54 • Talia

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Luan ist nicht zu Hause, als ich mich erst bei Einbruch der Nacht ins Innere von Meral traue. Die Gassen sind beinahe wie ausgestorben, wie immer im Winter, wenn die Dunkelheit früher einsetzt. Ohne Simons Magie wäre es jedoch zu riskant gewesen, im Tageslicht quer durch die Hafenstadt zu streifen, also harrte ich die letzten Stunden im Wald aus, denn ihn um Hilfe zu bitten, kreuzte nicht einmal meine Gedanken. Vermutlich treibt sich Luan noch immer in Noral herum, dort, wo er unser Haus offiziell zum Verkauf anbietet.

Eilig richte ich ihm das Essen, bevor ich einen prüfenden Blick auf die Promenade werfe. Hier und da schlurfen müde Männer nach Hause, doch wenn ich die Kapuze tief ins Gesicht ziehe, bleibe ich unentdeckt. Zumal das Schneetreiben die Sicht deutlich einschränkt. Der Hafen selbst ist menschenleer, nur ein Licht im Wachturm brennt. Um dennoch unerkannt zu bleiben, setze ich mich auf eine Mauer abseits, blicke auf die Schneeflocken, die zerfallen, kaum berühren sie die sanften Wellen. Dieses Mal habe ich an Handschuhe gedacht. Meine blauen Finger von den Stunden in der Eiseskälte heute Nachmittag hätten Luan wahnsinnig vor Sorge gemacht.

"Was machst du hier?"

Mein Blick schnellt über die Schulter, derweil mein Puls einen Marathon beginnt - wie konnte ich so dumm sein und nicht auf mein Herz hören? Seine Augen streifen kurz suchend über den Weg, als rechne er jeden Moment damit, dass Simon aus dem Schatten hervorhuscht. Dann fixiert er mich mit gleichgültiger, beinahe kalter Mimik. Kann ich es ihm verübeln? Das letzte Mal hatte ich ihm meine ganze Verzweiflung in grässlichen Worten und noch schlimmerer Untätigkeit entgegengeschleudert.

Ich schlucke, versuche den Knoten in meiner Brust zu verdrängen. Zögernd rutsche ich von der Mauer, versuche zumindest die räumliche Distanz zwischen uns zu verringern. Bevor ich zum Sprechen ansetzen kann, fährt er bereits fort.
"Hast du eine Ahnung, wie gefährlich das für dich ist?"

Verwirrt lege ich den Kopf schief. "Genauso gefährlich wie für dich."
"Sicherlich nicht."
Ash greift in seine Jackentasche, zieht ein Blatt Papier hervor und reicht es mir, genauso wie ich es ihm damals in Phantasia gegeben habe - bloß keine Berührung riskieren. Ich versuche mir meine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen, falte es auf und starre in eine gelungene Zeichnung. Von mir. Und darüber eine ordentliche Summe an Kopfgeld, wenn man mich lebend an ein Rathaus oder gar an den Palast bringt. Wohl gemerkt, lebend in Großbuchstaben.

"Das wusste ich nicht", bringe ich hervor. Dass Lucius nicht untätig herumsitzt und Däumchen dreht, dessen war ich mir bewusst, aber noch nie habe ich derartige Plakate in Meral gesehen. Ich könnte meinen, dass neben einer Gaststätte ein weiteres hängt, doch meine Augen sind zu schlecht, um es mit Gewissheit zu sagen.

"Jetzt weißt du es." Ash macht eine Kopfbewegung in Richtung der Häuser. "Geh nach Hause, Talia."
"Nein." Ich recke das Kinn hervor, werde mich heute sicherlich nicht mehr herumkommandieren lassen. "Ich wollte mit dir reden."
Gequält verzieht er das Gesicht, seine kalte Fassade bröckelt. "Mach doch einfach einmal, was man dir sagt."
"Hör du mir doch einfach zu!"

Überrascht verschränkt er die Arme vor der Brust, zeigt mir unverhohlen, dass er nur widerstrebend einwilligt. Dabei wissen wir beide, dass ich keine Gelegenheit dazu bekommen würde, wenn er nicht doch auch ein kleines Bisschen neugierig wäre. "Wenn du danach gehst, bitte."

Wie sehr habe ich ihn denn verletzt, dass er mich so von sich stößt? Ich öffne den Mund, überlege, wo ich ansetzen soll und zögere. Wo sind all die Worte hin, die ich mir zurecht gelegt habe? Wohin ist die Entschuldigung, die Erklärung, das Geständnis? Voller Skepsis neigt Ash den Kopf zur Seite. "Lass es gut sein."

In seinen Worten schwingt ein stummes Du weißt es nicht besser mit. Doch, ich weiß. Und ich werde sicherlich nicht wortlos zusehen, wie er sich umdreht und geht. Eilig fasse ich nach seiner Schulter, halte ihn zurück.
"Warte, bitte. Es tut mir leid."

InhumanityWhere stories live. Discover now