brummt sie und will es sich vermutlich selber nicht ausmalen.
Ich kann mir nicht im entferntesten vorstellen, wie dieses Gefühl sein muss. Egal wie sehr Pedro und ich uns streiten würden, niemals würden wir auf die Idee kommen den anderen umzubringen.

Wirklich niemals.

Ich belasse es dabei.
Ich habe selber keine Idee, was ich tun würde.
Eins steht fest: Mitnehmen werde ich ihn nicht, zumindest nicht, wenn er am Leben bleiben soll. Lebendig wird er meine Villa nicht verlassen.

"Wie lange fahren wir?", fragt Amara mit kratziger Stimme.
Sie lässt ihren müden Blick noch immer nachdenklich über die vertrockneten Maisfelder schweifen.

"20 Minuten. Dauert nicht mehr lange.", zeige ich auf die digitale Uhr im Display des Autos.

"Er ist bestimmt nicht da.", flüstert sie erschöpft und schließt die Augen langsam.

"Ich hoffe es für ihn.", murmel ich leise.
Sie hört es, öffnet kurz die Augen, schaut mich jedoch nicht an. Kurz öffnet sie den Mund, schließt ihn jedoch kurz drauf wieder, ohne etwas von sich zugeben.

Dann rutscht sie tiefer in den Ledersitz und schließt erneut die Augen.

Mi amorWhere stories live. Discover now