Kapitel 67

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Amara
15:21 Uhr

Miguel lehnt am schwarzen Auto, während ich auf ihn zugehe.

Sofort bekomme ich ein Dejavu.

Damals, als ich er mich das erste Mal mit zu sich genommen hat, stand er genau so da. Auch heute trägt er wieder eine Anzughose und ein weißes Hemd, obwohl es brütend heiß ist. Die Ärmel hat er hochgeschoben, eine Zigarette glüht in seiner rechten Hand.

Er beobachtet mich mit Adleraugen, hin und wieder trifft sein Blick die anderen Studenten, die mit mir das Universitätsgelände verlassen.

"Wie lief es?", fragt er mich als aller erstes. Er hält mir die Tür auf, während er auf meine Antwort wartet.

"Ich denke es lief gut, schätze ich."
Ich zucke mit den Schultern, weil ich es wirklich nicht einschätzen kann.

"Ist alles gut?", will er skeptisch wissen und beugt sich zu mir ins Auto.

Erschöpft fahre ich mir durch die Haare.

"Ja. Ich bin nur total müde.", erkläre ich meine Stimmung. Immerhin habe ich 6 Stunden lang in dem Hörsaal gesessen. 

Er nickt verstehend, dann schließt er die Tür und geht ums Auto rum. Ich sehe, wie er seine Zigarette auf den Boden schmeißt, sie austritt und dann schwungvoll die Tür öffnet.

"Lass uns ins Hotel fahren und essen bestellen. Dann machen wir uns einen entspannten Abend auf dem Balkon, wir wärs?", schlägt er vor und reiht sich nebenbei in den Verkehr ein.

Woher hat er den Wagen überhaupt so plötzlich? Es ist ein anderer als der, mit dem wir zum Hotel gebracht wurden. Hat er diesen hier gemietet oder gehört er ihm?

"Ist gut, ich habe sowieso Hunger."
Erst jetzt merke ich, dass mein Magen total leer ist. Müde schließe ich die Augen und lehne meinen Kopf an die Fensterscheibe. Die Sonne prallt auf die Wolkenkratzer und erhitzt die Straße. Am Straßenrand spielen Kinder, wie bei meiner ersten Fahrt mit ihm.

Bevor ich einschlafe, kriege ich Flashbacks.

Wie er mich das erste Mal geküsst hat.

Wie wir nach Mexiko gefahren sind.

Wie ich mit ihm geschlafen habe.

Wie er mich immer geärgert hat.

Wie er sich um mich gekümmert hat.

Aber auch wie er mich mit der Waffe bedroht hat.

Wie er mich auf den Boden geschubst hat.

Und wie oft er mich angeschrien hat.

"Denk nicht an die schlechten Zeiten, mi amor.", reißt mich seine Stimme aus dem Halbschlaf. Ich schrecke hoch und schaue ihn erschrocken an, dann streiche ich mir die Haare aus dem Gesicht.

"Was?", frage ich irritiert, weil ich nicht verstehe, wie er das jetzt wieder mitbekommen hat.

"Du grübelst. Über uns und die Vergangenheit.", beginnt er.

"Tu das nicht. Das was ich getan habe, werde ich nie wieder tun. Vertrau mir.", spricht er sanft und schaut auf die Straße. Dann legt er seine Hand auf meinen Oberschenkel und drückt ihn leicht.

Ich greife nach seiner Hand und umschließe sie.

Er gibt mir Halt und Sicherheit.

Und er hat recht. Er hat mich in all den Jahren nie im Stich gelassen. Er war immer da, auch wenn ich ihn nicht gesehen hab. Er hat mich beschützt, als es kein anderer getan hat und dafür muss ich ihm dankbar sein.

Ich weiß nicht, was jetzt mit meinem Bruder passiert oder was die Zukunft für mich bereit hält. Niemand weiß das.

Was ich aber weiß, ist, dass ich mir eine Zukunft nur mit Miguel vorstellen kann und ich werde alles dafür tun, dass es klappt.

Und ich hoffe, dass auch er alles daran setzt.

Ich möchte die Welt bereisen. Mal was anderes sehen, als Mexiko oder Amerika. Und ich möchte einen ehrlichen Job haben. Abseits von Miguels Welt.

Ich möchte auf eigenen Füßen stehen, für mich selber sorgen können, wenn es hart auf hart kommt.

Ich will nicht von ihm abhängig sein, das steht fest. Ich möchte ihm nicht auf der Tasche liegen.

Auch wenn er damit sicherlich kein Problem hätte.

Ich schaue auf das Meer, was sich rechts neben mir zwischen den Felsen auftut. Es glänzt im Sonnenlicht, die Wellen beruhigen mich.

"Ich liebe dich, Miguel.", sind meine letzten Worte, bevor ich vor Erschöpfung einschlafe. Es waren anstrengende Wochen, doch jetzt ist es vorbei. Jetzt darf ich mich ausruhen und die Zeit mit Miguel in Los Angeles genießen.

Miguel und ich haben zu einander gefunden, auch, wenn es lange gedauert hat. Aber diese Zeit war es mir wert. Ich habe mich selbst kennengelernt und Miguel hat mich stärker gemacht.

Erwachsener, reifer.

Er mag nicht der beste Mensch auf diesem Planeten sein. Er ist skrupellos, kalt und vielleicht auch herzlos.

Aber für mich ist er der Richtige.

Und jetzt ist es zu Ende. Die lange Reise, die Berg- und Talfahrten. Es ist vorbei.

Und ich bin erleichtert.

Einige denken jetzt vielleicht, dass die Geschichte zu Ende ist, abeeeer: Es wird noch 2/3 Bonus-Kapitel geben 🎉

Mi amorWhere stories live. Discover now