51 • Talia

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Es schlägt ein Uhr, als ich den Schlüssel der Bibliothek unter der Fußmatte verstecke und eine Ecke umknicke, um einen Hinweis zu geben. Würde es nur um Janek gehen, hätte ich den Schlüssel anderweitig versteckt, doch er kann froh sein, dass ich seine Großmutter an nur einem Tag ins Herz geschlossen habe.

Der kürzeste Weg aus der Stadt führt mich von der Bibliothek aus geradewegs durch ein Wohnviertel, von dem mir Luan wohl dringend abgeraten hätte. Die meisten Häuser sind bereits dunkel, doch vor einer verwahrlosten Gaststätte tummeln sich dutzende Männer von jung bis alt. Im Schatten des Lagerfeuers erahne ich eine Frau, die sich auf einem Mann räkelt, den Kopf in den Nacken wirft. Ich wende den Blick ab, hoffe, dass sie einander mit ihren Witzen und dem Alkohol ablenken, sodass ich unversehrt an der Meute vorbeikomme. Dennoch prickelt die Energie in meinen Unterarmen, breitet sich bis in die Fingerspitzen aus und wappnet sich für jede Gefahr.

"Hast du dich verlaufen?"
Ich zucke zusammen, schrecke zur Seite. Um aller Götter Willen, ihn habe ich nicht gesehen, so tief hatte er sich in den Schatten eines Hauses zurückgezogen.

"Nein", gebe ich von mir, versuche so viel Mut in meine Stimme zu legen wie nur möglich. Er ist groß, kommt beinahe an Ashs Größe heran, doch sein Körper ist breiter, bedrohlich massig. Sein Gesicht ist mit der Finsternis verschmolzen, doch ich vermute, dass er vielleicht so alt ist wie Luan. "Danke."

"Was treibt dich dann mitten in der Nacht hierher?"
Widerwillig verlangsame ich mein Tempo, kann nicht einfach getrost weiterlaufen. Das würde einer Flucht gleichen, ihn nur noch mehr reizen.

"Nur mein Weg nach Hause."
Er stößt sich von der Tür ab, passt sich meinem Tempo an und doch gelingt es ihm, aus seinem Gesicht weiterhin ein Rätsel zu machen. Vielleicht hat er eine Lücke zwischen den Zähnen, vielleicht eine Narbe an der Stirn, vielleicht auch nichts davon. "Mein Bruder wartet bereits", schiebe ich hinterher, habe gehört, dass dies manche abschreckt. Dass da jemand ist, der wartet. Dass man gesucht werden würde. Dass nichts einfach ungeklärt unter den Tisch fallen würde.

"Dein Bruder, so so."
Vor uns kreuzt ein kleiner Schatten die Gasse - Maus oder Ratte? Auch egal, es widert mich genauso an, wie sein Atem in meinem Nacken, als er mir dicht auf Schritt und Tritt folgt. "Ja, mein Bruder."
"Wo wohnt ihr denn? Vielleicht kann ich dich-"
"Hier bist du!"

Wie aus dem Nichts legt sich ein Arm um meine Schulter, hätte mich zusammenzucken lassen, wäre da nicht Simons vertraute Stimme.
"Ich habe mir Sorgen gemacht."

Ehe ich ihm antworten kann, lässt sich der Mann zurückfallen, taucht in einer Seitengasse unter, als wäre er nie hier gewesen. Mein rasendes Herz und Simons skeptischer Blick nach hinten beweisen dennoch anderes.

Sein Kiefer mahlt und offenbart mir, dass er dem Mann nur zu gerne unschöne Worte hinterher rufen würde, doch er unterlässt es. Diese gefährliche Aufdringlichkeit lässt sich nicht durch Worte zertrümmern. "Alles gut?"

Ein zaghaftes Nicken, eine kurze Windung aus seinem Griff. "Was machst du hier?"
Ich hatte Torin nicht gesagt, wohin mein Weg führt, umso merkwürdiger ist es, dass er hier mitten in der Nacht in Sira steht. "Torin hatte mich geweckt, kaum warst du gegangen. Er hat sich Sorgen gemacht. Zurecht."

"Mir geht es gut", quetsche ich hervor, schiebe noch eine Beteuerung hinterher, da ich mir selbst die Lüge nicht abkaufen würde. "Wirklich."
"Was ist dann das?"
Er deutet auf seinen Hals, dort, wo Lorena mich beinahe um mein Leben gebracht hätte.

"Eine kleine Auseinandersetzung, nichts weiter."
"Aha." Er reckt den Kopf in die Höhe, zeigt mir rundheraus sein Misstrauen. Ich werde ihm aber weder auftischen, dass ich beinahe Lorena verbrannt hätte, noch, dass sich meine eigenen Erinnerungen widersprechen und mich zur Verwirrung auf zwei Beinen formen. "Komm, lass uns gehen."

InhumanityWo Geschichten leben. Entdecke jetzt