24 • Talia

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Ich habe noch nie Lumien gesehen. Natürlich nicht - in der Kälte des Nordens haben sie keine Chance, erzittern und erfrieren kläglich. Umso erstaunter bin ich, als ich den Raum betrete, die willkommenheißende Wärme ihres Strahlens mich regelrecht in den Bann zieht. Ehrfürchtig streiche ich über ein Blatt, spüre den Flaum an meinen Fingern. Meine Gedanken könnten sich stundenlang ihren Erholungssegen an dieser Weiche und dem Leuchten abholen, doch dann würde ich nur Gefahr laufen, entdeckt zu werden. Ich hatte bereits Glück, zu viel. Erst vor wenigen Augenblicken hat mir die Schusseligkeit eines Wachen meine Mission gerettet, oder zumindest nicht ruiniert. Zugute kam mir auch schon die Kleidung der Zimmermädchen, welche ich sorgfältig gestapelt in einer kleinen Kammer neben zahlreichen Uniformen der Wachen gefunden habe. Noch bin ich aber nicht an meinem Ziel.

Eilig durchschreite ich den prunkvollen Raum, sauge mit meinen Augen das Leuchten der Lumien, die polierten Kronleuchter, den deckenhohen Spiegel und die Spinne, die sich auf einer vollständig entfalteten Lumie eingerichtet hat, auf. Leise öffne ich die gegenüberliegende Türe, spähe in den Flur. Keine Stimmen, keine Schritte, schon tapse ich weiter. Diesen Raum zu finden, war mehr Glück als alles Andere, doch ab hier weiß ich genaustens, wie ich zu den Akten finde. Einmal nach links, dann geradeaus und -

"He, warte!"
Ich erstarre, weiß nicht, ob ich die Flucht ergreifen sollte. So knapp vor meinem Ziel kann ich nicht scheitern - es geht um Kaya, indirekt um Luan. Vorsichtig wage ich einen Blick über die Schulter, starre in ein fremdes Gesicht. Unwillkürlich schießt mein Puls in die Höhe. Feind oder Freund? Gibt es hier überhaupt so etwas wie Freunde? Schaut hier nicht jeder nur nach sich, suhlt sich in den Schmerzen Anderer, um sich selbst besser zu fühlen? Um Macht zu haben?

Das Mädchen kommt schnurstracks auf mich zu, mustert mich niederträchtig einmal von Kopf bis Fuß. Sie sieht mich als Zimmermädchen, nichts weiter. Wie dieser weiße Fetzen trügen kann! Als wäre es unsere Kleidung, die uns definiert. Mir mag es gerade Recht sein - lieber als Zimmermädchen, denn als Magierin wahrgenommen werden.
"Dein Nichtsnutz an Kollegin hat den hier vergessen."

Sie drückt mir einen Staubwedel in die Hand, dreht sich auf ihren hohen Schuhen um und versucht mit aller Mühe das Gleichgewicht zu behalten, derweil sie ihr langes Haar über die Schulter wirft. Ich verdrehe die Augen, belasse es jedoch dabei. Sie ist meine Zeit nicht wert. Um die nächste Ecke, dann habe ich den Raum endlich erreicht. Was, wenn ich dort nicht auf die Antwort stoße, die ich mir sehnlichst wünsche? Was, wenn bei Kaya nicht nur ein Geburts- sondern auch ein Todesdatum vermerkt ist? Was dann - Simon oder Luan? Ist das überhaupt eine Wahl? Könnte ich wirklich ein Leben für ein anderes hergeben? Ich schüttele den Kopf, um den Gedanken aus mir zu vertreiben. Noch ist nichts verloren, noch regiert die Hoffnung.

Die Tür ist verschlossen. Wundert es mich wirklich? Ich lehne den Staubwedel gegen die Wand, probiere es vergebens mit dem Schlüssel zu meinem Zimmer. Dann sammele ich die Energie in meinen Händen an, bevor ich das Schloss zum Glühen bringe. Der Riegel verformt sich, gibt nach. Kritisch betrachte ich mein Werk. Es ist nicht zu verleugnen, dass ich mich daran zu schaffen gemacht habe. Kalian, der Mann, nun das Türschloss - heute summieren sich die Verstöße zu einer Masse an Strafen, die ich mir lieber nicht ausmale.

Der Raum ist um einiges größer, als ich hätte erahnen können. Rustikale Regale empfangen mich von jeder Seite, drücken auf mich ein wie die stickige Luft. Kein Fenster, keine Lichtquelle außer den kleinen Lampen vor jeder Reihe an den Wandregalen. Die Tür lässt sich nicht mehr vollständig verschließen, daher sollte ich leise sein. Fasziniert betrachte ich die Fülle an Akten vor mir, fühle mich für einen Moment in Phantasia zurückversetzt. Dort hätte ich einen deutlichen Vorteil - ich wüsste, wo ich etwas finde.

Hier stehe ich jedoch, weiß nicht, wo ich beginnen soll. Wahllos greife ich nach einer Akte, schlage sie auf. Faye Bellara. Ein kleines Mädchen, kaum älter als Aja gemäß der Zeichnung, die angeheftet wurde. Die nächste Akte ist um einiges gefüllter, ein noch jüngeres Kind. Theo Belorso. Sie sortieren also nach Familiennamen. Wenigstens kommt mir nun Sonelems Drang nach einem strikten System zugute. Schnell verräume ich die beiden Mappen wieder, widme mich einem anderen Regal. Normesis. Zu weit. Makensy. Auch wieder nicht. Meine Finger blättern durch eine Mappe nach der nächsten, grenzen das Feld stets weiter ein. Monroe. Samira Monroe. Wie viele mit diesem Nachnamen wird es wohl geben? Die Mappe davor ist erneut praller, die Zeichnung rutscht heraus und segelt zu Boden. Ich muss sie noch nicht einmal öffnen, entnehme bereits den hohen Wangenknochen, den geschwungenen Lippen, dass sie Ashs weibliches Ebenbild ist. Wer auch immer die Zeichnungen anfertigt, ist begnadet, weiß, wie ein Porträt aussehen muss, damit es nicht nur Striche auf einem Blatt Papier sind.

