27 • Talia

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Das Schlimme an Lucius ist, dass man glaubt ihn zu kennen und zu wissen, was einem bevorsteht, doch darin liegt der Irrtum. Niemand weiß, was er plant, was in seinem Kopf spukt, und genau das macht ihn zu dem gefährlichsten Menschen, dem ich je begegnet bin - und zu dem unmenschlichsten Menschen, dem ich je begegnet bin. Menschen zeichnen sich durch ihre Menschlichkeit aus, das dachte ich mein ganzes Leben lang. Mittlerweile frage ich mich, ob es so etwas wie Menschlichkeit überhaupt gibt. Vielleicht bin ich menschlicher als die, die sich Menschen nennen, dabei bin ich so weit davon entfernt wie noch nie. Die Magie in meinen Adern, meine vergangenen, skrupellosen Taten. Und dennoch, wenn ich Lucius' Maßnahmen über mich ergehen lasse, habe ich die Hoffnung verloren. Wie kann man so teilnahmslos sein? So gnadenlos? Wie kann er nachts schlafen, obwohl er weiß, was er duzenden Magiern zumutet? 

Ich weiß nicht mehr, wo oben und unten ist, ob Tag oder Nacht, rolle mich auf die Seite, kann meinen Körper nicht mehr spüren - vielleicht ist es besser so. Die vergangenen Stunden waren etwas, das ich so nicht habe kommen sehen - waren es denn Stunden oder hat es sich nur so furchtbar lang angefühlt?

Ich will mir die Decke überziehen, das Zittern mit Wärme ersticken, doch kann mich nicht mehr bewegen. Die zahlreichen Hiebe haben meinen Körper in Taubheit gerissen, die Unmengen an Johanniskraut tragen jedoch den größten Teil dazu bei. Irgendwann kam mir kein Schrei mehr über die Lippen, kein Keuchen, kein Flehen. Irgendwann lag ich nur noch dort, ließ es über mich ergehen und betete, dass es ein Ende haben sollte. Und irgendwann konnte ich nicht einmal mehr denken, um das Gebet zu formulieren. Ich lag dort und wartete darauf, dass er mir ein Ende setzen würde.

"Großartige Neuigkeiten, Engelchen!"
Ich wünschte mir, ich würde halluzinieren - wie sonst sollte ich mir Lucius' Stimme schönreden?
"Wir können dich schon morgen an die Grenze schicken. Dort bringt uns deine Magie mehr als hier."
Bedeutet das, dass ich weg von ihm bin? Das wäre mir Recht. Ich gebe mir alle Mühe, meine Lippen zu einer Frage zu bewegen, doch auch sie stehen schon längst nicht mehr in meiner Macht. Also schweige ich, lausche.

"Meine Kollegen vor Ort sind bereits informiert. Sie werden sich genauso gewissenhaft um dich kümmern, wie ich es getan habe."

Er schiebt mir eine Haarsträhne hinter das Ohr, betrachtet zufrieden sein Werk, das er so gewissenhaft erledigt hat. Was bringe ich ihnen aber in diesem Zustand? Bis das Johanniskraut vollständig abgeklungen ist und mir meine Magie wieder zur Verfügung steht, bin ich nutzlos. Zumal es mir bereits jetzt davor schaudert, wenn ich daran denke, was nur Kalians Wunde mit mir getan hat - der Tod, zum Greifen nah oder war es nicht mein Körper, der dem Tod zum Greifen nah war? Zu was sind weitaus mehr Verletzungen fähig?

"Davor kommt dir jedoch noch eine besondere Ehre zu." Er packt mich unter den Armen, hievt mich in die Höhe. Mein Körper wäre kraftlos in sich zusammengesackt, wären da nicht die stützenden Arme zweier Mädchen. Sie eilen Lucius zur Hilfe, richten mich auf. Ich will protestieren, doch über meine Lippen kommt nur ein unverständlicher Ton.

"Gut, dass ich schon einmal Vorarbeit für heute Nacht geleistet habe. So muss der König keine Angst vor dir haben, nicht wahr?"
Der König? Meine Ohren müssen sich verhört haben - oder meine Gedanken die Laute falsch verarbeitet haben. Spielen mir nun etwa schon meine Sinne einen Streich?
"Er möchte dich kennenlernen, bevor du an die Grenze kommst. Ein persönliches Gespräch nimmt er nur mit den wenigsten Magiern wahr."

