68 • Talia

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"Selbst der Tod fürchtet euch Beide, nicht wahr?"

Will packt Ash am Arm und stemmt ihn in die Höhe.
"Langsam", ermahne ich ihn, wohl eher beide. Luan hilft mir auf und lässt mich erst los, als ich Halt gefunden habe. Bis meine Knie nicht mehr voller Ungläubigkeit zittern, werden jedoch noch etliche Minuten verstreichen.

Ash fuchtelt an seinem Shirt herum und entblößt einen völlig unversehrten Oberkörper. Nur das noch flüssige Blut, das sich den Weg über seine Bauchmuskeln bahnt, zeugt von der Wunde, die dort sein müsste. Genau die, welche auf Runa projiziert wurde. Ich schüttele den Kopf. Das kann nicht sein. Das ist nur wieder eine von Wills Illusionen.

"Wirklich? Hier?", zieht Will ihn auf und gestikuliert zwischen ihm und mir hin und her. Doch mir ist noch nicht nach Humor zumute.

"Was machst du, Will?", wispere ich fassungslos. Warum täuscht er mir vor, dass Ash lebt, wenn ich gerade dabei zusehen musste, wie das Leben aus ihm entfloh? Warum ist er so grausam? Weil ich ihn darum gebeten habe, Kayas Illusion aufzurichten? Ist das seine Strafe für mich?

"Ich?" Verblüfft zieht Will eine Augenbraue in die Höhe. "Ich kann nichts dafür, dass nicht einmal die Hölle ihn haben will, Feuerteufel."

Ashs Lippen spielen mit einem vorsichtigen Lächeln. "Du musst mich wohl noch ein wenig aushalten, Talia."

Obwohl mein Herz den Worten glauben will, kann ich es nicht. Hilflos sinke ich neben Runa nieder, drehe ihren Kopf in meine Richtung und hoffe zu verstehen, was gerade vorgefallen ist. Ihre gläsernen Augen schielen an mir vorbei und ich weiß, Ash steht direkt hinter mir.
"Was hast du getan, Runa?" Seine Stimme ist kühl, nichts als reine Distanz, und jagt mir einen Schauer über den Rücken.

"Das..." Sie keucht, schnappt hektisch nach Luft. Ich drücke meine Finger auf ihre Wunde, versuche die Blutung zu stoppen und weiß zugleich, dass jegliche Bemühungen vergebens sind, weil es genauso wenig bei Ash half. Simon hat zu tief zugestochen. Auch wenn ich mir nicht erklären kann, wie oder warum Runa diesen Tod auf sich nimmt. "Hättest du mir nur mal zugehört", wirft sie ihm vor.

Er verengt die Augen, wiederholt seine Frage mit deutlicher Ungeduld. Natürlich - ihre Leben scheinen miteinander verwoben zu sein und vielleicht ist es nur eine Frage der Zeit, bis dies auch sein Ende bedeutet. Blanke Angst greift nach meiner Kehle und schlingt sich fest um sie.

"Ich habe..." Sie krümmt sich vor Schmerzen, lässt einen markerschütternden Schrei entfahren. Dieser Anblick setzt mir mehr zu, als ich dachte. Ich sollte sie für die Kluft hassen, die sie zwischen Ash und mir aufreißen wollte, und doch verspüre ich Mitleid mit ihr. Sie ist alleine. Ich halte im Einzug des Todes ihre Hand und das, obwohl wir definitiv keine Freundinnen sind, aber sonst ist da niemand. Nicht einmal Ash. Er hat seinen Schlussstrich gezogen, mehr als deutlich.

"Der Tee...war ein Zauber. Mit meinem Blut. Wenn..." Sie presst die Augen zusammen, zerquetscht mir meine Finger, bis ein Knochen knackt, doch ich halte Ash zurück, als er mir aus der Klemme helfen will. Sie stirbt. Keiner sollte alleine sein, wenn das Leben zu Ende geht. Nicht einmal sie. "...ich tödlich verletzt werde, stirbst du, ..."

"Und umgekehrt", schlussfolgert Ash emotionslos. "Du hast wohl nicht damit gerechnet, dass ich dir dein Leben kosten werde."
Runa muss Lucius so sehr gefürchtet haben, dass sie ihre Leben aneinander kettete. Sie war sich ihres Todes sicher und wollte überleben, um jeden Preis. Welches Leben hätte ihr da gelegener kommen können als das eines Mannes, der dank seiner Magie unbesiegbar scheint?

Sie hustet, verschluckt sich und röchelt um den letzten Sauerstoff, der sich in ihre Lungenflügel quetscht. "Ich wollte nur sicher sein."
"Du falsche Schlange", faucht Ash.

Es ist das letzte, was sie zu hören bekommt. Ihre Augen starren mich an, doch geradewegs durch mich hindurch, kaum schwindet die Kraft in ihren Fingern. Behutsam lockere ich den Griff, schließe ihre Augen, falte die Hände unter ihrer Wunde zusammen und rutsche zurück. Ash zieht mich an sich und schlingt seine Arme um meine Mitte, als wolle er mich nie wieder hergeben.

