1 • Talia

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Ein lautes Klirren lässt mich kerzengerade auffahren. Das Buch rutscht mir vor Schreck aus der Hand und landet dumpf auf dem Boden.

Ich war nicht sonderlich vertieft in die kurzen Zeilen - Poesie hat mich noch nie so sehr gefangen genommen wie Romane - doch das Geräusch hat mich eiskalt erwischt.

Es kam weder aus dem hohen Verkaufsraum, der bis an die Decke voll mit Büchern gestapelt ist, noch von den spielenden Kindern vor dem Gebäude. Mein Herz klopft einen Takt schneller, als es mir bewusst wird. Die Abstellkammer.

Nervös schiebe ich so leise wie möglich den Stuhl zurück und tapse auf den Ballen zwischen den Regalen auf den Türrahmen zu.

Eine Türe zwischen den Räumen gab es hier noch nie. Die Kunden stört es nicht, einen Blick hinter die heimelige Fassade der kleinen Buchhandlung werfen zu können und ich bin gerade mehr als froh, dass ich einen uneingeschränkten Blick in die Kammer werfen kann. Und was ich zu sehen bekomme, verwirrt mich noch umso mehr.

Neben dem Tisch, an dem wir die neuen Bücher in Lederumschläge einbinden, kauert ein Mädchen in der Ecke und krallt sich verängstigt an der Tischkante fest.

Sie ist klein, zierlich, beinahe abgemagert. Das pechschwarze Haar hängt in dünnen, spröden Strähnen über ihrem Gesicht, dahinter starrt mich ein dunkles Augenpaar an. Die Füße sind nackt, unter ihren Nägeln sammelt sich Dreck. Auch das dunkle Kleid zeugt mit dem ausgefransten Saum von dem, was sie durchgemacht haben muss.

Obwohl ich nicht den Hauch einer Ahnung habe, was das sein sollte. Oder was sie in das Hinterzimmer einer unscheinbaren Buchhandlung treibt.

"Kann ich dir helfen?", bringe ich vorsichtig über die Lippen und hätte mir am liebsten mit der flachen Hand gegen die Stirn geschlagen. Welch eine dumme Frage!
"Äh..." Sie legt den Kopf schief, um an mir vorbei in den Verkaufsraum spicken zu können. "...nein. Doch. Also ja."

Ich nicke und nähere mich behutsam, Schritt für Schritt.
"Willst du dich vielleicht hinsetzen? Oder etwas zu trinken?"
Oder mir sagen, warum du aussiehst, wie du gerade aussiehst?

Das junge Mädchen fixiert meine Beine. Augenblicklich bleibe ich stehen. Erst jetzt fällt mir auf, dass sich vor ihren Füßen Glasscherben häufen.

Mein Blick schnellt zum Fenster, durch das zu dieser späten Stunde ein letzter Sonnenstrahl den Raum in einem warmen Rotton erstrahlen lässt und ihrer eigentlich blassen Haut einen gebräunten Schimmer verleiht. Die Scheibe ist zerbrochen, ein spitzer Splitter ragt bedrohlich in die Höhe.

"Hast du dich verletzt?"
Das Mädchen löst die knochige Hand vom Tisch und krempelt das Kleid hoch. Eine tiefe Wunde reicht von ihrem Oberschenkel bis zum Knie, vermutlich durch das übrige Glas am Fenster. Sie lässt das Kleid wieder fallen und streckt den Rücken durch.

"Nur ein Kratzer."
Wie bitte? "Sicherlich nicht", entgegne ich und deute auf den Stuhl. "Setz dich. Ich kümmere mich darum."

Bevor ich mich umdrehen kann, um Wasser und ein Stück Stoff zum Verbinden zu holen, streckt sie den Arm in meine Richtung als könnte sie mich trotz der Distanz zum Stehenbleiben bringen.

"Nein!" Eindringlich liegt ihr flehender Blick auf mir. "Wirklich nicht. Wasser genügt."
Ich nicke, eile zum Schrank, fische Wasser, ein Glas und Stoff daraus hervor und kehre zurück. Sie steht noch immer in der Ecke, macht sich so klein wie möglich. Als sie den Stoff sieht, formen sich ihre Lippen zu einem trägen Lächeln.

"Du bist stur, nicht wahr?"
"Ich kann stur sein", widerspreche ich und ziehe den Stuhl heran. Das Mädchen lässt sich langsam darauf nieder und beobachtet, wie ich ihr das Getränk einschenke. "Wie heißt du?"

InhumanityWo Geschichten leben. Entdecke jetzt