Mir wird schlecht von dem Gedanken, dem Mann gegenüber stehen zu müssen, der in erster Linie dieses Leid verantwortet. Umso schlimmer, dass Lucius es als etwas ganz Besonderes hervorhebt. Seine Hand wandert zu meinem Kinn, quetscht es, doch der Schmerz bleibt aus. "Ich hoffe, du weißt dich nun zu benehmen. Wir sehen uns auf dem Winterball, Engelchen."

Mit einem Nicken überlässt er mich den beiden Mädchen, die sich sofort schweigend an die Arbeit machen. Sie geleiten mich in das Bad, lassen dampfend heißes Wasser ein. Als die Brünette mir aus den Schuhen helfen will, trifft es mich wie ein Schlag. Der Zeitungsartikel. Wenn sie ihn finden, bin ich geliefert. Panisch entreiße ich ihr mein Bein, stoße auf einen verwunderten Blick.
"Möchtest du dich lieber selbst waschen?"

Nur zu gerne würde ich antworten, doch ich kann nicht. Selbst das Nicken scheint zu anstrengend, doch anderes bleibt mir zur Kommunikation nicht übrig.
Die beiden Mädchen wechseln einen unsicheren Blick, sind sich nicht sicher, ob sie sich damit Lucius' Auftrag widersetzen würden.
"Gut. Wir warten in deinem Zimmer." Ich mühe mir noch ein Nicken ab. Sie legt besorgt den Kopf schief. "Falls etwas sein sollte, mach dich einfach bemerkbar."

Kaum fällt die Tür hinter ihr zu, beuge ich mich zu meinen Schuhen. Ein Keuchen entfährt mir, als mein mit Johanniskraut vollgepumpter Magen rebelliert, sich schmerzlich zusammenkrampft. Das Stück Papier schiebe ich unter die Kommode, auf der das Waschbecken platziert wurde. Dort werden die Mädchen den Artikel nicht finden, aber ich werde ihn problemlos wieder hervorholen können, sobald ich wieder hier bin. Vielleicht - und darauf hoffe ich - erübrigt sich heute Nacht aber auch eine Gelegenheit, die mir eine Flucht erlaubt. Vorsichtshalber präge ich mir nochmals das Datum und den im Artikel genannten Ort ein, dann quäle ich mich in das Wasser. Auch wenn ich lange brauche, gedulden sich die Mädchen, lassen mir die Zeit, die ich brauche, bis ich mich in meinem Zustand gewaschen und abgetrocknet habe. Barfuß kehre ich zu den beiden zurück, das Handtuch eng um meinen Körper geschlungen. Die Brünette lächelt mich an, beinahe stolz, dass ich mich auf meinen Beinen halten kann. Ich komme nicht darum, dass sie mir sympathisch wird, ein Lichtblick in diesem Elend.

"Das hat Lucius für dich ausgesucht."
Sie deutet auf ein bodenlanges Kleid und die halsbrecherisch hohen Schuhe daneben. Soll ich dem König regelrecht vor die Füße stolpern, um meine Unterwürfigkeit zu zeigen? Das nachtblaue Kleid hingegen ist zu freizügig für meinen Geschmack, ein zu gewagter Ausschnitt, ein zu hoher Schlitz am linken Bein, zumal meine Narbe für alle perfekt zu sehen sein wird - deswegen hat Lucius dieses gewählt.
Die Brünette hilft mir in das Kleid, derweil die andere hilflos das Handtuch hält, mir beiläufig das Armband über das Handgelenk zieht.
"Nein!"
Ich bin überrascht von dem krächzenden Ton, der plötzlich aus meinem Hals dringt, als sie es auf den Tisch legt. Nicht das Armband. Sie dürfen mir alles wegnehmen, nur nicht das Armband, das mir mein Vater geschenkt hatte.
"Lucius' Anweisung."

"Aber-" Husten bahnt sich aus meinem Hals, bringt meinen gesamten Körper zum Beben.
"Tut uns leid", mischt sich die Brünette ein. Sie dreht mich zum Spiegel um, schenkt mir ein Lächeln. "Wie ein Engel - Lucius hat Recht."
Ich starre mich selbst an, erkenne mich kaum wieder. Zu mager, zu erschöpft, zu fremd in solch einem edlen Kleid. Ich starre mich selbst an und beschließe, dass ich hier weg muss, komme was wolle. Auch wenn es bedeutet, das Armband zurückzulassen und einen Teil von mir zu verlieren. Habe ich das denn nicht schon längst?

InhumanityWhere stories live. Discover now