"Wir sind...irgendwo am Eingang", höre ich Will sagen, dann seine und Luans Schritte, die erst über den Kies knirschen und anschließend im Flur verhallen. Für einen Moment ist da nur unser Atem. Seine Brust an meinem Rücken, die sich hebt und senkt und den Takt meines Herzens vorgibt. Ich könnte dieser Melodie bis zur Morgenröte lauschen.

"Es tut mir leid", flüstere ich. Simon und mein misslungener Plan. Kayas und Runas Tod. Zwei Magierinnen, die lange in seinem Leben waren, bevor ich in seins stolperte - gut, wenn man es genau nimmt, ist er in meins eingetreten. All die Schmerzen der vergangen Stunden, jedes grausame Wort und jede noch ätzendere Berührung. Ich wünschte, ich hätte ihm sofort die Wahrheit gestehen können, doch solange die Möglichkeit bestand, dass Simon noch immer hier ist, wollte ich kein Risiko eingehen.

Seit dem Traum mit Luan und meiner Mutter, dem Fetzen seiner Vergangenheit, wusste ich, dass Runa sich mein Vertrauen nicht verdient hatte. Dass diese Kratzspuren nicht durch Zweisamkeit, nein, nicht einmal von Ash stammen mussten. Zudem hatte Kaya meine Erinnerungen manipuliert, nicht Runas. Weil Ash mich liebt, nicht sie. Kaya musste es am besten wissen - Magie trügt nicht.

Ash neigt seinen Kopf und streift mit seinen Lippen meinen Hals. So vorsichtig, als würde er um Erlaubnis bitten. Die Gänsehaut, die sich auf meinen Armen ausbreitet, und jedes Härchen, das sich mir im Nacken aufstellt, sind Antwort genug.

"Was habe ich dir das letzte Mal über deine Entschuldigungen gesagt?"
Ein Lächeln schleicht sich auf meinen Mund. Es scheint ewig her zu sein und doch liegen zwischen dem jetzigen Moment und der Erinnerung nur zwei Sonnenaufgänge. Verrückt, wie viel in den letzten Stunden passiert ist. Das hatte keiner auch nur ansatzweise ahnen können. "Dass ich mich zu viel entschuldige."

"Das gilt auch jetzt." Seine Hände wandern über meinen Unterarm, suchen nach den Perlen meines Armbandes und ich verfolge mit hämmernden Herzen, wie er meine Finger von ihnen löst. Die Botschaft dahinter ist unmissverständlich: es gibt keinen Grund nervös zu sein. Ich verzeihe dir. Ein erleichtertes Schluchzen entweicht meinen Lippen - ist das alles nur ein Traum?

"Obwohl ich nicht gutheiße, zu welchen Mitteln du gegriffen hast, so zählt dein Gedanke."
Ich schlucke schwer. "Aber es ändert nichts daran, dass ich doch für einen Moment an dir gezweifelt habe."

Ash löst seine Lippen von meinem Hals und weckt in mir das Bedürfnis, nach ihm zu greifen, um sie wieder auf meine Haut zurückzuführen. Am liebsten hätte ich diesen Gedanken hochkant aus meinem Kopf geworfen, weil ich so verflucht süchtig nach ihm bin, dass es schon schmerzt, zweifelsohne die schönste Art von Schmerz, doch ich kann und will mich diesem Gefühl nicht entziehen.

Anstatt meinen Hals zu liebkosen, haucht er mir einen Kuss auf die Schläfe. "Wir sind die Summe aller Ereignisse unserer Vergangenheit, Talia. Ich kann nicht ändern, dass deine Mutter dein Vertrauen von Grund auf beschädigte oder dass dein erster Eindruck von mir eine absolute Katastrophe war, aber ich kann alles daran setzen, um dir keinen weiteren Grund zu geben, an mir zu zweifeln. An uns zu zweifeln."

Er stockt für einen Moment und ich weiß, er spielt mit dem Gedanken, nicht auszusprechen, was ihm auf der Zunge brennt, doch dann fährt er fort. Weil es so unkompliziert zwischen uns sein kann. "Aber verlange mir bitte nicht noch einmal eine Nahtoderfahrung ab, damit ich dein Liebesgeständnis zu hören bekomme."

Ich lache auf. Obwohl Runas Leiche nur ein Stück von uns entfernt liegt. Obwohl Simon in den Tiefen Sonelems lauert. Obwohl es so viele Gründe dafür gäbe, nicht zu lachen, aber es tut so gut. Als könnte Ash mir mit ein paar Worten den ganzen Ballast von den Schultern streifen.

Ich drehe mich in seinem Griff um, umrahme sein Gesicht mit meinen Händen und sehe das Funkeln in seinen Iriden, weil er glaubt zu wissen, was jetzt kommt. Ein Grinsen huscht über meine Lippen. Nicht mit mir. "Ein wenig Einsatz verlange ich schon dafür."

Überrascht öffnet er den Mund. Das waren nicht die Worte, die er hören wollte. Doch bevor er protestieren kann, versenke ich meine Lippen auf seinen. Er hat mehr als genug Einsatz gezeigt - verflucht, er wollte mit seinem Leben zahlen. Jetzt ist meine Zeit gekommen, um über den Schatten der Vergangenheit zu springen.

InhumanityWhere stories live. Discover now