44 • Talia

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Sira ist eine Stadt voller Gegensätze. Mehrstöckige, scheinbar bis zu den Wolken reichende Gebäude, gespalten von viel zu schmalen Gassen, Reichtum im Herzen und Armut nur eine Gasse weiter, Licht und Leben gegen Finsternis und Verfall. Es ist grausam anzusehen und noch grausamer, sich dem unweigerlich zu fügen. Ich habe mir eine Bleibe in einem ruhigen Gasthof nah am Hafen gesucht. Von meinem kleinen Zimmer aus kann ich über das Dach des Wohnhauses davor auf das Meer blicken, mir zumindest ein wenig Heimat in die Kammer holen. Sonst wirkt sie trist, heruntergekommen, kalt.

Aber ich möchte mich nicht beklagen - zwar hat Luan mir einige Taler gegeben, um mir die ersten Tage ein angenehmes Zimmer aussuchen zu können, doch da ich nicht weiß, wie schnell ich Arbeit finden werde, lebe ich lieber sparsam. Für die Stute habe ich bei einem Bauer am Stadtrand ein paar Taler aushandeln können, aber nachdem ich seine viel zu dürren Kinder bei dem noch mageren Vieh entdeckt hatte, ließ ich mich mit einem halbwegs fairen Preis zufrieden stellen. Immerhin hatten Luan und ich das Pferd geklaut - mehr hätte ich auch moralisch nicht vertreten können.

Obwohl die Sonne hinter der Wolkendecke versteckt bleibt und stattdessen ununterbrochen große Schneeflocken vom Himmel wirbeln, bin ich mir sicher, dass der Tag allmählich zum Abschied winkt. Trotz meiner Müdigkeit und der Tageszeit werfe ich mir meinen Umhang über, nachdem ich meine Klamotten im Schrank verstaut habe, schließe das Zimmer hinter mir ab und hoffe, noch heute fündig zu werden.

Vielleicht kann ich es in einem Gasthof probieren - aber eine Arbeit dort würde Luan nicht befürworten. Alkohol, Männer, ungenierte Witze. Eine Bäckerei wohl eher. Am liebsten wäre mir persönlich eine Buchhandlung, aber bislang ist mir keine untergekommen und meine Suche nach einer Bleibe fiel auch nicht allzu kurz aus. Wenig zielstrebig trete ich auf die Gasse, ziehe mir die Kapuze über den Kopf und steuere den Hafen an.

Die Promenade ist gespickt mit Ständen der Händler, die eine Farbenpracht an Obst aus dem sonnigeren Süden, frisch gefangene Fische oder würzig duftenden Käse anpreisen. Ich schlängele mich durch das Treiben, fange mir mehr als einen Ellenbogen in die Seite und zahlreiche Tritte auf meine Schuhe ein. Eine Glocke am Wachturm verkündet das Ende der Geschäfte für heute, löst das Gedränge langsam auf. Ich blicke auf das ruhige Meer, die sich hin und her wiegenden Boote und vermisse Luan. Meral. Das Gefühl, Zuhause zu sein. Empört über meine Antriebslosigkeit kehre ich dem Meer den Rücken, stolpere ungebremst in eine jüngere Frau hinein.

"Woah."
Ihre Hände erwischen mich an der Schulter, bevor sie rücklings auf die Pflastersteine knallen kann.
"Verzeihung." Ich ziehe sie in die Vertikale, weg von dem Mann, den sie beinahe mit sich gerissen hätte. "Ich habe wohl keine Augen im Kopf."
"Ach Quatsch. Strahlend blaue sogar." Sie lächelt mir liebevoll zu, entblößt einen abgebrochenen Schneidezahn. "Das kann doch jedem passieren."
Ich erwidere das Lächeln, will mich bereits erkunden, ob ich sie verletzt habe, da spricht sie bereits weiter. "Du kommst nicht aus Sira?"

Überrascht weiten sich meine Augen. "Ist das so offensichtlich?"
"Nun ja, dein fehlender Akzent verrät dich." Sie beugt sich zu mir, als wolle sie nicht, dass die Anderen unserem Gespräch lauschen können. "Die Menschen hier schleifen die Wörter zu einem Brei zusammen. Hat mit ihrer Mentalität zu tun - anders als Sonelem zu sein. Dass anders nicht unbedingt besser ist, verraten wir ihnen lieber nicht."

"Du bist also auch nicht von hier?"
Eilig schüttelt sie den Kopf, lässt ihren streng geflochtenen Zopf hin und her wippen. "Himmel, nein! Sira ist hässlich, die Menschen noch grässlicher. Sie schimpfen nur, den lieben langen Tag. Ich bin nur vorübergehend hier. Meine Großmutter besuchen. Aber sag - was verschlägt dich hierher?" Ihre Augen spicken an mir vorbei, einmal links, dann rechts. "Alleine?"