Im Gegensatz zu den anderen Mappen offenbart sich mir hier jedoch nicht augenblicklich eine Übersicht über die wichtigsten Daten der Person. Ich hefte das Bild vorne an, blicke auf zahlreiche Zeitungsartikel. Der oberste ist nur wenige Wochen alt, eine Stelle umkringelt. Ein unerklärliches Wunder, Seelenwanderin, Mensch oder Magierin? Ich überfliege die Zeilen, nehme mir nicht die Zeit sie ausführlich zu lesen. Die anderen Artikel sind mal weniger markiert, mal mehr, stammen aus verschiedenen Regionen Sonelems. Bedeutet dies also, dass Lucius versucht, sie ausfindig zu machen? Dass er jede Tageszeitung durchwüstet in der Hoffnung, ein weiteres Zeichen von ihr zu finden? Hat sie es also wirklich lebendig aus diesem Palast geschafft?

Ich blättere weiter, bis ich mehr Informationen über sie erfahre. Kaya Monroe. Zwanzig Jahre, gefunden in Alaris, Zwilling von Ashton Monroe. Kurz stolpere ich über seinen Namen, dann huscht mein Blick weiter, verharrt auf den Angaben zu ihrer Magie. Emotionswahrnehmung, Emotionsmanipulation, Erinnerungsmanipulation. Sie scheint der perfekte Gegenpol zu Ash zu sein, wenn dieser seine Emotionen mal nicht unter Kontrolle haben sollte. Liegt das etwa daran, dass sie Zwillinge sind oder ist dies reiner Zufall?

Die weiteren Angaben überspringe ich, suche stattdessen gezielt nach dem, was ich brauche. Dienstbeginn, zuständiger Berater, vergangene Einsätze - endlich. Dort wo jedoch ihr aktueller Einsatz vermerkt werden müsste, ist nur Leere. Verwirrt wende ich das Blatt, doch offenbaren sich mir keine weiteren Vermerke. Ich blättere zurück, suche den ältesten Artikel heraus. Er ist beinahe zwei Jahre alt, berichtet über ein Mädchen, das seelische Schmerzen heilen kann. Emotionsmanipulation - das muss sie sein.

Zwei Jahre. Sie ist bereits zwei Jahre verschwunden, vor langer Zeit aus diesem Palast entkommen. Ich schüttele den Kopf. Das kann nicht sein. Warum sollte sie sich komplett von Ash oder Simon abschneiden, die beiden so lange Zeit im Unwissen wahren?

Der nächste Artikel ist nur wenige Wochen älter, stammt aus der selben Region. Danach folgt acht Monate nichts. Ich bin gerade im Begriff nach der Akte davor zu greifen, wohlmöglich Ashs, in der Hoffnung mehr Informationen zu erhalten, als ich die Stimmen höre.

Mindestens zwei Männer - ist das Lucius? Ich reiße den jüngsten Zeitungsartikel heraus, verstaue die Mappe und falte das Blatt zusammen, bevor es auch seinen Weg in meinen Schuh findet. Das einzige Stück an Information an die Berater oder Wachen zu verlieren, kann ich mir nicht erlauben. Die Schritte hallen im Flur, schnell, zielstrebig. Planlos blicke ich mich um. Wo soll ich mich denn auch verstecken? Die Wände sind mit den Regalen ausgekleidet, in der Mitte steht nur ein großer Tisch, auf dem die Akten ausgebreitet werden können - mich unter diesem zu verkriechen, halte ich für keine gute Idee. Sie müssten schon blind sein, um mich dort zu übersehen. Durch meinen Kopf schießt die Vorstellung, wie ich hier ausweglos mitten im Raum stehe, mich selbst auf dem Silbertablett serviere.
Sicherlich nicht.

Erneut jemanden zu verletzen, werde ich aber nicht riskieren. Kalian genügt, um mich die nächsten Stunden zu plagen, auch wenn ein kleiner, erbarmungsloser Teil in mir sagt, dass es keinen Grund dafür gibt. Der Teil in mir, der soeben die Magie entfacht, das Züngeln des Feuers in meinen Adern.

"Hier?"
Jemand rüttelt am Schloss, erkundet mein Werk.
"Definitiv." Ich würde Lucius' Stimme unter tausenden wiedererkennen. Im nächsten Moment wird die Tür mit einer Schuhspitze aufgestoßen, seine Augen treffen direkt auf meine.
"Wir müssen reden, Talia."

Wenn es doch nur reden wäre. Wenn es kein Ich foltere dich für all deine Vergehen der letzten Stunden bedeuten würde. Ich nicke, lasse die Energie los. Wenn ich schon Unheil angerichtet habe, warum dann nicht noch einmal?

Lucius' hektischen Befehle, Arme, die mich aus dem Raum ziehen, Wachen, die hin- und herrennen, versuchen Wasser aufzutreiben. Eines weiß ich mit Sicherheit - sie werden nicht rechtzeitig zurück sein, um herauszufinden, warum ich dort war. Dafür bereitet mir die Ungewissheit, dessen, was mir nun bevorsteht, Kopfschmerzen - oder ist es doch nur der Geruch der Flammen, die das Papier gierig verschlingen?

InhumanityWhere stories live. Discover now