9 • Talia

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"Ich bevorzuge eine Dilogie. Charaktere länger zu kennen, ist doch viel schöner."

"Das stimmt." Ich lächele vorsichtig, kann Lady Blackwells Meinung nicht zustimmen. Wie oft habe ich bereits Mehrteiler gelesen und wurde bitter enttäuscht. Das ist mir die Vertrautheit mit den Charakteren nicht wert. "Dann kann ich Euch Der Schwur des Löwen und seinen Nachfolger empfehlen. Er reist zurück zu den Wurzeln des Dienstes von Magiern und enthält so manche Intrigen."

Lady Blackwell schmunzelt. "Du weißt einfach, was eine Dame anspricht, Talia."
Ich weiß, was Damen in ihrem Alter anspricht. Sie alle wollen ihrem faden Alltag entrinnen, wagen sich jedoch nicht in entfernte Welten, seien es Utopien oder Dystopien. Letztendlich greifen sie zu historischen Romanen. "Das ist meine Aufgabe."

Erst als sie zufrieden die Buchhandlung verlässt, die Dilogie in ihrem geflochtenen Korb, schaffe ich es wieder, die neuen Bücher einzuordnen. Die Unordnung auf dem Tisch zeugt von der Zeit, die mir der Besuch beim Glaser geraubt hat. Marvin hat sich darüber nicht beschwert - im Gegenteil, er war überrascht, dass das passende Maß sofort vorlag. Den Nachmittag verbrachte ich damit, mit klammen Fingern die neuen Bücher in kunstvoll verziertes Leder einzuschlagen, derweil Marvin sich darin übte, die Scheibe einzubauen.

Mittlerweile trotzt das Glas dem eisigen Wind des Herbstes, doch die Buchhandlung ist noch immer kühl. Marvin schlug zwar vor, den Kamin anzuzünden, doch ich meinte, das sei nicht nötig. Zu Feuer wahre ich vorerst lieber ein wenig Abstand. Nun klettere ich also in meiner über das Kleid geworfenen Strickjacke die knarzende Leiter hinauf und sortiere die Bücher in die bunt gefüllten Regale ein, derweil die Nacht hereinbricht. In den Häusern ringsherum flackern hier und dort erste Lichter auf.

Obwohl Marvin meinte, dass es nicht tragisch ist, sollte ich nicht alle Bücher in der Zeit einräumen können, so möchte ich ihm keine Belastung sein. Also knipse ich das schummrige Licht an und greife nach dem nächsten Buch.
"Kann ich dir helfen?"

Ich zucke zusammen, schlage mir den Arm an der Leiter an. Mit laut pochendem Herzen wirble ich auf der Stufe herum. Die Türglocken haben nicht geläutet - es kann sich nur um Einen handeln.

"Tut mir leid. Ich wollte dich nicht erschrecken." Simon fährt sich nervös durch seine hellbraunen Haare und bringt sie in Unordnung. "Keine gute Gewohnheit, ich weiß."

"Nein, es ist nur so fremd." Ich sollte mich mit dem Gedanken abfinden, dass mein Alltag nun Momente fasst, die sich nicht natürlich erklären lassen. Angefangen dabei, wie er es in die Buchhandlung geschafft hat ohne von den Glöckchen über dem Eingang verraten zu werden. Kann er sich etwa von einem Ort zum anderen zaubern? Das würde den Vorfall in der Gasse heute Morgen erklären.

Simon bietet mir seine Hand an, als ich das Buch verstaut habe und die Stufen hinab steige. Ich ignoriere sie getrost. Nur weil ich meine Magie nicht kontrollieren kann, bedeutet dies nicht, dass ich anderweilig überfordert bin. Vor allem nicht mit einer simplen Leiter. Mein Gewissen nagt augenblicklich an mir, als ich seinen entschuldigenden Blick bemerke. Vielleicht hat er es auch nur gut gemeint.

"Ist das ein Familiengeschäft?", fragt er stattdessen und betrachtet begeistert die mächtigen Regale.
"Von meinem Chef, ja. Seine Eltern haben es an ihn abgetreten, nachdem sie nach Payla zurückgekehrt sind."

Manchmal frage ich mich, ob Marvin mir diesen Job nur gab, weil er sich mit meiner Situation identifizieren kann. Dabei hatte er die Wahl: mit seinen Eltern zurück in die Heimat zu ziehen oder der Buchhandlung einen neuen Schwung zu verleihen.

Simons Blick wandert zu mir, als er die Bedeutung hinter meinen Worten erschließt. Die Tatsache, dass die Buchhandlung nicht meiner Familie gehört, macht es umso ungewöhnlicher, dass ich hier arbeite.

InhumanityWhere stories live. Discover now