"Ich besuche meine Mutter", antworte ich sofort, hasse den Geschmack der Lüge, aber noch mehr das meine Mutter.
Dennoch kann ich ihr schlecht die Wahrheit vortragen - dann könnte ich mich gleich auf ein Pferd setzen und auf den Weg zum Palast machen.

"Oh." Ihr entgleitet das Lächeln. "Ich wollte sie wirklich nicht beleidigen, also damit, dass die Menschen hier...sagen wir, gewöhnungsbedürftig sind."
Ihr Kopf gleicht einer reifen Tomate, so sehr schämt sie sich für ihre Direktheit. Eilig versuche ich dem entgegenzuwirken. "Nicht tragisch. Ausnahmen bestätigen die Regel, so sagt man doch."
In der Tat ist meine Mutter eine Ausnahme - nur leider weniger in dem Sinne wie ich es mir für Luan und meinen Vater gewünscht hätte.

Ihre Wangen glühen noch immer, aber wenigstens zucken ihre Mundwinkel. "Das meine ich - die Anderen hier hätten mich gleich einmal einen Kopf kürzer gemacht." Sie bietet mir ihre Hand an. "Ich bin übrigens Lorena."
"Liana", stelle ich mich vor, hätte mich beinahe verraten. Wenigstens einmal ist mein Kopf jedoch schneller als meine Zunge, nachdem er schon bei meinem Verstand auf ganzer Linie versagt hat.
"Wenn du willst, kann ich dich ein wenig herumführen", bietet sie mir an. "Ich weiß, wie erschlagen man sich fühlt, wenn man das erste Mal hier ist."

Luans Worte plagen mich als würde er mir soeben prüfend über die Schulter schauen. Kontakt, meinetwegen, aber nicht mehr als nötig. Hast du das verstanden, Lia? Das Risiko steigt und du machst es dir am Ende nur schwerer, Abschied zu nehmen.
Er hat Recht. Wie immer.

"Danke", weise ich ab, deute wahllos auf die schäbigen Wohnhäuser hinter ihr. "Aber ich sollte gehen."
"Nun gut, wenn du genug von Sira hast, kannst du mich gerne besuchen kommen. Ich arbeite in einer Bar gleich hier um die Ecke. Du erkennst sie an den vielen Lichtern. Und an den normalen Menschen."

Ich nicke dankend, hoffe, nicht auf ihr Angebot zurückgreifen zu müssen. Aber wer weiß, vielleicht habe ich früher als gedacht genug von diesem Ort. Vielleicht werde ich bald mehr als froh sein, sie umgerannt zu haben.
"Manchmal braucht man nur ein offenes Ohr und eine Flasche Sorgenbrecher und alles ist wieder gut."

Ash, meine Magie, Angst und Einsamkeit - nichts ist gut, aber ich werde damit sicherlich nicht herausrücken. Zumal mein erstes und letztes Mal Alkohol nur in Übelkeit endete. Und im größten Fehler aller Zeiten.
"Apropos Bar, ich sollte dann auch gehen." Sie drückt kurz meine Schulter, wendet sich ab. "War schön dich kennenzulernen, Liana."
Bevor ich etwas erwidern kann, ist sie davon, taucht mit ihrer selbst mich nicht überragenden Körpergröße in der übrig gebliebenen Masse unter.

Ich lasse das Meer hinter mir und folge nur kurz der Promande, bevor ich mich zwischen den Gassen hindurch in das Herzens Siras aufmache. Eine Buchhandlung finde ich nirgendwo, nur Metzgereien, Bäckereien, eine Schule mit am Fenster verzierten Malereien, einen Schneider sowie reichlich Gasthöfe und Spelunken für die Händler aus ganz Sonelem. Auf Nachfrage jedoch konnte mir eine ältere Dame eine wild durcheinander gewürfelte Wegbeschreibung zu einer Bibliothek liefern.

Nach zweimaligem Verlaufen blicke ich auf die kunterbunt gestaltete Fassade des Gebäudes neben dem trist gestalteten Pfandhaus - wieder einmal einer dieser Gegensätze. Obwohl bereits die Dämmerung eingebrochen ist, schimmert hier und da ein Lichtstrahl zwischen den mit Büchern üppig gefüllten Regalen hindurch, verkündet, dass noch jemand dort ist. Also raffe ich mich zusammen, erhasche neugierig einen Blick auf das vergilbte Plakat Bücherwurm? Leseratte? Wir suchen dich!, lege mir passende Worte bereit - hoffentlich verplappere ich mich bloß nicht bereits bei meinem Namen - und trete ein in den Duft aus Vanille, Mandel und Kaffee. Ich lächele. Das fühlt sich schon viel besser an, das fühlt sich nach dem Teil meiner Vergangenheit an, an den ich mich gerne zurückerinnere.

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